Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

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Название Kalter Krieg im Spiegel
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847658351



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verändert: Gestalten wie Buddha, Alexander der Große, Jesus von Nazareth, Napoleon, Marx, Hitler, Stalin.

      Leo Kofler, Sohn eines böhmischen Schusters und einer polnischen Magd, würde ein kleineres Licht unter ihnen sein – doch immer noch hell genug, um in einigen Wirrköpfen die Idee jenes langersehnten Umsturzes Wirklichkeit werden zu lassen, der aus der Sicht der dialektisch-materialistischen Geschichtsschreibung ohnehin unvermeidlich war.

      »Feiner Plan, aber leicht zu durchschauen«, lachte F., als er mir im Gang der Westberliner Zentrale entgegenkam; sie lag in der Franz-Künstler-Straße, beinahe um die Ecke. Mein ganzes Leben spielte sich in dem Dreieck von kaum einem Quadratkilometer Größe zwischen meiner Privatwohnung in der Hitzigallee, der Zentrale und der Wohnung an der Mauer ab ….

      Er schüttelte unwillig eine grüne Kunststoffmappe. »Haben Sie den Bericht gelesen?«

      Ich nickte.

      »Und?« Seine hochgezogenen kahlen Bögen über den Augen, bei gewöhnlichen Menschen die Augenbrauen, signalisierten, dass er ungeduldig war. Er musterte mich, als wolle er sagen: Bestätigen Sie einfach, was wir ohnehin schon wissen – schuldig! Todesurteil! Legitimieren Sie es mit Ihrem Fachwissen und Ihrer Quasi-Funktion als Staatsanwalt.

      »Ich werd‘s mir noch genauer ansehen müssen.«

      »Dazu ist keine Zeit. Wir sind etwas in Zugzwang diesen Monat«, erklärte er unbeherrscht. »Die Senegalesen, das Kubakomplott …«

      Er schwieg und warf mir einen mürrischen Blick zu.

      »Großer Gott«, sagte ich – ich sagte es aus dem Stand, aber mit so viel Nachdruck, wie ich konnte: »Wenn ich für Sie arbeite, um die Wahrheit herauszufinden – und ich hoffe, das ist noch immer der Zweck des Unternehmens –‚ dann müssen Sie mir Zeit lassen, genügend Zeit. Ihre Methoden werden immer perfekter. Sie schenken jetzt auch den unwesentlichsten Kleinigkeiten so viel Aufmerksamkeit, dass es schwer wird, ihre Leute zu überführen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist einiges geschehen auf dem Gebiet der Agenteneinschleusung.«

      »Richtig«, bestätigte er, »richtig. Nur ihre hinterhältigen Absichten sind dieselben geblieben.«

      Er drückte mich so weit gegen die Wand, dass ich den Verputz im Rücken spürte – es war ein schmaler Gang, künstlich eingezogen zwischen die Räume einer gut florierenden Scheinfirma für Zucker- und Mehlprodukte –, als er sich an mir vorbeidrängte. Er hasste Diskussionen.

      »Und vermeiden Sie Besuche hier im Haus. Ich sagte es schon einmal, es schadet Ihnen mehr als uns, wenn die drüben Ihnen auf die Schliche kommen. Auch gute Leute sind zu ersetzen.«

      Dann war er auch schon hinter der schwachbeleuchteten Eisentür des Fahrstuhls verschwunden. Ich stand im Gang und blickte ihm nach. Ein schmales, schwarzes Heftchen war aus seiner Mappe gefallen. Ich hob es auf und sah hinein: Es enthielt Zahlen und Buchstaben, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ich steckte es in die Manteltasche.

      Eigentlich hatte ich ihm mitteilen wollen, dass ich diese Art von Isolationshaltung – anders konnte man es nicht bezeichnen, in dem Einquadratkilometerdreieck –, die er mir seit knapp zweieinhalb Jahren zumutete, nicht länger akzeptieren und mich nach einem hübschen und braven (lieber Himmel, wenn es denn sein sollte, auch »biederen und verschwiegenen«) Mädchen umsehen würde – etwas, das es nach F.s Ansicht nicht gab, da alle Frauen entweder Huren oder karrieresüchtige Politteufel waren (oder Ambitionen auf einen Managerposten oder Professorentitel hatten).

      Vermutlich war es gutgemeint, wenn er mich wie einen Patienten mit ansteckender Krankheit isolierte.

      Er wollte vermeiden, dass man drüben auf meine Tätigkeit aufmerksam wurde. Im Grunde missbilligte er auch meine kleine Privatwohnung in der Hitzigallee (»zu hohe Mieten so nahe am Tiergarten« war sein Standardargument), doch da ich während der Verhöre fast ausnahmslos in der Wohnung an der Luckauer Straße blieb, beließ er es dabei, sich gelegentlich über meine »überflüssigen Fußmärsche« zu mokieren.

      Offenbar glaubte er, meine sämtlichen Bedürfnisse seien mit den Mädchen aus der Organisation befriedigt, die er mir gelegentlich zuschanzte (etwa alle drei Monate – ich weiß nicht, wie er auf diese hirnverbrannte Zeitspanne gekommen war), und für einen Kerl in Staatsdiensten gebe es ohnehin nur die Arbeit. Es waren in der Regel nette und verständige Mädchen, und sie hatten überhaupt keine Ahnung, auf welche Weise sie missbraucht wurden. Es waren auch weder Huren noch karrieresüchtige Politteufel, aber das schien F. entgangen zu sein.

      Die Wohnung in der Luckauer Straße bestand aus drei nebeneinanderliegenden Räumen im dritten Stock eines grauen Mietshauses aus der wilhelminischen Zeit, das direkt an der Zonengrenze lag. F.s Spezialisten hatten diese Lage mit Absicht gewählt. Man sah auf die Mauer, den Todesstreifen, einen Teil des Übergangs Heinrich-Heine-Straße – vor allen Dingen aber erlaubte sie den Sichtkontakt mit einem Haus im Ostsektor an der Roßstraße.

      Beide Etagen unter uns wurden von ruhigen, älteren Mietern bewohnt, Leuten, die entweder schwerhörig, halb blind oder so senil waren, dass sie das Haus selten verließen. Neben der Toreinfahrt im Parterre, die zu einem grasüberwachsenen Trümmergrundstück im Hinterhof führte, befand sich eine seit den sechziger Jahren geschlossene Fahrradhandlung, ihre schmutzigen Scheiben waren mit braunem Packpapier verhängt.

      Die verblichene Reklame aus der Zeit um die Jahrhundertwende gab offenbar für Mauertouristen und Fotografen ein reizvolles Motiv ab. Zu Anfang waren wir überrascht und misstrauisch gewesen, wenn man unsere Hausfassade fotografierte, später hatten wir uns daran gewöhnt. Es gab nur eine Familie mit Kindern.

      Ihr fünfjähriger Knirps spielte manchmal unten an der Mauer. Obwohl er sehr aufgeweckt war, hatte er uns kaum Scherereien gemacht. Nur einmal war es ihm gelungen, die Wohnungstür vom Treppenhaus aus mit einem verbogenen Nagel zu öffnen. Es waren uralte Schlösser, für die praktisch jeder Schlüssel annähernd gleicher Größe oder ein krummer Draht ausreichte. F.s Spezialisten mussten das beim Einzug übersehen haben.

      Möglicherweise hatten sie es auch als unwichtig angesehen, da für den Fall der unbefugten Türöffnung – dieser Eingang wurde von uns nicht benutzt, wir gelangten durch das Nachbarhaus in die Wohnung – eine Sicherung eingebaut war.

      Seine Überraschung musste so groß gewesen sein wie die unsrige, denn durch einen Spezialkontakt im Türscharnier fiel im ganzen Haus der Strom aus. Es wurde stockfinster.

      Er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, zu sehen, was sich hinter der Tür befand: Es wäre eine weitere Überraschung wert gewesen. Damals ließ F. ein einbruchsicheres Schloss einbauen.

      Für den Kontakt mit der Roßstraße hatten wir eine neuartige Laser-Signalanlage installiert. Mit ihr kabelten wir Fragen und Antworten über unseren jeweiligen Klienten heraus und herein, soweit sie im Zentralcomputer nicht greifbar waren. Auf diese Weise war es möglich, Antworten zu überprüfen und Zusammenhängen, die sich meist im Verlauf der Verhöre ergaben, sofort nachzugehen.

      Die Maschine sah aus wie ein überdimensionaler Diaprojektor. Ihr Objektiv zeigte nach Nordwesten, auf das Dachfenster Ecke Roß- und Neue Jakobstraße. Ihre Signale waren mit bloßen Augen völlig unsichtbar und nach dem gegenwärtigen Stand der Technik drüben auch weder zu orten noch zu entschlüsseln. In der Hinsicht konnten wir unbesorgt sein. Sorgen machte uns lediglich der Mann, der den Datenaustauscher auf der Gegenseite bediente.

      Da der Apparat seine Nachrichten automatisch auswarf, genügte ein Spezialist für die Wartung und Bedienung. Auf unserer Seite hieß er Kruschinsky – ein magerer, etwas unscheinbarer Junge, der zunächst in einem Fernmeldebataillon der Bundeswehr gearbeitet hatte und dort durch seine Begabung aufgefallen war.

      Um die Geheimhaltung zu gewährleisten, wechselte F. den Techniker nach jedem Klienten aus. So wurde vermieden, dass für ihn zwischen unseren Verhören und den Todesfällen, die wie Unglücksfälle aussahen, eine Verbindung herstellbar war. F. hatte mir oft versichert, es gebe niemanden außer uns beiden, der Einblick in das Verfahren habe.

      Ich hielt das für eine Lüge, denn es musste von höchster Regierungsstelle abgesegnet sein. Auch die