Beutezug. Sarah L. R. Schneiter

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Название Beutezug
Автор произведения Sarah L. R. Schneiter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748565888



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Schließlich siegte jedoch ihre Absicht, sich mit Marcus gutzustellen über den Impuls, die abwesende Kameradin zu verteidigen. „Auf ein langes Leben“, stimmte sie ein.

      „Unterschätz nie die Cyborgs“, ermahnte Se-Jin. „Ich denke, dass sie die Zukunft sind, man erzählt sich ja immer wieder spannende Geschichten.“

      „Was für Geschichten?“, wollte Jafari sogleich wissen, sehr zum Unmut von Marcus, der offenbar nicht viel von Menschen mit bioelektronischen Computerimplantaten hielt.

      Der Hacker senkte seine Stimme, um die nötige Dramatik aufzubauen: „Habt ihr schon von der ‚Büchse der Pandora‘ gehört?“

      Kopfschütteln und Verneinungen, zur offensichtlichen Freude des jungen Mannes, gar Marcus’ Interesse schien nun geweckt zu sein. Verschwörerisch fuhr er fort: „Man erzählt sich, sie sei eine künstliche Intelligenz, darauf ausgelegt, das ganze ComNet zu kontrollieren, eine Cyber-Superwaffe, sozusagen. Eines Tages wurde sie von einem in sie verliebten Cyborg gestohlen und befreit.“ Dramatische Pause, gepaart mit der zuversichtlichen Mine des Erzählers. „Jetzt ist sie verschmolzen mit dem menschlichen Verstand des Cyborgs, nicht mehr an einen Ort oder ein Gerät gebunden, lebt im ganzen ComNet, absorbiert jedes Fitzelchen Information, liest, hört, sieht jede unserer Nachrichten, kann auf jedes Gerät zugreifen, die Bilder jeder Kamera sehen, jedes Hexbyte von jedem Chip lesen. Niemand weiß, was sie im Schilde führt, zu was sie fähig ist …“

      „Spar dir die Schauermärchen für in ein paar Tagen, wenn Halloween ist“, warf Ramon belustigt ein. Er hob sein volles Glas und kippte es in einem Zug hinunter. „Wir leben noch immer in der Realität, Junge!“

      „Eigentlich sind sie ganz okay“, meine Nani mit einem Nicken in Richtung der hinter ihnen liegenden Küche, aus der Gelächter drang. Der zweifellos angeheiterte Se-Jin konterte: „Du meinst so wie …“, er verstellte seine Stimme, „… Kate-Lynn, mit Bindestrich? Oder wie Mister ich-bin-so-stark-und-fit-Jafari?“

      Nani schnaubte amüsiert, während sie sich eine Zigarette anzündete, die werweißwievielte heute. Insgeheim nahm sie sich, wie jede Woche in den vergangenen zehn Jahren vor, weniger zu rauchen, wohl wissend, dass sie es niemals täte. Immerhin zählte die Absicht, versuchte sie sich erfolglos weiszumachen. „Ach, so schlimm sind die beiden auch wieder nicht; junge Liebe, du weißt schon.“

      „Und du weißt ja, was mit kitschigen, jungen Liebespaaren an Halloween geschieht?“, wandte er ein, senkte seine Tonlage und fuhr gespielt dramatisch fort: „Sie werden vom machetenschwingenden Psychopathen als erste filetiert! Sehr bald haben wir sie also vom Hals.“

      „Sei gefälligst weniger gemein“, tadelte Nani ihn, es gelang ihr jedoch nicht, dabei ernst zu wirken, der Wein war ihr längst zu Kopf gestiegen. Als sie an einer der unzähligen Abzweigungen anlangten, erkundigte sie sich: „Ich muss weiter nach achtern, wo liegt deine Kabine?“

      „Im selben Block wie deine, sie haben uns alle nahe beieinander untergebracht“, antwortete Se-Jin und fuhr sich dabei mit der Hand durch eine blau gefärbte Haarsträhne.

      „Woher …?“, setzte Nani an, bis ihr ein Licht aufging. „Du hast dich in den Hauptrechner des Schiffs gehackt? Das ist nicht besonders freundlich zu unseren Gastgebern.“

      „Kinderkram.“ Se-Jin wedelte schalkhaft zur Bestätigung mit seinem Com in der Luft herum. „Man muss sich ja irgendwie beschäftigen.“ Er wechselte sogleich das Thema, wirkte dabei wesentlich begeisterter: „Komm schon, Badass, du hast auf Deru bestimmt irgendeinen zwielichtigen oder spannenden Job am Haken! Was ist es und wie kann ich einsteigen?“

      „Nun mal halblang“, versuchte Nani seine Euphorie zu bremsen. „Wir haben unser Team schon zusammengestellt. Sollten wir aber kurzfristig noch einen Computerspezialisten brauchen, komme ich gerne auf dein Angebot zurück.“

      Er war kaum mehr aufzuhalten, Nani überlegte, ob sie sich von seinem Enthusiasmus anstecken lassen oder indigniert seufzen sollte. „Was ist es? Edelsteine, eine Bank, Daten, Güter …?“

      „So gut kenne ich dich auch wieder nicht, als dass ich das Risiko einginge, dir das jetzt zu erzählen. Immer mit der Ruhe, ja?“

      „Hm“, machte er gespielt gleichgültig, wenn auch mit einer Spur der Enttäuschung in seiner Stimme und sie schlenderten schweigend über den Steg, der eine Ladebucht querte. Es war Nani, die zuerst die Stille brach, als sie beim nächsten Block anlangte. „Erzähl mir mehr von dieser ‚Büchse der Pandora‘.“

      „Kacke, ich muss echt damit aufhören“, grummelte Nani vor sich hin, sah im Halbdunkel auf den friedlich schlafenden Se-Jin, dessen nackter Körper ab und an vom durchs Fenster fallenden Flackern des Elmsfeuers beleuchtet wurde. „Wenn ich so weitermache, lande ich irgendwann noch mit einem Todfeind in der Kiste.“

      Aber was sollte sie sonst schon tun, um ihre Zeit zwischen den Jobs sowie die langen Reisen durch den Hyperraum interessanter zu gestalten? Natürlich, sie trieb Sport, las, versuchte sich weiterzubilden, aber irgendwann hatte sie dabei auch ihr Tagespensum erfüllt. Sex brachte viele Vorteile mit sich, sie musste nicht stillsitzen, was sie hasste und konnte Endorphinausschüttung mit sozialer Interaktion verbinden, was durchaus für sich sprach. Der Com-Anruf an ihre Mutter fiel ihr wieder ein. Sie stellte sich vor, was ihre Eltern wohl dachten, wenn sie wüssten, wie oft Nani unbekleidet und verschwitzt … Nein, das wollte sie sich nun wirklich auf gar keinen Fall ausmalen!

      Behände erhob sie sich, schlich auf leisen Sohlen, ohne sich anzuziehen oder Licht zu machen in die kleine Nasszelle, die der Captain großspurig als „Badezimmer“ bezeichnet hatte. Von Hand schob sie die dünne Milchglastür zu, deren Automatik nur noch sporadisch funktionierte und trat unter die Dusche. „Minimales Licht, Wasser lauwarm“, befahl sie, froh darum, dass sich wenigstens die rudimentäre künstliche Intelligenz des alten Frachters noch halbwegs kooperativ zeigte. Ein warmweißes Leuchtpaneel begann zu glimmen, bevor das erfrischende Nass auf ihren verschwitzten Körper sprudelte. Nani hielt den Atem an, legte den Kopf in den Nacken und genoss das Prickeln der Tropfen auf ihren Wangen. „Duschgel.“ Etwas Seifiges, das penetrant nach Lavendel duftete, vermischte sich mit dem Wasser, bis es schließlich wieder abgewaschen wurde. Mit geschlossenen Lidern lehnte sie sich gegen die kühlen Fliesen, die ihre Schulterblätter und Pobacken berührten. Offenbar waren nicht alle Teile des Schiffes gleich gut beheizt, wahrscheinlich lag hinter der gefliesten Wand ein kalter Raum. Irgendetwas war ihr eingefallen, Nani vergaß ihre Überlegungen zum Aufbau der Vela, versuchte sich zu entsinnen. Der Duft der billigen Duschgel-Marke hatte eine Erinnerung geweckt, die Nani längst vergessen geglaubt hatte.

      In ihrer Jugendzeit, das genaue Alter hätte sie bestenfalls noch erraten können, war Nani mit einigen Kratzern und blauen Flecken von einer Schulhofprügelei heimgekehrt, nur um bereits in der Eingangshalle von ihrem Vater gemaßregelt zu werden. Sie hatte schon damals nicht wirklich in das gutbürgerliche Leben gepasst, war eine Außenseiterin mit Hang zu Streitereien gewesen, die das Abenteuer gesucht und ständig Schrammen heimgetragen hatte. Doch was hatte es bloß mit dem verfluchten Lavendel auf sich, wieso musste sie sich ausgerechnet jetzt daran erinnern? Es war eines dieser Dinge, an die man kaum je zurückdachte, aber bei denen man noch immer Scham empfand, wenn man daran zurückdachte – sie hatte ihre Eltern enttäuscht. Weder dramatisch noch spektakulär, sondern einfach so, alltäglich, unscheinbar. „Trockenzyklus, Standardeinstellung.“ Sogleich blies die Dusche ihr warme Luft entgegen und sie schüttelte die letzten Tropfen aus ihrer Kurzhaarfrisur, welche sie bald wieder in dem heiß geliebten Rostrot würde nachfärben müssen. Niemand außer ihren Eltern wusste, dass sie eigentlich blond war, wenn es auch bei ihren grüngrauen Augen, für die sie ständig Komplimente einheimste, deren Grund sie nicht so ganz verstehen konnte, eigentlich nahe lag. Halb abwesend beobachtete sie einen chancenlosen Wassertropfen, der vor dem künstlichen Wind flüchtend ihren Unterarm hochgetrieben wurde, dabei an Größe verlor, bis er letzten Endes ganz verdunstet war.

      „Ha!“, rief sie urplötzlich freudig aus, im nächsten Moment hoffend, nicht den schlafenden Se-Jin geweckt zu haben. Sie wusste wieder, was es mit dem Lavendel auf sich hatte – frustriert, wie sie damals nach dem Streit mit ihrem Vater gewesen war, hatte sie