Der Idiot. Fjodor Dostojewski

Читать онлайн.
Название Der Idiot
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188651



Скачать книгу

ihr Gesicht war so mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß heraus. In diesem Zustand fand ich sie immer vor. Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr, weil ihr dies eine Wonne war; die ganze Zeit über, während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit mir; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand; das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem öden Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tag fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein auf ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorf bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorf bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und versorgten sie. Es schien, daß man im Dorf mit Marie Mitleid zu fühlen begann; wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Sowie diese sie aber sah oder hörte, kehrte ihr die Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr. Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die Kinder machten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden Morgen zu: ›Nous t'aimons, Marie.‹ Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie würde weit länger leben. Am Tag vor ihrem Tod kam ich vor Sonnenuntergang zu ihr; sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Mal die Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam unerwartet jemand zu mir und sagte mir, daß Marie gestorben sei. Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einemmal herbei, um ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, so halfen einige von ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarg her, und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in Ordnung gehalten worden: sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben ringsherum Rosensträucher gepflanzt. Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer. Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen und verständigten uns von weitem durch Zeichen; auch schickten sie mir kleine Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese Verfolgung sogar noch nähergerückt. Im letzten Jahr versöhnte ich mich sogar beinah mit Thibaut und dem Pastor. Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer wirklichen ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt (es war schon kurz vor meiner Abreise) sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich unrecht; denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr, nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen (ich habe das schon längst an mir beobachtet); ich bin nicht gern mit ihnen zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen und wie gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen Kameraden gehen kann, und meine Kameraden waren immer die Kinder, aber nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern hinzog. Wenn ich, noch am Anfang meines Aufenthalts in dem Dorf, allein in die Berge gegangen war, um meinem Kummer nachzuhängen, und wenn ich dann, namentlich mittags, wo sie aus der Schule kamen, diesem lärmenden Schwarm begegnete, der mit seinen Bücherranzen und Schiefertafeln schreiend, lachend und spielend einherrannte, dann strebte auf einmal meine ganze Seele zu diesen Kindern hin. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich empfand bei jeder Begegnung mit ihnen ein außerordentlich starkes Gefühl von Glückseligkeit. Ich blieb stehen und lachte vor Freude, wenn ich sah, wie ihre kleinen, flinken Beinchen in beständiger Bewegung waren, wie die kleinen Jungen und Mädchen miteinander dahinrannten, wie sie lachten und weinten (denn viele hatten auf dem Weg von der Schule nach Haus schon Zeit gefunden, sich zu prügeln, zu heulen, sich wieder zu versöhnen und weiterzuspielen), und ich vergaß dann meinen ganzen Kummer. Später, während dieser ganzen drei Jahre, konnte ich gar nicht begreifen, weshalb die Menschen sich überhaupt grämen. Mein ganzes Dasein drehte sich um die Kinder. Ich nahm gar nicht in Aussicht, das Dorf jemals wieder zu verlassen, und es kam mir nicht in den Sinn, daß ich einmal wieder hierher nach Rußland fahren würde. Ich meinte, ich würde immer dort bleiben; aber ich sah schließlich ein, daß Schneider doch nicht länger die Kosten meines Unterhalts tragen konnte. Und dann kam eine so wichtige Angelegenheit hinzu, daß Schneider selbst mich zum Reisen drängte und mir das Fahrgeld zur Reise hierher gab. Ich will nun sehen, was eigentlich vorliegt, und jemanden um Rat fragen. Vielleicht wird sich mein äußeres Schicksal vollständig ändern; aber das ist nicht so wichtig und nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß sich bereits mein ganzes Leben geändert hat. Ich habe dort viel verlassen, sehr viel. Alles ist entschwunden. Ich saß im Waggon und dachte: ›Jetzt gehe ich nun zu den Menschen; ich verstehe vielleicht noch nichts davon, aber es hat ein neues Leben für mich begonnen.‹ Ich nahm mir vor, meine Aufgabe redlich und standhaft zu erfüllen. Ich werde mich im Verkehr mit den Menschen vielleicht unbehaglich und bedrückt fühlen. Ich habe mir vorgenommen, von vornherein gegen alle höflich und offen zu sein; mehr wird ja doch niemand von mir verlangen. Vielleicht werden mich die Leute auch hier für ein Kind halten; nun, meinetwegen! Es halten mich auch alle, ich weiß nicht warum, für einen Idioten, und ich war tatsächlich einmal so krank, daß ich damals mit einem Idioten Ähnlichkeit hatte; aber wie kann ich jetzt ein Idiot sein, da ich doch selbst begreife, daß man mich für einen Idioten hält? Wenn ich so in ein Zimmer trete, so denke ich: ›Da halten mich nun die Leute für einen Idioten, und ich bin doch verständig, aber sie merken das nicht einmal ...‹ Dieser Gedanke kommt mir oft. Als ich in Berlin aus meinem Dörfchen ein paar kleine Briefe erhielt, die die Kinder sich beeilt hatten sogleich an mich zu schreiben, da empfand ich erst so ganz, wie lieb ich sie hatte. Es ist ein sehr schmerzliches Gefühl, wenn man den ersten Brief bekommt! Wie betrübt sie waren, als sie mir bei meiner Abreise das Geleit gaben! Schon einen Monat vorher sagten sie häufig: ›Léon s'en va, Léon s'en va pour toujours!‹ Wir kamen wie früher jeden Abend bei dem Wasserfall zusammen und sprachen immer von unserer bevorstehenden Trennung. Mitunter ging es ebenso heiter zu wie vorher; aber wenn sie dann von mir Abschied nahmen, um schlafen zu gehen, umarmten sie mich fest und herzlich, was sie früher nicht getan hatten. Manche kamen heimlich, ohne daß die andern es merkten, einzeln zu mir gelaufen, nur um mich ganz allein, nicht vor aller Augen, zu umarmen und zu küssen. Als es so weit war, daß ich mich auf den Weg machen mußte, begleitete mich der ganze Schwarm nach der Eisenbahnstation, die von unserem Dorf ungefähr eine Werst entfernt war. Sie nahmen sich zusammen, um nicht zu weinen;