Название | Als Erich H. die Schule schwänzte |
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Автор произведения | Hans-Georg Schumann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742773463 |
Mit einem Mal spürte er, dass er ganz gelassen war: Es hatte sich etwas geändert. Es würde etwas anders sein – ganz gleich, wie er sich am Montag entscheiden würde.
Was würde passieren, wenn er von nun an nie mehr in die Schule ginge? Er würde eine Menge Ärger kriegen. Und letztendlich keine Pension mehr. War es das wert?
Was war es wert? Was war dieses »das«? Was war denn geschehen? Er war an der Schule vorbeigefahren und nicht zum Unterricht erschienen. Einmal, das erste Mal in seinem Lehrerleben. Sonst nichts.
Am Montag, wenn er seinen Unterricht fortführen würde wie bisher, wäre alles wieder im Lot. Mal abgesehen davon, was Hülya in der Schule verbreiten würde, könnte alles dann wieder so weitergehen wie bisher. Oder nicht?
Donnerstag
05
An diesem Morgen besuchte Hülya mal wieder die Schule. Auch, weil sie sehen wollte, ob Hoofeller da war oder weiterhin schwänzte. Weil sie am Tag davor selbst nicht anwesend war, konnte sie dies nicht wissen: Hoofeller hatte sich bis zum Ende der Woche krankgemeldet und stand deshalb auf dem Vertretungsplan.
So fiel heute die erste Stunde aus. Verärgert saß Hülya nun im leeren Klassenraum und brummte vor sich hin: »Da kommt man mal pünktlich zur Schule und keiner ist da.«
Nach und nach tauchten ihre Mitschüler auf. Einige überrascht, dass sie schon so früh da war. Andere registrierten sie nicht weiter. Sie waren es gewohnt, dass Hülya immer mal wieder ein bis zwei Tage wegblieb. Oder auch nach ein paar Stunden Unterricht verschwand. Trotzdem schaffte dieses Mädchen es immer wieder, fast überall mindestens ausreichende Zensuren zu erzielen. Jedenfalls war sie bisher nicht einmal sitzen geblieben.
Viele empfanden es als ärgerlich, dass Hülya nach Belieben kam und ging, und dies offenbar keine Folgen hatte. Niemand in der Klasse glaubte ernsthaft an die Echtheit von Hülyas Entschuldigungen. Die meisten waren überzeugt, dass die Unterschriften von Hülya selbst stammten. Auch wenn die Klassenlehrerin, Frau Schreyhals, immer wieder betonte, der Vater habe die Entschuldigungen bestätigt.
Nur wenige in der Klasse hatten etwas gegen Hülya. Sie galt als sympathisch, hilfsbereit (wenn sie mal da war), und hielt sich aus den meisten Streitigkeiten heraus.
Einmal wäre Hülya beinahe Klassensprecherin geworden. Sie ließ ihre Nominierung als Kandidatin zu, um ihre Beliebtheit in der Klasse zu testen. Wirklich Klassensprecherin zu werden hatte sie nie vor. Sie war überrascht von der Stimmenzahl, die sie bekam. Sie hatte tatsächlich die Wahl gewonnen, lehnte dann aber ab und verärgerte damit ihre Mitschüler. Zumal nun Musterschüler Urban zum Klassensprecher wurde.
Der hatte hinter Hülya die meisten Stimmen erhalten. Und als nach Hülyas spontanem Verzicht erneut gewählt wurde, reichte es für einen knappen Sieg Urbans. Inzwischen waren die meisten Schüler längst der Meinung, dass dies eine schlechte Wahl war. Denn fast alle Lehrer hatten zwar etwas für Urban übrig, das kam aber niemals der Klasse zugute.
Für Urban war es wichtig voranzukommen. Und weil für ihn der Zweck die Mittel heiligte (diesen Spruch hatte er oft drauf), durfte das auch mal auf Kosten von Mitschülern gehen. Er galt zwar als übermäßig intelligent und das Lernen fiel ihm leicht. Aber er verachtete die meisten anderen Schüler und ließ sie das auch spüren.
Mit einer Ausnahme: Viktor war zwar der schlechteste Schüler der Klasse, und hielt vom Lernen überhaupt nichts. Vielleicht konnte er auch gar nicht lernen. So war dieses Schuljahr nicht das erste, das er wiederholte. Doch Viktor war ausgesprochen kräftig. »Im Kopf herrscht starkes Minus, aber im Körper viel Plus«, hatte Urban einmal über ihn gesagt, »Und deshalb ist er genau der richtige für mich.«
Ursprünglich war Viktor ein Einzelgänger und hielt sich für einen Einzelkämpfer. Ohne zu wissen, wofür oder wogegen er eigentlich kämpfte. Als Urban neu in die Klasse kam, hatte Viktor sofort ein Auge auf ihn geworfen. Er begann ihn heimlich anzuhimmeln.
Zuerst bemerkte Urban das nicht, dann jedoch wurde es ihm unangenehm. Und er versuchte, diesem Kerl aus dem Weg zu gehen. Doch eines Tages schwenkte er um. Überrascht stellte Viktor plötzlich fest, dass Urban ihn freundlich behandelte. Sogar neben ihm sitzen wollte. Und ihm immer wieder Antworten vorsagte, wenn Viktor mal von einem Lehrer drangenommen wurde.
Eine direkte Hilfe in Mathematik oder Englisch kam ohnehin nicht infrage, weil beide in zwei verschiedenen Leistungskursen waren. In den meisten Fächern wurde integriert unterrichtet, nur in Mathe und den Sprachen gab es eine Unterteilung in A, B und C. Während Urban nur an A-Kursen teilnahm, war Viktor überall in C. Hülya befand sich dazwischen. Sie besuchte meist B-Kurse, nur in Deutsch und Englisch hielt sie sich noch in A.
Die Möglichkeiten zum Abschreiben, die Urban Viktor bot, konnte der nicht immer nutzen. Manchmal ergab sich nicht die Gelegenheit, davon unbemerkt Gebrauch zu machen, weil Viktor darin ziemlich ungeschickt war. Wenn er abschrieb, setzte er die geschenkten Informationen oft an den falschen Stellen ein.
Urbans Hilfe war letztlich oft nutzlos. Dass sich einige Zensuren für Viktor dennoch verbesserten, lag daran, dass es Urban gelang, ihm einige Referate aufzuschwatzen. Urban verfasste sie und Viktor trug sie unter seinem Namen vor.
So entwickelte Viktor ein übermäßiges Gefühl von Dankbarkeit. Und das hatte Folgen. Von nun an nämlich war er Urban geradezu hörig. Und der hatte damit einen eigenen Leibwächter und »Vollstrecker« – wie Urban das nannte.
Im Laufe der Zeit war aus beiden ein völlig ungleiches aber dessen ungeachtet harmonisches Paar geworden. »Wie ein Liebespaar«, lästerte Hülya gern.
Im Gegensatz dazu war die Beziehung zwischen Urban und Hülya vor allem durch Hass gekennzeichnet. Die ständigen Versuche Urbans, Hülya zu schikanieren und dazu oft Viktor zu missbrauchen, waren auch ein Grund für sie, immer wieder die Schule zu schwänzen.
Tröstlich war nur, dass dieses Paar eine Art Ehrenkodex hatte, zu dem auch gehörte, dass man Mädchen nicht schlug. Die Prügel waren also geistig-seelischer Art. Und auf dem Gebiet war Hülya Urban durchaus gewachsen. Manchmal machte es ihr sogar Spaß, sich mit diesem eingebildeten Kerl zu messen. Auch wenn sie nicht selten den Kürzeren zog. Aber eben nicht immer. Und wenn Urban einmal eine Wortschlacht verloren hatte, genoss sie es doppelt.
Viktor dagegen schien von alledem nicht viel mitzubekommen. Er stand da und lächelte. Egal, wie ein Streit zwischen Urban und Hülya ausging, Viktor lächelte in dem Glauben, dass sein Herr und Meister den »Kampf« sowieso für sich entschieden hatte. Erst das wütende Gesicht von Urban ließ sein Lächeln ersterben und machte einer verdutzten Miene Platz.
Viktor tat Hülya leid. Sie hatte nichts gegen ihn, solange er ihr nichts tat. Wenn sie es auch schlimm fand, wie er andere Jungs behandelte, meist auf Urbans Geheiß. So war Viktor schon in einige Schlägereien verwickelt, aus denen er aber immer als klarer Sieger hervorging.
Das schien das einzige zu sein, bei dem Viktor Anerkennung bekam. Zumindest war er gefürchtet. Und Viktor fasste diese Furcht als Respekt auf, den alle scheinbar vor ihm hatten. Jedenfalls hatte Urban ihm das so erklärt.
»Später, wenn ich erfolgreich und reich bin«, meinte Urban einmal zu Viktor, »wirst du mein starker Assistent.« Was immer das war – Viktor wagte nicht nachzufragen – es klang gut.
Keiner außer Viktor mochte Urban also wirklich. Der spürte natürlich die wachsende Isolation. Zwar wurden seine Leistungen durch die Lehrer als hervorragend bewertet (für Urban waren Einsen und Zweien in den Klassenarbeiten Standard), bei vielen aber hatte er sich inzwischen eher unbeliebt gemacht. Für so manche Lehrer war er ein Besserwisser. Und sie fühlten sich durch ihn in ihrer Autorität und trotz ihres Wissensvorsprungs herabgesetzt.
Das jedenfalls war Hülyas Eindruck. Aber sie wusste, dass die meisten Lehrer auch von ihr nicht viel hielten. Ausnahme war Hoofeller,