Название | Die Tugend von Tokyo |
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Автор произведения | Götz T. Heinrich |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783844227055 |
Allerdings gab es noch andere Möglichkeiten für einen Polizisten, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen zu schließen, und diese nutzte Toritaka: Kaum dass er wieder im Wagen saß, orderte er per Funk an, die Polizeiakten nach Informationen über Masakiri zu durchforsten und ihm die Ergebnisse auf den Schreibtisch zu legen. Der Tote war polizeilich nicht als Täter registriert, sonst hätte das Arakami-san vorhin sicherlich als Grund angegeben, die Untersuchungen des Todes bei Dezernat 5 zu belassen, aber so auffällig registriert wurden nur Verbrechen und Vergehen, nicht einfache Ordnungswidrigkeiten und eingestellte Verfahren. Trotzdem gab es natürlich auch über Ordnungswidrigkeiten Aufzeichnungen; die musste man eben nur für jeden Menschen einzeln zusammensuchen. Früher wäre das eine langwierige Sache gewesen, doch im Zeitalter elektronischer Datenverarbeitung war der Aufwand vernachlässigbar.
Der Inspektor war dementsprechend auch nicht überrascht, die gewünschten Informationen bei seiner Ankunft auf seinem Tisch vorzufinden. Er legte den Manila-Umschlag, den er von Arakami erhalten hatte, in seine Schublade und machte sich daran, die Ausdrucke in umgekehrt chronologischer Reihenfolge durchzugehen. Seine Hoffnung war, in der unmittelbaren Vergangenheit des Selbstmörders Hinweise auf psychische Auffälligkeiten zu finden, die eine Tendenz zu einem Suizid nahelegten.
Zu seinem Erstaunen fand sich in den letzten zwanzig Jahren von Masakiris Leben absolut nichts Auffälliges - Strafmandate wegen Falschparkens, eine Anzeige wegen Betrugs, die aber fallengelassen worden war, mehrere Strafzettel wegen Verschmutzung öffentlichen Eigentums. Alles Kleinkram und fast typisch für Gutverdiener. Erst die wirklich alten Akten waren aufschlussreicher, dann aber auch gleich auf eine Weise, die eigentlich nicht mehr misszuverstehen war.
Im Alter von 23 Jahren hatte Masakiri schon einmal versucht, Selbstmord zu begehen, und wie dieses Mal war es durch einen Sprung gewesen. Damals allerdings war es der Sprung vor eine U-Bahn gewesen, nicht der von einem Dach. Man hatte damals sein Leben retten können, und er war wegen "Eingriffs in den öffentlichen Personentransportverkehr" zu einem Bußgeld und Führerscheinentzug verurteilt worden. Wichtiger war allerdings, dass er bei der Vernehmung angegeben hatte, unter erdrückenden Schulden zu leiden und keinen anderen Ausweg mehr zu sehen. Irgendwie war er anscheinend noch einmal auf die Beine gekommen... nur um jetzt, in der gleichen Situation wie damals, zur selben Lösung zu greifen.
Zufrieden lehnte sich Toritaka zurück. Wie es aussah, konnte er auf die Befragung der Familie des Selbstmörders verzichten. Wenn Masakiri schon einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, war das hinreichend für die Annahme, dass er es auch ein zweites Mal versucht haben konnte. Das Motiv war damit belegt, und solange es keine Hinweise auf irgend eine Fremdeinwirkung gab, war der Fall klar. Jetzt musste der Inspektor nur noch warten, bis der vorläufige Bericht von der Forensik kam.
Zu seiner Freude waren die ersten Unterlagen schon am Nachmittag auf seinem Schreibtisch. Zwar gab es noch keinen Autopsiebericht, aber die Spurensicherung bestätigte, dass man keine Spuren von anderen Personen im Dachgeschoss des Parkhauses entdeckt hatte, die nicht von den üblichen Parkhausbenutzern stammen konnten. Im Innenhof war eine zerknüllte Zigarettenschachtel Marke "Davidoff" gefunden worden, auf der allerdings nur Masakiris Fingerabdrücke gewesen waren - als hätte er erst die Schachtel heruntergeworfen und wäre dann hinterhergesprungen.
Auch der Mercedes des Toten war inzwischen aufgetaucht - er hatte auf dem obersten Parkdeck gestanden, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, wo er heruntergesprungen sein musste. Es gab keine Kratzer oder Schäden daran, nicht einmal solche, die das Spurensicherungsteam selbst verursacht hatte (was durchaus einmal passieren konnte), und im Inneren waren auch keine wirklich interessanten Dinge aufgetaucht. Es gab immer noch keinen Abschiedsbrief, keine gekritzelten Notizen, die auf Gläubiger oder Schulden hinwiesen, nur ein Aschenbecher voller Zigarettenkippen der Marke "Davidoff" und ein Aktenkoffer mit darin befindlichem Laptop. Die Untersuchung der Daten auf dem Laptop stand noch bevor.
Zufrieden heftete Toritaka alle Sachen in eine Akte und legte auf seinem PC eine Falldatei an, für die er die elektronischen Kopien der Dokumente anforderte. Dann öffnete er den Manilaumschlag, in dem sich die persönlichen Gegenstände Masakiris befanden, die man direkt an seinem Körper gefunden hatte, gab ihnen Aktenzeichen und dokumentierte sie in der Falldatei, damit alles übersichtlich gespeichert werden konnte. Es war nicht übermäßig viel, so dass der Inspektor mit einiger Sicherheit davon ausgehen konnte, dass er heute endlich einmal zu einer normalen Abendessenszeit zuhause war.
Um kurz nach 17 Uhr hatte er die letzten Arbeiten abgeschlossen, und rein der Form halber warf er noch einen Blick in sein Hauspostfach am Eingang seiner Abteilung. In der Hauspost fanden sich nie irgendwelche fallrelevanten Sachen - was seine Kollegen aus anderen Dezernaten ihm dienstlich schickten, kam direkt auf seinen Schreibtisch, und so wurden eigentlich nur Ankündigungen von Geburtstagsfeiern, Polizeigewerkschaftsversammlungen und Ähnliches auf diesem Weg zugestellt. Theoretisch wären hier auch alle Schreiben angekommen, die jemand unten im Präsidium auf seinen Namen abgegeben oder auf seinen Namen ans Präsidium geschickt hätte, aber das war in seiner Dienstzeit noch nie vorgekommen - er war nie für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig gewesen, und Anzeigen, die die Öffentliche Sicherheit betroffen hätten, gingen zu fast hundert Prozent bei der Streifenpolizei in Dezernat 4 ein, weil das die Polizisten waren, die mit den normalen Leuten am meisten zu tun hatten.
So dachte sich Toritaka auch nichts besonderes bei dem Brief ohne Absender in dem einfachen weißen Umschlag, den er ohne Briefmarke aus dem Fach zog und beiläufig aufriss. Das Briefpapier war überraschend dick und fest, was aber immer noch nichts besonderes war, da Feiern oft auf Karten angekündigt wurden. Erst als er das Papier auf dem Weg zurück ins Büro auffaltete, stutzte er und blieb verwundert stehen.
Der Brief war mit einem Kalligraphiepinsel geschrieben worden, das sah man auf den ersten Blick. Die Handschrift war zierlich, aber von der eigentümlichen Kraft, die Schriftzeichen erhielten, wenn jemand mit Verständnis für die klassische Schreibkunst sie zu Papier brachte. Diese Nachricht war nicht einfach nur heruntergeschrieben, sondern mit höchster Präzision gemalt worden. Toritaka war kein Experte dafür, aber so wie er Manga von klassischen Gemälden unterscheiden konnte, war er in der Lage, einfache Schrift und kalligraphische Kunst auseinanderzuhalten.
Die Nachricht selbst war allerdings noch überraschender als die Form:
"Ein Mensch,
der in den Tod geht,
schreit aus Angst vor dem Tod.
Doch ein Mensch,
der zu leben fürchtet,
und nicht zu sterben,
warum sollte der schreien?"
Ein Gedicht? Oder was sollte das sonst sein? Er besah noch einmal Umschlag und Brief. Kein Absender. Eigenartig. Nachdenklich brachte der Inspektor den Brief mit auf sein Büro, und aus einem reinen Impuls heraus zog er aus seinem Schreibtisch eine der Plastiktüten hervor, die man zum Aufheben von Beweismaterial verwendete und steckte das Schreiben mitsamt Umschlag hinein. Vielleicht wurde es noch einmal wichtig, näheres über den anonymen Absender zu erfahren; man konnte ja nie wissen.
Nachdem Toritaka die Tüte verschlossen hatte, dachte er über das seltsame Gedicht nach. Das konnte sich doch nicht auf seinen momentanen Fall beziehen... oder? Erst gestern abend war der Todesfall überhaupt erst geschehen, und offiziell gehörte der Fall ihm erst seit heute früh. Wer hätte sich denn so schnell über seine Beteiligung informieren und ihm eine Nachricht schicken sollen? Nein, das war eigentlich nicht möglich. Aber der Inhalt...
Der Inspektor öffnete noch einmal die Datei, wo er alles aufgezeichnet hatte, was mit dem Fall zu tun hatte. Ganz am Anfang