Der einen Glück, der anderen Leid. Patricia Clara Meile

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Название Der einen Glück, der anderen Leid
Автор произведения Patricia Clara Meile
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742789761



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zurückkehrten. Das fiel mir auf und schon früher war mir aufgefallen, dass er mich praktisch jedes Mal noch ansah, wenn wir die Kaffeeecke verließen. Als wir uns im dritten Stock angekommen zu unserem Büro abdrehten, schaute ich ihm kurz hinterher, wie er weiter die Stufen hinunterstieg. Ich schmachtete. „Er hat wirklich eine tolle sportliche Figur“, meinte ich zu Milena. Sie hatte zuvor schon mehrmals erwähnt, was er doch für einen trainierten Knackpo hätte. Mich hingegen hatten stets seine Augen gefesselt. „Siehste, hab ich dir doch gesagt! Er zieht sich auch gut an. Ich kann dich also verstehen, Liara“, erwiderte sie augenzwinkernd.

      Als ich Milena im Internet auf der Seite des Innerschweizer Beautysalons seine Partnerin zeigte, war sie entsetzt. „Die ist ja fett und hässlich!“, sagte sie und fügte hinzu: „Die hat echt den Jackpot gewonnen, was? Ich verstehe nicht, warum so hübsche Männer oft solche Bauerntrampel als Frauen haben. Und dann hat sie noch Frisörin gelernt, eine dumme hässliche Frisörin. Von der würd ich mich nie behandeln lassen. Ich lasse mich nur von Damen verschönern, die auch selber gut aussehen, ansonsten kann ich denen kein Vertrauen schenken. Er macht dagegen einen intelligenten, freundlich zurückhaltenden Eindruck auf mich.“ Wieder Vorurteile. „Vielleicht ist er etwas schüchtern, was Frauen anbelangt. Vielleicht getraut er sich keine Bessere anzusprechen oder sie hat andere Qualitäten, die wir nicht sehen können“, versuchte ich zu erklären. „Ja, das ist gut möglich. Das ist häufig so“, stimmte Milena mir zu.

      An diesem Abend brachte ich sie noch zum Bahnhof. Er lag auf meinem Heimweg. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete sie sich von mir in einen zweiwöchigen Urlaub. Ich sagte: „Ich werde mich langweilen ohne dich. Ich bin froh, wenn du wieder da bist.“ Sie freute sich natürlich auf die freie Zeit.

      4 Die Nachricht

      Nachdem Milena in den Urlaub gefahren war, brachte ich meinem Vorgesetzten ein kleines Schächtelchen mit bunten Makrönchen aus einer bekannten vornehmen Zürcher Confiserie. Darauf klebte ich einen Zettel mit dem Spruch: «Etwas Süßes zur Aufmunterung und gegen Ärger schadet nie!» Wir kannten uns lange und gut genug, dass er diese Geste nicht als Arschkriecherei fehlinterpretierte. Er freute sich sehr. Wie ich auf Umwegen erfuhr, fragte Matteo ihn am selben Tag in der Raucherecke offenbar nach meinem Namen und meiner Position - unglaublich! Er hatte uns in der Vergangenheit bereits des Öfteren zusammen gesehen. Daher wusste er, dass wir derselben Abteilung angehören. Er schien sich also auch für mich zu interessieren. Im gleichen Augenblick als mir dieser Gedanke in den Kopf schoss, versuchte ich, ihn rasch wieder zu verwerfen. Vielleicht gab es dafür eine ganz andere einfache Erklärung. Schließlich arbeiteten wir für dieselbe Firma und es war nicht abwegig, dass wir dafür bisweilen teamübergreifende Kontakte benötigten.

      Tatsächlich erschien kurze Zeit später auf meinem Bildschirm plötzlich ein Chatfenster des «Business Skype» von Matteo: „Hallo Frau Sommer!“ „Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Bianchi?“, tippte ich, während ich feststellte, wie mein Puls ein wenig schneller ging. „Ich habe eine Frage.“ „Ja? Ich will sehen, was ich tun kann“, antwortete ich freundlich. „Kommen Sie nicht mehr zur Kaffeepause in die vierte Etage?“ Ich traute meinen Augen nicht. „Meine Kollegin ist im Urlaub - deshalb“, erwiderte ich. „Trinken Sie doch mit mir einen Kaffee!“, konterte er. Ich war völlig perplex. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Schweiß trat aus meinen Poren und meine Hände zitterten, als ich meine Zustimmung eintippte. Bevor ich mich auf den Weg machte, musste ich erstmal tief durchatmen und mich ein wenig beruhigen. Das war allerdings nur bedingt möglich. Habe ich einmal Vertrauen gefasst, werde ich offener und mutiger, mir noch relativ fremden Personen gegenüber jedoch, bin ich normalerweise sehr schüchtern und zurückhaltend. Mein Vater war damals noch der einzige im Dorf gewesen, der aufs Gymnasium gehen und später studieren durfte. Das war eine Ehre und Hochachtung. Diese Tatsache muss ihm ein Wahnsinns Selbstvertrauen verliehen haben. Selbst wenn sie keinerlei Hand und Fuß haben, kann er Dinge voller Überzeugung und felsenfest behaupten. Er bildet sich ein, etwas Besseres und intelligenter zu sein, wie die Mehrheit seiner Mitmenschen. So sagte er einst auch, er wolle nicht mit jeder Sekretärin per Du sein. Davon halte ich nichts. Was heißt schon intelligent?! Es gibt diverse Talente. Jeder hat sie in andere Richtungen ausgeprägt. Das Wichtigste ist doch, dass Begabungen optimal eingesetzt und genutzt werden. Es braucht schließlich all diese Fähigkeiten, damit unsere Gesellschaft funktioniert. Deshalb hasse ich Hierarchiedenken. Es ist total bescheuert, dass auch im heutigen Schulsystem noch so beurteilt wird. Soziale Intelligenz beispielsweise ist meiner Meinung nach mindestens genauso wichtig, wie rechnen, lesen und schreiben. Ein schulischer Werdegang sagt daher, aus meiner Sicht, nicht viel über die Intelligenz eines Menschen aus und über dessen Wert schon gar nicht. Indessen muss man immer relativieren; wir lassen alle schnell mal etwas Unüberlegtes raus. Dennoch frage ich mich manchmal, warum mein Vater nicht zumindest ein Stück jener Selbstüberzeugung an seine Töchter weiterzugeben vermochte. Ich verabscheue meine Unsicherheit. Unterschwellig aber schlummern stets Rebellion, Temperament und Impulsivität in mir, nur darauf wartend, durch einen provokanten Kommentar oder eine entsprechende Handlung eines Mitmenschen geweckt zu werden.

      Wie alkoholisiert stieg ich die Stufen hoch, trat zur Tür ein und steuerte Richtung Pausenecke. Dort erwartete mich Matteo bereits - Kunststück, er hatte es ja nicht weit! „Was darf ich Ihnen offerieren, Frau Sommer?“, wollte er wissen. Ich entschied mich für einen Tee. Aufgeregt war ich schon genug, auch ohne Koffein. Er nahm seinen Badge, ließ das Getränk heraus und reichte es mir. Ich bedankte mich höflich und senkte dabei leicht beschämt die Augen. „Bitteschön! Soso, Sie sind also die junge Dame, die ihrem Vorgesetzten Süßes mitbringt?“, leitete er das Gespräch ein. „Ja, warum nicht? Wir haben ein offenes, kollegiales Verhältnis. Bei jedem würde ich das auch nicht machen“, antwortete ich. Er wechselte das Thema: „Ich frage mich schon seit einiger Zeit, was Sie mich immer so anstarren und weshalb Sie stets dann Kaffeezeit machen, wenn unsere Abteilung in der Pause ist. Ich bin Familienvater!“ Nun fühlte ich mich gleichzeitig provoziert und ertappt. Ich hatte mich kopflos verknallt und verrannt, in eine Fantasie, die er ungewollt in mir hervorgerufen hatte. Wenigstens konnte ich jetzt damit abschließen und mein Leben wieder normal weiterführen, ohne in diesen Tagträumen gefangen zu sein. Mit leicht giftigem Unterton und dennoch gedämpfter Stimme, damit man in den umliegenden Büros nicht mithören konnte, antwortete ich: „Was ist das für eine unverschämte Frage?! Warum stört Sie das? Ich bin eine Ästhetin. Ich sehe Sie einfach nur an wie ich ein schönes Haus, ein schönes Gemälde, eine schöne Pflanze oder ein schönes Tier betrachte - nichts weiter. Ich bin außerdem ebenfalls in einer Beziehung. Man sollte einem Mann das zwar nicht sagen, sonst wird er bloß eingebildet, Männer haben in der Regel ohnehin weniger Probleme mit sich und ihrem Aussehen wie Frauen, aber Sie sind ein schöner Mann - der Schönste, der hier umherläuft. Ich muss einfach gucken. Sie brauchen jedoch keine Angst vor mir haben. Ich habe meine moralischen Prinzipien.“ „Tut mir leid. Das war unfair“, entschuldigte er sich kleinlaut und fügte erklärend hinzu: „Warum es mich beschäftigt? Weil Sie mir verdammt gefallen! Wäre ich nicht vergebener Vater mittlerweile zweier Kinder, würde ich Sie wohl ohne Zögern zum Essen einladen. Ihre Augen sind unbeschreiblich! Sie hypnotisieren mich. Darüber hinaus bewundere ich Ihren Stil.“ „Echt?!“, fragte ich ungläubig. Man konnte auch an ihm sehr wohl sehen, dass er eine Ahnung davon hatte. Im Geschäft trug er meist maßgeschneiderte Anzüge und Westen aus Stoffen und in Farben, die perfekt aufeinander abgestimmt waren und optimal zu seinem Typ passten. Er schaute verboten sexy darin aus. Seine kräftige, muskulöse Brust wölbte sich darunter. Wie gerne, hätte ich sie ausgepackt. Ich stellte mir oft vor, wie es wäre, wenn ich die Beherrschung verlieren und ihn einfach berühren würde. Mein Gott, ich musste meine Gedanken zügeln! Nun lächelte ich. „Bitte lächeln Sie mich nicht auf diese Weise an. Sie sind ohnehin schon viel zu hübsch anzuschauen für mich“, sagte er. Niemals hätte ich eine derartige Konversation erwartet. Es mutete vollkommen surreal an. Bis dahin hatte ich nie ernsthaft geglaubt, dass ich ihm tatsächlich ebenfalls gefallen und etwas in ihm auslösen könnte. Ich empfand mich selbst für diese Liga von Mann nicht attraktiv genug. Manchmal frage ich mich wirklich, gibt es noch andere Sorgen, wie Schönheit und Jugendwahn? Ich bin dem, wie so viele, total verfallen. Neben einer dem Schönheitsideal entsprechenden Freundin auch noch einen solchen Mann zu haben,