Lösung. Elisa Scheer

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Название Lösung
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562805



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verließen sie grußlos das Zimmer. Löbl plärrte weinerlich hinter ihnen her: „Erika! Bring mir ein Weißbier!“

      „Keins mehr da!“, brüllte die zurück, und man hörte deutlich heraus, wie wenig sie das bedauerte. Joe grinste und hielt Anne galant die Haustür auf. „Die hätte ich gerade noch selber aufgekriegt“, brummte die. „Szenen einer Ehe... Gott, bin ich froh, dass mir so was noch nicht passiert ist.“

      „Ich auch“, pflichtete Joe bei und verbesserte sich sofort: „Ich meine, ich bin froh, dass ich nicht so einen Besen zu Hause habe.“

      „Besen! Was denn, hätte sie ihm denn jetzt das Weißbier apportieren sollen?“

      „Nein. Ach, du weißt, doch was ich meine!“

      „Nein. Was denn?“

      Joe winkte ab und schloss die Fahrertür auf. „Ist offen“ sagte er dann über das Autodach hinweg. Anne öffnete die Beifahrertür und glitt auf den Sitz. „Also so ist das“, sagte sie dann. „Wenn eine kein kleines Frauchen ist, das dich bewundert, ist es mit der Galanterie sofort wieder aus?“

      Joe stöhnte. „Und wenn ich dir die Tür aufgehalten hätte, hättest du mir ein blaues Auge geschlagen. Ich kann´s ja nur falsch machen!“

      „Klar“, bestätigte Anne vergnügt. „Du bist ein Mann und als solcher sowieso von der Natur und vom Schicksal benachteiligt. Füge dich und lass Mutter machen. Jetzt fahren wir zum Verlagshaus.“

      „Da ist doch heute keiner!“

      „Da wird schon irgendwer sein. Und mit etwas Glück weiß der auch, ob die dort eine Cora haben. Worauf wartest du noch?“

      Joe beugte sich der überlegenen Macht und drehte den Zündschlüssel.

       Samstag, 16.4.2005: 10:15

      Marc wanderte durch seine Wohnung. Die Rumpelkammer war fast leer und die Küche war abgebaut und in den Container im Hof entsorgt. Die Kacheln müsste er abschlagen – nein, das sollten die Handwerker ruhig selbst erledigen.

      Er konnte nachsehen, ob sich in Hongkong etwas tat. Nach zehn Minuten klappte er seinen Laptop gelangweilt wieder zu; der Hang Seng dümpelte unentschlossen um den Vortagesstand herum, und praktisch überall sonst war Wochenende. Zwecklos. Außerdem hatte er gestern so viel verdient, dass es für einen ganzen Monat reichen müsse – plus Renovierung.

      Seit wann war er denn so ruhelos? Es gab genug zu tun – diese Wohnung in eine anständige Behausung zu verwandeln, interessante Trades, heute Abend fand dieser Empfang bei Gieshübel statt, zu dem er Marie begleiten wollte. Wollte – naja. Eher sollte. Und Sport hatte er in der letzten Woche auch kaum getrieben, er fühlte sich fast schon eingerostet. Außerdem gab es da diesen neuen Roman... und den Thomas Bernhard im Stadttheater hatte er sich doch auch ansehen wollen. Und nach ein, zwei Bildern Ausschau halten. Gute Bilder waren schließlich auch eine ausgezeichnete Kapitalanlage, man konnte ja nicht alles in Immobilien und Papiere stecken. Außerdem musste der Wagen in die Inspektion. Heute aber nicht.

      Heute würde er zuerst mal die Rumpelkammer ganz fertig machen und dieses abscheuliche Regal – hatte das jemand mit sehr unruhiger Hand selbst geschnitzt? – mit Genuss in den Container schmettern.

      Es fehlten ja nur noch diese unsägliche rosengemusterte runde Schachtel – wie eine Hutschachtel aus dem späten 19. Jahrhundert, wahrscheinlich ein Sonderangebot von Krims&Krams oder von IKEA – und der Zeitschriftenstapel ganz oben.

      Er blätterte die Zeitschriften flüchtig durch – Selbstnähmagazine aus dem Jahr 2001, außer Schnittmustern nichts drin – und warf sie in den Altpapierkorb, dann nahm er sich die Rosenschachtel vor.

      Zettel, leere Parfumflakons, einzelne Knöpfe, einige ausgeschriebene Fineliner... warum warfen die Leute so etwas vor einem Umzug nicht selbst weg? Das war doch geradezu eine Frechheit, solchen Müll einfach stehen zu lassen! Ein Umschlag, unbeschriftet, darin zwei zusammengefaltete Unischeine. Leerformulare wahrscheinlich, die gab es für 10 Cent in jedem Laden der Katharinenstraße zu kaufen. Eine Eingebung ließ ihn doch hineinschauen, bevor er alles zerriss und wegwarf – sie waren ausgefüllt. Obendrein unterschrieben und gestempelt. Ausgestellt auf – natürlich, Laura. Zwei Hauptseminarscheine in mittelalterlicher Geschichte. Konnte das hirnlose Geschöpf wichtige Dokumente nicht intelligenter aufbewahren? Beinahe hätte er die Scheine vernichtet, dann hätte sie noch einmal zwei Seminare absitzen müssen. Oder hoffen, dass die Professoren sich noch an sie erinnerten und Duplikate ausstellten.

      Vielleicht war sie ja längst mit dem Studium fertig und brauchte die Scheine gar nicht mehr? Er hatte keine Ahnung – aber wusste, dass er selbst seine Scheine sorgfältig in Klarsichthüllen abgeheftet verwahrte – wie sein Abiturzeugnis, sein Diplom und alle Fortbildungsbescheinigungen. Man konnte schließlich nie wissen! Er hatte sogar noch seinen Fahrtenschwimmer und das Impfzeugnis aus der Kindergartenzeit. Und ein Zeugnis, das er selbst nicht lesen konnte, jedenfalls nicht richtig: Russisch für Kleinkinder, als seine Mutter damals plötzlich den Unser-Kind-wächst-zweisprachig-auf-Vogel hatte. Zwei Wochen lang, dann war ihr etwas dazwischen gekommen – und er war erleichtert gewesen, das wusste er noch. Eine Mama, die in einer fremden Sprache sprach und zu erwarten schien, dass man kapierte, was sie wollte – beängstigend. Sogar der Vater war skeptisch gewesen. Marc glaubte, sein müdes Katia, nun lass den Kleinen doch direkt zu hören. Daraufhin musste er auch nicht mehr in diesen komischen Kurs gehen und konnte in Ruhe seine Eisenbahn mit Legosteinen und Glasperlen beladen.

      Wie war er jetzt darauf gekommen? Komisch, was der Anblick zweier fremder und völlig uninteressanter Unischeine so auslösen konnte! Er las sie sich kurz durch. Immerhin – Ursachen für das Scheitern des zweiten Kreuzzugs und Ackerbürger und Patriziat in reichsfreien Städten Süddeutschlands, jedes Mal mit sehr gut bewertet. So dumm war sie also gar nicht.

      Nein, das hatte er ja gewusst. Aber zickig war sie. Ach, zickig waren sie doch alle. Oder zumindest seltsam. Wie Marie. Bestimmt würde sie heute Abend wieder wollen, dass er dieses komische Jackett anzog, das sie ihm geschenkt hatte. Er hatte es gar nicht annehmen wollen – dunkelgraue Rohseide, mit Stehkragen. „Darin siehst du so toll exotisch aus“, meinte sie dann immer. Exotisch! Wer wollte denn schon exotisch aussehen? Außerdem sah er aus wie alle anderen Leute, bloß dass seine Augen ein kleines bisschen schräg standen. Das hatte er eben von Mama, und die von ihrer angeblichen tatarischen Urgroßmutter. Wenn sie die nicht erfunden hatte! Tatarenprinzessinnen machten sich ja immer gut im Stammbaum, und Papa pflegte nur milde zu lächeln, wenn die mandeläugige Vorfahrin angesprochen wurde.

      Jetzt stand er da mit diesen Mandelaugen und sollte sich in eine Jacke werfen wie ein indischer Mogul. Vielleicht noch einen Turban, ja? Mit Smaragden und Straußenfedern? Marie konnte ihn gern haben. Ein ganz normaler Smoking, mehr war heute Abend nicht drin. Und dieser Empfang war sowieso nicht seine Kragenweite. Die Leute dort hatten einfach nur Geld, aber wenig Know how. Sie machten nichts Sinnvolles damit, sie investierten nicht, sie förderten nichts, sie schufen keine Arbeitsplätze, sie verstanden nichts von Kultur. Reine Kaviarfresser also. Drohnen. Marc lächelte und legte die Scheine sorgfältig beiseite, bevor er den Rest aus der Schachtel in einen Müllsack kippte, die Schachtel selbst gründlich abstaubte, die Scheine hineinpackte und alles zurecht stellte, um es Laura zu bringen. Manche würden ihn wohl auch als Drohne bezeichnen, Laura etwa. Er handelte, er kaufte und verkaufte – Arbeit konnte man das nicht nennen. Aber er tat auch Sinnvolles mit seinem Geld, das wusste sie bloß nicht. Noch nicht. Sein Lächeln verblasste. Wieso noch nicht? Wie sollte sie es je erfahren? Sollte er seine Leistungen in die Zeitung setzen? Liebe Laura, ich bin gar nicht so ein doofer Parasit wie du denkst? Und die Rosenschachtel konnte er ihr auch nicht bringen.

      Laura war verschwunden. Sie hatte keine Adresse hinterlassen, sie stand nicht im Telefonbuch, und wenn er ihre Handynummer herauskriegen und ihr eine SMS schicken sollte, würde sie ja doch nicht antworten. Sie konnte ihn eben nicht leiden. Trotzdem stellte er den Rosenkarton in das provisorische Schlafzimmer. Vielleicht fand sich ja doch noch eine Möglichkeit.

       Samstag,