Der Idiot. Fjodor Dostojewski

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Название Der Idiot
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188651



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Jepantschinschen Töchter waren alle drei gesunde, blühende, wohlgewachsene junge Damen mit schöner, gutentwickelter Brust und kräftigen, beinah männerartigen Armen, und infolge ihrer Kraft und Gesundheit liebten sie es natürlich auch, manchmal tüchtig zu essen, was sie ganz und gar nicht zu verbergen suchten. Ihre Mama, die Generalin Lisaweta Prokofjewna, schnitt über den unverhohlenen Appetit der Töchter mitunter ein Gesicht; aber da viele ihrer Ansichten trotz alles äußeren Respekts, mit dem sie von den Kindern aufgenommen wurden, schon längst ihre ursprüngliche, unbestrittene Autorität bei diesen verloren hatten, und zwar in dem Maße, daß ein sich konstituierendes einmütiges Konklave der drei Töchter jedesmal den Sieg davontrug, so fand auch die Generalin im Interesse ihrer eigenen Würde es zweckmäßiger, nicht erst zu streiten, sondern gleich nachzugeben. Allerdings hatte sie nach ihrem ganzen Charakter oft keine Neigung, sich den Geboten der Vernunft unterzuordnen und zu fügen; denn Lisaweta Prokofjewna wurde von Jahr zu Jahr launischer und ungeduldiger, ja sogar ein wenig wunderlich; aber da doch immer noch der sehr gehorsame und wohldressierte Ehemann unter ihrer Herrschaft blieb, so ergoß sich, was an überschüssigem Mißmut sich bei ihr aufgesammelt hatte, gewöhnlich über sein Haupt, und damit war dann die Harmonie in der Familie wiederhergestellt, und alles ging den denkbar besten Gang.

      Übrigens erfreute sich auch die Generalin selbst eines guten Appetits und nahm gewöhnlich um halb eins mit ihren Töchtern zusammen an einem reichlichen déjeuner dînatoire teil. Eine Tasse Kaffee tranken die jungen Damen schon vorher, Punkt zehn Uhr, im Bett, gleich nach dem Aufwachen. Das war ihnen eine liebe Gewohnheit und ein für allemal so festgesetzt. Um halb eins aber wurde der Tisch in dem kleinen Eßzimmer, neben den Zimmern der Mutter, gedeckt, und zu diesem Frühstück im engsten Familienkreis erschien manchmal auch der General selbst, wenn seine Zeit es erlaubte. Außer Tee, Kaffee, Käse, Honig, Butter, Koteletts und einer besonderen Art von Pfannkuchen, die die Generalin selbst sehr gern aß, wurde auch starke, heiße Bouillon serviert. An dem Morgen, an dem unsere Erzählung begonnen hat, war die ganze Familie im Eßzimmer versammelt und wartete auf den General, der versprochen hatte, um halb eins zu erscheinen. Hätte er sich auch nur eine Minute verspätet, so wäre sofort nach ihm geschickt worden; aber er erschien pünktlich. Als er an seine Frau herantrat, um sie zu begrüßen und ihr die Hand zu küssen, bemerkte er diesmal in ihrem Gesicht etwas ganz Besonderes. Und obgleich er schon am vorhergehenden Abend ein Vorgefühl gehabt hatte, daß es heute wegen einer gewissen »Geschichte« (so pflegte er selbst sich auszudrücken) so kommen werde, und sich schon gestern beim Einschlafen darüber beunruhigt hatte, so bekam er es doch jetzt wieder mit der Angst zu tun. Die Töchter traten an ihn heran, um ihn zu küssen; und wiewohl diese ihm keine bösen Manieren machten, so glaubte er doch auch in ihren Gesichtern einen eigentümlichen Ausdruck wahrzunehmen. Allerdings war der General infolge gewisser früherer Vorfälle allzu argwöhnisch geworden; aber als erfahrener und lebenskluger Vater und Gatte ergriff er sofort seine Maßregeln.

      Vielleicht verderben wir das Relief unserer Erzählung nicht allzu sehr, wenn wir jetzt haltmachen und durch einige hilfreiche Bemerkungen eine wahrhafte und genaue Erklärung der wechselseitigen Beziehungen und der Verhältnisse geben, in denen wir die Familie des Generals Jepantschin beim Beginn unserer Geschichte vorfinden. Wir haben bereits oben gesagt, daß der General zwar kein sehr gebildeter, sondern, wie er selbst sich ausdrückte, nur ein »selbstunterrichteter« Mann, aber dabei doch ein erfahrener Gatte und ein lebenskluger Vater war. Unter anderm hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, seine Töchter nicht zum Heiraten zu drängen, also ihnen nicht beständig zuzusetzen und sie mit seiner väterlichen Sorge für ihr Lebensglück zu quälen, wie das unwillkürlich und natürlicherweise fortwährend selbst in den verständigsten Familien geschieht, in denen sich erwachsene Töchter ansammeln. Er hatte es sogar erreicht, daß Lisaweta Prokofjewna seinen Grundsatz adoptierte, obgleich es ihm schwer genug geworden war, schwer deswegen, weil dieses Verfahren eben ein unnatürliches ist; aber die Gründe des Generals waren doch überzeugend und stützten sich auf greifbare Tatsachen. Er sagte, Mädchen, die man in dieser Hinsicht völlig unbehelligt lasse, müßten naturgemäß einmal zu ernstem Nachdenken kommen, und dann gehe die Sache schnell vonstatten, weil sie sie mit Eifer betrieben und alle Launen und alle überflüssige Mäkelei beiseite ließen. Die Eltern hätten dann weiter nichts zu tun, als unablässig und möglichst unmerkbar darüber zu wachen, daß es nicht zu einer absonderlichen Wahl oder zu einer unnatürlichen Neigung komme, und dann nach Abpassung des richtigen Augenblicks mit einemmal aus aller Kraft zu helfen und die Sache mit Aufbietung aller Hilfsmittel in Ordnung zu bringen. Schließlich war auch zu erwägen, daß das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Generalsfamilie von Jahr zu Jahr in geometrischer Proportion stieg: je mehr Zeit also verging, um so günstiger gestalteten sich auch die Heiratsaussichten der Töchter. Aber mitten unter all diese unbestreitbaren Tatsachen trat noch eine andere Tatsache: die älteste Tochter Alexandra vollendete plötzlich und fast ganz unerwartet (wie das immer so zu geschehen pflegt) das fünfundzwanzigste Lebensjahr. Fast zu derselben Zeit sprach Afanasi Iwanowitsch Tozki, ein Mann aus den höchsten Gesellschaftskreisen, mit vortrefflichen Verbindungen und außerordentlich reich, wieder seinen langgehegten Wunsch aus, sich zu verheiraten. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und besaß einen ausgezeichneten Charakter und einen ungewöhnlich feinen Geschmack. Er wollte sich gut verheiraten; er war ein vorzüglicher Kenner weiblicher Schönheit. Da er seit einiger Zeit mit dem General Jepantschin eng befreundet war, wozu ihre beiderseitige Teilnahme an gewissen finanziellen Unternehmungen wesentlich mit beitrug, so richtete er an diesen, gewissermaßen mit der Bitte um freundschaftlichen Rat und Anleitung, die Frage, ob er einer seiner Töchter einen Heiratsantrag machen dürfe. Dies führte in dem bisher so still und schön verlaufenen Familienleben des Generals Jepantschin einen starken Umschwung herbei.

      Unbestritten die Schönste in der Familie war, wie schon gesagt, die Jüngste, Aglaja. Aber sogar Tozki selbst mußte sich trotz seines starken Selbstgefühls sagen, daß er hier nicht anklopfen dürfe und daß Aglaja nicht für ihn vom Schicksal bestimmt sei. Vielleicht ließ sich die blinde Liebe und allzu glühende Freundschaft der Schwestern zu einer Übertreibung hinreißen; aber darüber waren sie schon im voraus aus aufrichtiger Überzeugung derselben Ansicht, daß Aglajas Schicksal nicht von gewöhnlicher Art, sondern das denkbar schönste Ideal eines irdischen Paradieses sein müsse. Aglajas künftiger Mann müsse, vom Reichtum ganz abgesehen, alle möglichen Vorzüge in sich vereinigen und die größten Erfolge aufzuweisen haben. Die Schwestern hatten sich sogar, und zwar ohne zu viel unnütze Worte, dahin geeinigt, wenn es nötig sein sollte, ihrerseits zu Aglajas Gunsten ein Opfer zu bringen: Aglaja sollte eine gewaltige Mitgift erhalten, eine erheblich größere als sie beide. Die Eltern wußten von dieser Übereinkunft der beiden älteren Schwestern und hegten daher, als Tozki jene Bitte um Rat aussprach, fast keinen Zweifel, daß eine der beiden älteren Schwestern die elterlichen Wünsche erfüllen werde, um so mehr, da von Afanasi Iwanowitschs Seite Schwierigkeiten in betreff der Mitgift unmöglich zu erwarten waren. Tozkis Antrag hatte der General selbst mit der ihm eigenen Lebensklugkeit sofort als einen außerordentlich wertvollen erkannt. Da aber Tozki selbst vorläufig aus gewissen besonderen Gründen in seinem Vorgehen die allergrößte Vorsicht beobachtete und zunächst nur den Boden sondierte, so hatten auch die Eltern den Töchtern bisher nur ganz entfernte Andeutungen gemacht. Als Antwort hatten sie von ihnen die gleichfalls nicht in ganz bestimmte Ausdrücke gekleidete, aber doch wenigstens beruhigende Erklärung erhalten, daß die älteste, Alexandra, wohl nicht nein sagen werde. Sie war ein zwar charakterfestes, aber dabei doch gutherziges, verständiges und sehr verträgliches Mädchen; sie wäre sogar ganz gern Tozkis Frau geworden, und wenn sie einmal ihr Wort gegeben hätte, so hätte sie es ehrlich gehalten. Glanz und Pracht liebte sie nicht; ihr Mann hatte von ihr keine steten Sorgen, keine schroffe Sinnesänderung zu befürchten; sie konnte ihm sogar ein angenehmes, ruhiges Leben verschaffen. Ihre äußere Erscheinung war sehr hübsch, wenn auch nicht gerade Aufsehen erregend. Wo konnte es für Tozki eine bessere Frau geben?

      Und doch kam die Sache nur äußerst langsam vom Fleck. Tozki und der General waren beiderseits in aller Freundschaft zu dem Entschluß gelangt, vorläufig jeden formellen, unwiderruflichen Schritt zu unterlassen. Selbst die Eltern sprachen mit den Töchtern immer noch nicht ganz offen über die Angelegenheit; im Gegenteil hatte sich eine Art von Dissonanz herausgebildet: die Mutter der Familie, die Generalin Jepantschina, war aus einem gewissen Grund unzufrieden geworden, und das war doch von großer Wichtigkeit.