Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

Читать онлайн.
Название Kalter Krieg im Spiegel
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847658351



Скачать книгу

Kakadu nach West-Berlin entflogen. Ankunft Dienstag oder Mittwoch. Schnabelfarbe weiß.

      Er musterte mich misstrauisch. »Können Sie was damit anfangen?«

      Es wurmte ihn sichtlich, dass er als Nachrichtenexperte keinen Zugang zum Kode besaß. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit seiner Freundin, weil man ihn wegen der Aktion für unbestimmte Zeit aus dem Verkehr ziehen würde.

      Ich nickte. »Kakadu bedeutet Messias, und Schnabelfarbe weiß heißt, dass wir nichts Näheres über ihn wissen.«

      Er schwieg und blickte mich fragend an.

      »Also der Messias kommt nach West-Berlin?«, fragte er missmutig. Wollen Sie mich verschaukeln?« Er schlug mit der flachen Hand auf den L.A.D. »Handelt es sich um Kofler?«, erkundigte er sich dann.

      »Höchstwahrscheinlich. Wir wissen es nicht. Es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden.«

      »Na schön. Und warum der Kode? Sie können die Laserschrift ohnehin nicht entschlüsseln.«

      »Offenbar geht es gegen ihre Berufsgewohnheit, etwas gemeinverständlich auszudrücken«, erklärte ich und wandte mich ab, um ihn nicht merken zu lassen, dass mich seine Hartnäckigkeit amüsierte.

      Auch mit dem Nachtglas war drüben im Dachfenster der Roßstraße kein Lichtschein auszumachen. Der Widerschein der Bogenlampen unten im Todesstreifen warf schwache Lichtkringel in die Optik. Es gibt keinen Antireflexbelag, der etwas taugt … dachte ich.

      Doch gerade die Reflexe waren das Problem. Beinahe alles in der Welt hat irgend etwas mit Reflexen zu schaffen.

      Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

      Die ganze Welt ist möglicherweise nur – am Anfang war das Wort – ein Reflex der Worte Gottes, die er, dann wohl in einem unbedachten Moment, ausgesprochen haben muss.

      Die Strafe ist der Reflex des Urteils und dieses der Widerschein der bösen Tat. Und auch die Melancholie ist, wie mir scheint, nur Reflex – Reflex einer Lebensweise, die ihren Schatten auf unsere Seele wirft. Dahinter steckt meist ein schlechtes Gewissen. Nicht wenige Psychiater wären ohne diese Art von Reflex arbeitslos.

       Mein Reflex war die Angst, einen Unschuldigen auszuliefern.

      F. hatte mich zum »Staatsanwalt, Richter und Schöffen in einer Person« ernannt (nur den Henker ersparte er mir), deshalb brauchte ich Gewissheit, Gewissheit, dass sie schuldig waren. Mein Schlaf, meine Stimmung, meine Verdauung hingen davon ab. Deshalb beschäftigten sie mich auch dann, wenn ich gar nicht an sie zu denken schien.

      Ich spürte, dass irgendwo halbbewusst oder unbewusst etwas in mir arbeitete.

      Ein Narr, der glaubt, Gedanken seien immer in Worte zu fassen. Sie können grundverschieden von Sprache sein. Weder Gefühl noch Wort oder Bild (als man Einstein nach der Sprachlichkeit des Denkens fragte, lachte er nur – tatsächlich eine absurde Unterstellung). Und so summte etwas in meinem Schädel, summte sein Lied, summte wie eine Hummel oder eine Wespe, jederzeit bereit, zuzustechen. Niemand nahm es mir ab. Nicht F., sondern ich schreckte aus dem Schlaf auf – es war mein Albtraum, nicht seiner. Und es schien keine Rettung davor zu geben. Es gab keine Gewissheit.

      Selbst ihr Geständnis hätte mich nicht wirklich überzeugt. Es konnte ein Traum sein …

      Oder Resignation …

      Oder Verrücktheit …

      Oder ein Scherz …

      Nicht etwa um eine biblisch verstandene Schuld ging es mir (als jemand, dessen Beruf es ist, die Wahrheit zu suchen, wird man zum unerbittlichen Agnostiker). Auch nicht um Berufsethos. Geschweige denn ums moralische Prinzip. Sondern um den bohrenden Schmerz da drinnen irgendwo. Eine Stelle, auf die sich nicht mit dem Finger zeigen lässt. Dieses Gefühl, jemanden unwiderruflich zu vernichten, verursacht mehr als bloße Übelkeit, wenn man damit geschlagen ist.

      Erleichterung verschaffte ich mir nur durch Gewissheit. F. nannte es eine Manie.

      »Sie sind der geeignete Mann«, sagte er leichthin. »Zwangsneurotiker und Psychopathen erfüllen zuverlässig ihre Pflicht.«

      Das war wohl in seinen Augen noch geschmeichelt, ich weiß nicht, was er wirklich von mir hielt. Er hatte eine undurchsichtige Art, manches ins Lächerliche zu ziehen.

      Vor allem, wenn er meine Lektüre herumliegen sah:

      »Lesen Sie nicht diese gottverdammten Narren«, sagte er. »Dostojewskij, Rilke, Kafka … das sind alles Verrückte, auf die eine oder andere Weise. Kein normaler Mensch kann sich so etwas zu Gemüte führen, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Ich werde Ihnen ein festes weißes Stück Fleisch aus der Datenabteilung beschaffen, das bringt Sie wieder auf die Beine.«

      Er wollte nicht, dass ich mit Freunden oder Bekannten verkehrte, deshalb verschaffte er mir diese Mädchen. Am liebsten hätte er mich in einer Mönchszelle gehalten – oder im Gefängnis, völlig isoliert von allen Außenkontakten: der Idealfall nahe am Nullpunkt des Risikos. Nach einer gewissen Frist verschwanden sie, wo sie hergekommen waren, in der Rechnungsabteilung, der Datenbank oder im inneren Abwehrdienst.

      Ich wusste nie genau, was er ihnen erzählte. Irgendwie brachte er sie dazu, sich für Staat und Vaterland zu opfern. Er musste ein großer Geschichtenerzähler sein. Sie hatten mich schon für alles mögliche gehalten: einen russischen Überläufer, den Botschafter der DDR in Venezuela, einen vom KGB gejagten Trotzkisten – und einmal musste er mich als schwulen Denunzianten ausgegeben haben, dem man es mit gleicher Münze heimzahlen wollte: durch ein Bild mit einer Frau im Bett an seinen Geliebten.

      Dabei hatte ich immer das Gefühl, F. habe mir gegenüber ein schlechtes Gewissen; als sei er dafür verantwortlich, dass Valessa sich mit einem türkischen Botschaftsangestellten nach Izmir abgesetzt hatte (ich war nur ein knappes Vierteljahr mit ihr verheiratet gewesen). Vielleicht wollte er mir auch über die Schmach der Entlassung hinweghelfen. Vielleicht war es eine Art väterlicher Fürsorge. Obwohl ich F. das kaum zutraute. Allerdings erschien mir diese Sorte Staatsdiener im Kern nicht immer so schlecht, wie behauptet wurde.

      Natürlich gibt es auch bei ihnen das Gefühl, es besser machen zu können oder zu sollen, und das Wissen um die absehbaren Folgen ihrer Arbeit bereitet ihnen Unbehagen. Denn wie viel lässt sich voraussehen und wie viel erfahren wir schon über die Tragweite unserer Handlungen?

      »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«, war der Leitspruch aus Kants Ethik, den Kofler seinem ins Englische übersetzten Werk vorangestellt hatte.

      Ich nahm an, dass es sich um das übliche Flickwerk am sozialistischen System handelte. Eine kleinere Verbesserung hier, eine Korrektur dort. Gerade so viel Änderungen, dass es der herrschenden Lehre zuwider lief, im Westen aber als »Dritter Weg« durchgehen konnte und eine Menge Junger Leute auf die Straße bringen würde. Sie schienen ihr Spiel sehr geschickt zu spielen – und ich fragte mich, was dran war an F.s Behauptung, dass der Osten seine Weltherrschaftsansprüche niemals aufgeben würde. Und dass alle Kooperationsbereitschaft und Entspannungspolitik darüber nicht hinwegtäuschen durfte.

      Plötzlich fiel drüben im Grenzstreifen das Licht aus … die Bogenlampen erloschen, sie flackerten noch einmal kurz auf, dann waren sie ebenso dunkel wie die Wachturmfenster.

      Ich sah ungläubig auf die Mauer und die Zäune hinter den spanischen Reitern, die sich nur noch schemenhaft abzeichneten. Aus der Dunkelheit kam Motorengeräusch. Wir hatten eine von Wolken verhangene Mondsichel. Im Wachturm wurde die Notbeleuchtung eingeschaltet. Durch die Fenster sah ich den Schein von Taschenlampen umherhuschen. Was für eine Gelegenheit! dachte ich. Wie viele wären jetzt durch die Dunkelheit gehastet, wenn sie davon gewusst hätten? … mit einigen notdürftig zusammengerafften Habseligkeiten, Hochhauswohnungen zu billiger Miete, Eisenhüttenkombinate und volkseigene Betriebe hinter sich lassend – ebenso das russische Wassereis auf dem Alexanderplatz, den Kaffee-Ersatz der HO-Läden und die Zeitungen, die nur druckten, was erlaubt war. – Oder