Der Idiot. Fjodor Dostojewski

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Название Der Idiot
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188651



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sich die Generalin an diesen; »sie redet absichtlich so, aus irgendeiner Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.«

      »Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung.

      »Wieso?« fragte Adelaida neugierig.

      »Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung.

      Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort.

      »Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst.

      »Sie wollen sich durchaus bei uns interessant machen«, rief Aglaja. »Und was machen Sie dabei für ein feierliches Gesicht!«

      »Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon!«

      »Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher; »ich ... ich war auf andere Weise glücklich.«

      »Wie denn? Wodurch denn?«

      »Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

      »Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er, »daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem Lächeln hinzu. »Dort ... dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, oh nein; dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt; größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinderken nen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. Oh Gott, wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich die Kinder, weil die Vögelchen das Schönste sind, was es auf der Welt gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorf namentlich wegen eines bestimmten Falles über mich aufgebracht ... Thibaut aber beneidete mich einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf und wunderte sich darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen und bei ihm fast nichts; aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und wie mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst in stetem Verkehr mit den Kinder lebte! Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die Seele gesund ... Es war da im Schneiderschen Institut ein Patient, ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Unglück war ein so furchtbares, daß es kaum seinesgleichen hatte. Er war zur Heilung von Geistesstörung eingeliefert worden; aber nach meiner Meinung war er nicht geistig gestört, sondern litt nur entsetzlich, und das war seine ganze Krankheit. Und wenn Sie nun wüßten, was ihm zuletzt unsere Kinder wurden ...! Aber von diesem Patienten will ich Ihnen lieber ein andermal erzählen; jetzt möchte ich erzählen, wie das alles anfing. Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin ..., dazu kam endlich noch, daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt ... Nein, lachen Sie nicht!« warf der Fürst hastig ein, um ein Lächeln seiner Zuhörerinnen zu hemmen, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es tat. Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf einem Fleck sitzen mußte. Marie war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte sich bei ihr die Schwindsucht zu entwickeln begonnen; aber trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser: sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und nahm sie mit sich fort, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd, kehrte sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien übernachtet und sich stark erkältet; ihre Füße waren wund, die Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was stellt das vor? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich behandelt; aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die sie der Schande preisgab: als man im Dorf hörte, daß Marie zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ergrimmte Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es gegen den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten sie, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit solcher Verachtung an wie eine ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe (zwei Monate darauf starb sie auch wirklich); sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tod nicht mit ihrer Tochter versöhnen; sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und versorgte ihre Mutter; aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu sagen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen; das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen; im Dorf aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Weib, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten