§4253. Nathalie D. Plume

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Название §4253
Автор произведения Nathalie D. Plume
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188163



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in das Philippe gerade seinen Fuß gesetzt hat. Während Dorian diesen Raum abgrundtief hasst und mit dem ständigen Surren und Piepen der Drucker, dem Diskutieren und Schreien von Verdächtigen und Kollegen, dem ständigen Zug durch ein offenes Fenster oder dem Flackern von rauf- und herunterfahrenden Bildschirmen überhaupt nicht klarkommt, ist es für Philippe das reinste Paradies. Der große offene Raum bietet ihm die Luft, die seine Lunge zum Atmen braucht, die belebte Umgebung erinnert ihn an die Zeit, in der er selbst noch ein unerfahrener Officer war, und selbst als er zum Detektive aufstieg, mochte er den Geruch der Druckerpatronen und er genoss auch damals schon die Tatsache, dass es hier immer etwas zu sehen gibt. Er bereut nicht die Stelle des Lieutenants angenommen zu haben, ganz im Gegenteil, er mag die Verantwortung, die ihm zuteil geworden ist, aber es gibt eben auch Dinge, die er vermisst und die ihm manchmal wie ein harter Preis vorkommen. Er verachtet dieses winzige Büro, um das alle immer so schrecklich respektvoll herumhuschen, und er wünscht sich manchmal die Zeit zurück, in der er einfach unauffällig in einen Raum wischen konnte, um sich einen Kaffee einzugießen, ohne dass er jemandem groß aufgefallen wäre. Heute hören die Leute auf zu reden, brechen ihre Gespräche ab, nehmen verstohlen Haltung an und prosten ihm nur wohlwollend mit ihren Tassen zu. Sie tun es eben genauso, wie Philippe es getan hat, als damals sein Lieutenant den Raum betreten hat, und sie tun es genauso, wie er es heute noch tut, wenn der Captain in das winzige Büro schleicht. Genauso ist es auch an diesem frühen Morgen, während zuvor noch wüstes Treiben den großen Raum erfüllt hat und die vielen Streifenpolizisten und Detektives wild durcheinander wuselten, scheint mit dem Betreten von Philippes Fuß über die Schwelle eine Ruhe über das Büro zu fallen. Die meisten richten ihre Aufmerksamkeit für einen Moment von ihrer Tätigkeit ab, um sie dem Mann zu schenken, der das Büro betreten hat.

      Für einen Moment stutzt Philippe und seine Füße bewegen sich nicht über die Schwelle hinweg, denn obwohl es so früh morgens ist, platzt der Raum an diesem Tag fast vor Kollegen. Erst als Dorian sich an seinem Lieutenant vorbeischiebt, um hinter einer der Stellwände an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, bricht Philippes Erstaunen und er erinnert sich, warum er hergekommen ist. Dorian ist froh wieder an seinem Schreibtisch zu sitzen, er hält es heute für unklug zu nah um Philippe herum zu sein und auf keinen Fall will er neben ihm stehen und versehentlich in die Schussbahn seiner Kollegen geraten. Das ist eine Bürde, die Philippe heute allein schultern muss und das weiß er auch.

      „Kann ich für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit haben?“, beginnt Philippe den Vortrag, den er sich in seinem Kopf endlich zurechtgelegt hat. Es dauert einen Moment, bis auch der Letzte begriffen hat, dass er nun den Mund halten und aufhören sollte Akten zu kopieren, und erst als alle Augen gespannt auf den Mann an der Tür gerichtet sind, beginnt der mit seinen Ausführungen. „Schön, da ich jetzt Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit genieße, werde ich Ihnen sagen, warum Sie heute in aller Herrgottsfrühe aus den Betten geklingelt wurden, um auf dem Department zu erscheinen. Es ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass die Funksprüche sich heute Morgen überschlagen und dass Sie mit Ihrer Arbeit kaum hinterherkommen. Vielleicht haben einige von Ihnen auch bereits Gerüchte über Social Media oder andere Netzwerke erhalten und reimen sich Ihren Teil zusammen. Ich muss Sie leider enttäuschen, wenn ich Ihnen sage, ich werde keines dieser Gerüchte bestätigen und ich kann Ihnen zu diesem frühen Zeitpunkt auch noch nichts über die bisherige Lage verraten. Es mag sein, dass unsere Politik lügt und Dinge verschweigt, ich werde das aber nicht tun. Ich kann Ihnen, wie gesagt, bedauerlicherweise nicht sagen, was es mit diesen Gerüchten auf sich hat, wo sie herkommen oder welche wahr sind. Was ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt aber sagen kann, ist, dass es um § 4253 geht, von dem Sie mit Gewissheit, in den letzten paar Monaten, schon etliche Male in den Nachrichten gehört haben, auch der erste Absatz dürfte den meisten mittlerweile ja gut bekannt sein. Dieser erste Absatz ist nun veröffentlicht worden, damit wird der § 4253 nun in Kraft treten. Welche Absätze er noch bringen wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, bleiben wir also bitte erstmal ruhig und warten ab, was da noch auf uns zukommt.“ Ein entsetztes Raunen durchdringt die Ruhe, die den Raum zuvor befallen hat, und löst Murren in den Reihen aus. Einige der Frauen und Männer rufen Fragen in den Raum: „Warum hat uns das keiner gesagt?“ „Was genau besagt der erste Absatz?“ „Ist es der einzige, der veröffentlicht wurde, und welche werden folgen?“ „Ist unsere Regierung gestürzt worden?“ oder „Warum weiß die Bevölkerung vor uns davon?“. Für einen Augenblick lauscht Philippe in das Tosen hinein, dann aber hebt er seine Hand und schlagartig verstummt das Stimmengewirr wieder. „Wie gesagt, ich kann Ihnen leider keine Ihrer Fragen beantworten, Sie müssen mir heute einfach vertrauen und ungefragt die Befehle befolgen, die ich Ihnen heute geben muss. Da draußen sind Menschen, denen es genauso geht wie Ihnen, sie haben auch Fragen und wissen nicht, was richtig ist oder an was sie noch glauben dürfen, manchen geht es vermutlich schlechter als Ihnen, weil sie ihren Job oder ihre gesamte Existenz verloren haben. Die Menschen da draußen haben Angst, sie sind verunsichert und fühlen sich von ihrer Politik hintergangen und wir wissen alle, dass Angst und Ungewissheit seltsame Sachen in Menschen auslösen können.“ Ein bestätigendes Nicken durchzuckt den Raum, einer der Männer, ein bulliger Mann mit einem breiten Stiernacken und mit so aggressiven Zügen, dass Philippe in Panik ausgebrochen wäre, wenn er nicht wüsste, wie sanft und freundlich dieser Officer in Wahrheit ist, fragt: „Aber Lieutenant, was sollen wir denn da draußen machen, die drehen alle komplett durch?“ Durch den Einwurf gelähmt, bleibt Philippe für einen kurzen Augenblick ruhig und hält seine Aufmerksamkeit eisern auf den schrankgroßen Mann gerichtet, leicht spöttisch zieht er dann seine Augenbraue in die Höhe, zuckt kaum merklich mit den Achseln und erwidert mit einer Mischung aus französischer Gleichgültigkeit und amerikanischem Ernst: „Na ja, ich würde vorschlagen Ihren Job, das sollte für heute einen guten Ansatz darstellen.“ Einige der Detektives lachen, halten aber erschrocken inne, als sie dem misstrauischen Blick ihres Lieutenants ausgeliefert sind. Der Mann mit Stiernacken nickt peinlich berührt und tritt zurück in die Reihe seiner Kollegen. „Ich möchte, dass Sie heute alle den Streifenpolizisten helfen und sich bitte nicht zu fein fühlen auch als Detektive mit anzupacken, da draußen finden Plünderungen und Schlägereien statt, die geklärt werden müssen. Ich möchte, dass Sie nur in Zweier-Teams vorgehen und niemand einen Alleingang macht. Berichte dürfen Sie mir unaufgefordert auch morgen einreichen. Konzentrieren Sie sich heute mehr auf den Außeneinsatz und kommen Sie bitte heute Abend alle heil wieder zurück und bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, wir tragen unsere Waffen zu unserem eigenen Schutz und nicht, um ein Leben frühzeitig zu beenden.“ Und mit einem Blick auf Dorian fügt er noch hinzu: „Auch ich gehe heute in den Außeneinsatz, Mr. Carter Sie kommen mit mir, bei Fragen wenden Sie sich an den Captain, an mich oder an die Leitstelle.“

      Mit schnellen Schritten fliegt Philippe durch das enge Treppenhaus zurück in die Tiefgarage, die er heute Morgen so eilig verlassen hat. Mittlerweile ist es 07:40 a.m., normalerweise ist das die Uhrzeit, zu der er mit seinem Auto durch den dichten Verkehr zur Arbeit fließt, aber heute ist ein anderer Tag und er fängt gerade an so richtig scheiße zu werden, beschließt Philippe, während er die Tür zur Tiefgarage durchquert. Schon einmal ein paar stickige Atemzüge aufsaugend, wartet er auf Dorian, der das Treppenhaus, unverständlicherweise, wie ein normaler Mensch durchquert und so immer ein wenig später als Philippe durch die graue Tür rauscht. Gemeinsam gehen die beiden an Philippes altem Jeep vorbei zu einem der schwarz lackierten Wagen am Ende der Halle. Dorian, der den Autoschlüssel neben einem Becher Coffee to go in den Händen hält, drückt auf den kleinen Knopf, der dem Auto die Öffnung befiehlt. Zum Erstaunen der beiden Männer blinkt nicht der Wagen auf, der vor den beiden steht, sondern ein mit Polizeifolie foliierter, handelsüblicher Streifenwagen. Während sich beide Männer verwirrt anschauen, kommen ihnen zwei Frauen entgegen, die verschmitzt lachend einen Autoschlüssel schwenken. „Sucht ihr den hier?“, spricht sie die kleinere der beiden Frauen mit einem breiten und triumphierenden Lächeln auf den Lippen an. Genervt reißt Philippe Dorian den Autoschlüssel aus der Hand und betrachtet das Schild mit der Aufschrift „Streifenwagen“, das als Anhänger an ihm herunterbaumelt. „Ja, ganz richtig“, spricht die braunhaarige Frau gehässig weiter, „wir haben den letzten Zivilwagen erwischt.“ Nun wieder die kleinere Frau: „Tut uns wirklich leid Lieutenant, aber wer zuerst kommt und so.“ Dann steigen die beiden laut lachend in den schönen schwarzen Wagen und brausen über die Rampe aus der Tiefgarage an den beiden verdattert dreinblickenden Männern vorbei. Philippes