Fjodor Dostojewski: Hauptwerke. Fjodor Dostojewski

Читать онлайн.
Название Fjodor Dostojewski: Hauptwerke
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754189153



Скачать книгу

bekannt, daß heute eine Zusammenkunft Aglaja Iwanownas mit Nastasja Filippowna stattfinden wird, zu welchem Zweck Nastasja Filippowna expreß durch Rogoschin, auf Aglaja Iwanownas Einladung hin und infolge meiner Bemühungen, brieflich aus Petersburg herberufen ist, und daß sie sich jetzt, ebenso wie Rogoschin selbst, gar nicht weit von Ihnen in ihrer früheren Wohnung befindet, bei jener Dame, Darja Alexejewna heißt sie, einer sehr zweideutigen Dame, ihrer Freundin, und daß ebendorthin, in dieses zweideutige Haus, sich heute auch Aglaja Iwanowna zu einem freundschaftlichen Gespräch mit Nastasja Filippowna und zur Lösung verschiedener schwieriger Aufgaben begeben wird? Die beiden wollen sich wohl mit Mathematik beschäftigen. Das haben Sie nicht gewußt? Ehrenwort?«

      »Das ist unglaublich!«

      »Na, das ist ja schön, wenn es unglaublich ist. Übrigens, woher hätten Sie es auch wissen sollen? Allerdings, wenn hier auch nur eine Fliege vorbeifliegt, so wird das gleich allgemein bekannt; so ein Nest ist Pawlowsk! Aber ich wollte Ihnen doch vorher davon Mitteilung machen, und Sie können mir dankbar sein. Nun, auf Wiedersehen ... wahrscheinlich in jener Welt. Und noch eins: ich habe mich zwar Ihnen gegenüber gemein benommen; aber sagen Sie freundlichst selbst: warum hätte ich meine Chancen verlieren sollen? Etwa zu Ihrem Vorteil? Ich habe ihr ja meine Beichte gewidmet (wußten Sie das nicht?). Und wie hat sie diese Widmung aufgenommen! Hehe! Aber ihr gegenüber habe ich mich nicht gemein benommen; ihr gegenüber habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen; und doch hat sie mich beschimpft und verhöhnt ... Übrigens habe ich mich auch Ihnen gegenüber nicht schuldig gemacht; wenn ich auch zu ihr das von dem abgenagten Knochen und noch manches in diesem Genre gesagt habe, so teile ich Ihnen doch zum Entgelt jetzt Tag, Stunde und Ort der Zusammenkunft mit und decke dieses ganze Spiel auf ... selbstverständlich aus Ärger und nicht aus Edelmut. Verzeihen Sie, ich bin redselig wie ein Stotterer oder wie ein Schwindsüchtiger. Seien Sie also auf Ihrer Hut und ergreifen Sie baldigst die erforderlichen Maßregeln, wenn anders Sie den Namen Mensch verdienen! Die Zusammenkunft findet heute abend statt; das ist sicher.« Ippolit ging zur Tür; aber der Fürst rief ihm nach, und er blieb in der Tür stehen.

      »Also Aglaja Iwanowna wird Ihrer Ansicht nach heute selbst zu Nastasja Filippowna gehen?« fragte der Fürst.

      Auf seinen Wangen und auf seiner Stirn traten rote Flecke hervor.

      »Genau weiß ich es nicht; aber wahrscheinlich wird es so sein«, antwortete Ippolit, sich halb umwendend. »Es kann ja übrigens auch nicht anders sein. Nastasja Filippowna kann doch nicht zu ihr kommen? Und bei Ganja ist es auch unmöglich; der hat ja fast einen Toten bei sich in der Wohnung. Wie geht es denn dem General?«

      »Schon aus einem Grund ist es unmöglich!« rief der Fürst. »Wie kann sie denn dort hingehen, selbst wenn sie es wollte? Sie kennt die Sitten in dieser Familie nicht; sie kann nicht allein zu Nastasja Filippowna hingehen. Das ist Unsinn!«

      »Sehen Sie mal, Fürst: für gewöhnlich springt niemand aus dem Fenster; aber wenn eine Feuersbrunst ausbricht, dann springen am Ende auch der vornehmste Gentleman und die vornehmste Dame aus dem Fenster. Wenn es nötig ist, dann ist eben nichts zu machen, und unser Fräulein geht zu Nastasja Filippowna. Oder verwehrt man es etwa Ihrem Fräulein überhaupt auszugehen?«

      »Nein, das nicht ...«

      »Nun, wenn das nicht der Fall ist, dann braucht sie nur die Stufen vor der Haustür hinabzusteigen und geradewegs hinzugehen, nötigenfalls unter Verzicht auf die Rückkehr nach Hause. Es gibt manchmal Fälle, in denen man die Schiffe hinter sich verbrennt und sich die Rückkehr nach Hause benimmt; das Leben besteht doch nicht allein aus Dejeuners und Diners und Männern wie Fürst Schtsch. Mir scheint, Sie halten Aglaja Iwanowna für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; ich habe darüber schon mit ihr gesprochen, und sie schien meiner Ansicht zu sein. Passen Sie um sieben oder acht Uhr auf ... Ich würde an Ihrer Stelle jemand dorthin schicken, um Wache zu halten, damit Sie genau den Augenblick abpassen, wo sie aus der Haustür tritt. Schicken Sie doch Kolja hin; Sie können sicher sein, daß er mit Vergnügen Spionsdienste leisten wird, das heißt für Sie ... denn diese moralischen Dinge haben alle nur einen relativen Wert ... Haha!«

      Ippolit ging hinaus. Der Fürst sah keinen Anlaß dazu, jemand um Spionsdienste zu ersuchen, selbst wenn er dazu fähig gewesen wäre. Aglajas Befehl, er solle zu Hause bleiben, war jetzt beinah aufgeklärt: vielleicht wollte sie ihn abholen. Denkbar war allerdings auch, daß sie nicht wünschte, daß er durch irgendeinen Zufall dorthin geriete, und ihm deshalb befohlen hatte, zu Hause zu bleiben ...

      Auch das war möglich. Der Kopf schwindelte ihm; das ganze Zimmer drehte sich um ihn. Er legte sich auf das Sofa und schloß die Augen.

      So oder so, jedenfalls kam die Sache jetzt zur Entscheidung, zum Abschluß. Nein, der Fürst hielt Aglaja nicht für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; er fühlte jetzt, daß er schon längst gerade etwas Derartiges gefürchtet hatte; aber zu welchem Zweck wollte sie mit Nastasja Filippowna zusammenkommen? Ein kalter Schauder lief ihm über den ganzen Leib; er fieberte wieder.

      Nein, er hielt sie nicht für ein Kind! Manche ihrer Blicke, manche ihrer Worte hatten ihn in der letzten Zeit erschreckt. Manchmal war es ihm vorgekommen, als ob sie sich zu sehr Zwang antat, sich zu sehr zurückhielt, und er erinnerte sich, daß ihn das geängstigt hatte. Allerdings hatte er sich alle diese Tage her bemüht, nicht daran zu denken, hatte die bedrückenden Gedanken verscheucht; aber was lag in dieser Seele verborgen? Diese Frage hatte ihn schon lange gequält, obgleich er an diese Seele glaubte. Und nun sollte dies alles heute zur Entscheidung gelangen und aufgedeckt werden! Ein entsetzlicher Gedanke! Und dann auf der andern Seite »dieses Weib«! Warum hatte er nur immer die Vorstellung gehabt, daß dieses Weib gerade im letzten Augenblick erscheinen und sein ganzes Schicksal wie einen mürben Faden zerreißen werde? Daß er immer diese Vorstellung gehabt habe, das hätte er jetzt beschwören mögen, obgleich seine Gedanken fast so wirr waren wie im Fieber. Wenn er sich in der letzten Zeit bemüht hatte, »sie« zu vergessen, so hatte er das einzig und allein getan, weil er sie fürchtete. Wie stand es: liebte er dieses Weib, oder haßte er es? Diese Frage legte er sich heute kein einziges Mal vor; in dieser Hinsicht war sein Herz rein: er wußte, wen er liebte ... Er fürchtete nicht sowohl die Zusammenkunft der beiden, nicht die Seltsamkeit und den ihm unbekannten Grund dieser Zusammenkunft, nicht die Entscheidung, wie auch immer sie fallen mochte: er fürchtete Nastasja Filippowna selbst. Er erinnerte sich sogar später, nach einigen Tagen, daß ihm in diesen fieberhaften Stunden fast die ganze Zeit über ihre Augen und ihr Blick vor der Seele gestanden hatten, daß er ihre Worte, seltsame Worte, zu hören geglaubt hatte, obgleich nach diesen fieberhaften, kummervollen Stunden ihm nachher nur sehr wenig Erinnerung zurückgeblieben war. Er erinnerte sich zum Beispiel kaum daran, daß Wjera ihm das Mittagessen gebracht und er gegessen hatte; aber er erinnerte sich nicht, ob er nach dem Essen geschlafen hatte oder nicht. Er wußte nur, daß er an diesem Abend alles erst von dem Augenblick an völlig klar zu unterscheiden angefangen hatte, als Aglaja auf einmal zu ihm auf die Veranda gekommen und er vom Sofa aufgesprungen und in die Mitte des Raums getreten war, um sie zu begrüßen: es war ein Viertel auf acht. Aglaja war ganz allein; sie trug einfache Kleidung, die sie anscheinend in der Hast angelegt hatte, darüber einen leichten Burnus. Ihr Gesicht war blaß wie vorhin; aber ihre Augen funkelten in einem hellen, trockenen Glanz; einen solchen Ausdruck der Augen hatte er bisher nie an ihr kennengelernt. Sie blickte ihn aufmerksam an.

      »Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig; »angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?«

      »Ja, er hat es mir gesagt ...«, murmelte der Fürst, beinah halbtot vor Aufregung.

      »Nun, dann kommen Sie; Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten müssen. Ich meine, Sie sind doch wohl soweit bei Kräften, daß Sie ausgehen können?«

      »Ja, das bin ich; aber ... ist es denn möglich?«

      Er stockte sofort wieder und vermochte kein Wort mehr herauszubringen. Dies war sein einziger Versuch, die Wahnsinnige zurückzuhalten; dann folgte er ihr wie ein Sklave. Wie unklar auch seine Gedanken waren, so begriff er doch, daß sie auch ohne ihn dorthin gehen würde und er ihr daher unter allen Umständen folgen müsse. Er ahnte, wie stark ihre Entschlossenheit war;