Das Tor der sieben Sünden. Hans Günter Hess

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Название Das Tor der sieben Sünden
Автор произведения Hans Günter Hess
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847690665



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hast du was bekommen, du Tagedieb?“

      Stolz präsentierte er seine Ausbeute. Die Schweineleber teilte er mit ihr, sie gab ihm dafür ein Baguette und eine Handvoll Zwiebeln.

      „War der Schnüffler bei dir?“,

      erkundigte er sich, mehr, um etwas zu reden. Neugierde war ihm zuwider.

      „Ja, er war da. Und denke mal, was er gemacht hat?“

      Sarly blieb seiner Devise treu, nicht zu fragen. Er zuckte nur mit den Schultern. Madeleine würde reden, auch ohne seine Neugier.

      Er habe, so begann sie, überall an ihr geschnüffelt, sogar unter ihren Rock hätte er seine Nase gesteckt. Danach sei er wütend geworden. Es wäre nicht sein Parfüm, habe er behauptet. Sie hätte ihn aber vom Gegenteil überzeugen können, denn auf der Seife stand ja ganz groß sein Firmenname. Zwar beleidigt hätte er seinen Irrtum eingestanden, aber immer noch darauf bestanden, ein Fremdgeruch wäre in seiner Duftmischung. Sie hätte den Fisch als Grund ins Feld geführt, aber der Schnüffler bestritt ihre Version. Er habe ihr vorgeworfen, ein anderer Mann hätte sie flach gelegt, denn sie würde nach seinem Schweiß stinken. Jetzt sei aber sie ihrerseits zornig geworden. Ihm könne es egal sein, schließlich wären Männer ihr Geschäft, und sie wollte ihn fortschicken, so ihre Antwort. Da wurde er sanft. Er wünschte, dass sie sich ausziehen sollte. Danach rieb er sie am ganzen Körper mit einem neuen Duftstoff ein. Er war so beseelt, dass er ganz vergaß sie zu nehmen. Als er ging, warf er ihr zwanzig Franc auf die Pritsche und das Fläschchen Duftöl dazu.

      „Wenn ich wieder komme, meine kleine Hure, dann möchte ich, dass du so duftest wie eben“,

      rief er ihr zum Abschied zu. Sarly wusste nun, dass zukünftig, wenn der Schnüffler kommen wollte, ihn Madeleine keinen Platz mehr auf der Pritsche einräumen würde. Sie war viel zu viel Geschäftsfrau, um sich einen solch fetten Fang wie den Schnüffler entgehen zu lassen.

      „Nun, Madeleine, jetzt weiß ich, was ich zu tun habe. Wenn es ein gutes Geschäft wird, lasse ich dich an diesem Tag in Ruhe, aber du musst mir etwas abgeben. Schließlich muss ich auch leben.“

      Er sagte das so selbstverständlich, dass man glauben konnte, sie wäre ihm verpflichtet. Sie nahm es hin. Irgendwie stimmt es sogar. Er besorgte ihr ja täglich etwas zu essen.

      Sarly warf die halbe Leber zurück in den Eimer und trollte sich. Madeleine hätte zwar selber von der Fleischhauerfrau etwas bekommen, aber die musste auf ihre Kundschaft Rücksicht nehmen. Das gestand sie ihm einmal, als er ihren Busen berührte. Von einem fremden Mann betatscht zu werden, fand sie sehr aufregend. Sie könnte sich auch mehr vorstellen, ließ sie durchblicken, aber ihr misstrauischer Mann wäre allgegenwärtig und ließe sie kaum aus den Augen. Ihr Geschäft hatten sie erst vor zwei Jahren eröffnet und es lief gut, wenn man die Regeln einhielt. So war es üblich, ja fast unumstößlich, dass man die feinen Fleischwaren, die Schinken sowie Filets von Schwein und Rind an die Nordseite der Mauer lieferte. Die von dort brauchten also nichts zu holen. Betram, ein vierschrötiger Fleischergeselle, fuhr mit seinem Handkarren die Häuser ab und übergab die Bestellungen. Das machte er zweimal wöchentlich. Meist nahmen ihm irgendwelche Bedienstete die Ware ab, manchmal aber auch die Herrschaft persönlich. Dazu gehörte die Gattin des Oberbezirksrichters.

      Soviel hatte Sarly herausgefunden:

      Die Knochen, den Speck, die Innereien und die billige Grützwurst blieben der Südseite vorbehalten. Die, die es sich leisten konnten, gingen dann in den Laden, der von der pausbäckigen Tochter des Inhabers geführt wurde. Drinnen roch es unangenehm, denn die blutigen Kaldaunen lagen meist mehrere Tage, der Wärme und den Fliegen ausgesetzt, herum und verbreiteten einen übel riechenden Gestank.

      An all des dachte Sarly, als er sich auf den Weg zu seiner Kate machte. Clochard empfing ihn mit Gebell. Seine Spürnase hatte ihn nicht betrogen. Heute würde er reichlich zu fressen bekommen, danach verfügte er über einen ganzen Tag Zeit für Fifi.

      Sarly untersuchte zunächst den Inhalt des Eimers. Die Leber war frisch, die konnte er roh zum Baguette verputzen. Dann entdeckte er eine Grützwurst, sie hing wohl eben noch im Rauch und roch verführerisch. Er baumelte sie an die Decke, denn die hielt sich einige Tage. Der Rest des Eimers bestand aus einem Gemisch von Abfällen und Knochen. Clochard bekam die Hälfte, das Andere ließ er für den nächsten Tag zurück. Wenn er später noch einige Äpfel und Kartoffeln stehlen würde, überlegte er, hatte er für die nächsten Tage genug zum Sattwerden. Dann blieb auch Zeit für andere Dinge.

      Im Winter, wenn es hier nichts zum Beißen gab, verzog er sich meist in die Stadt, dort hatte er reichlich, aber es war auch gefährlicher wegen der zahlreichen Konkurrenten. Aber noch dauerte es bis dahin, und die fetten Tage standen erst bevor.

      Jetzt tat er das, was er immer machte, wenn er über eine unverhoffte Gabe aus dem Schlachthaus verfügte. Er würzte die Leber mit Salz, schälte zwei Zwiebeln und verschlang alles zusammen mit dem Baguette. Den Roten hatte er bereits gesoffen, deshalb trank er Bachwasser. Satt und träge stieg er danach in sein Schlaflager. Den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, richtete er jetzt den Blick zur Terrasse von Charlottes Haus. Bei der Sonnenwärme hoffte er, sie würde sich in ihren Liegestuhl begeben. Sein Wunschtraum erfüllte sich nicht. Statt ihr entdeckte er ein Kind des Holzfällers Flaubert. Davon gab es bereits neune. Es war eins von den Mädchen und mochte etwa zehn Jahre alt sein. In ihrer ärmlichen Kleidung streifte sie am Gestrüpp der Mauer entlang. In ihrem Arm hielt sie einen Gegenstand. Kurz vor dem Tor blieb sie stehen, schaute ängstlich nach allen Seiten, um gleich in geduckter Haltung durch selbiges zu schlüpfen. Nach einigen Sekunden geriet sie auf der anderen Seite wieder ins Blickfeld. Erneut inspizierte sie ihre Umgebung und rief etwas. Dann wartete und wartete sie, aber es passierte nichts. Besonders eine Richtung schien sie zu interessieren, in die sie auch ständig schaute. Aber sie wurde wohl enttäuscht und verließ deshalb die Stelle. Kurz vor dem Tor machte sie erneut kehrt und rannte zurück. So ging das einige Male, bis sie schließlich aufgab.

      Sarly fühlte Mitleid und wollte ihr helfen, aber die Trägheit nach dem reichlichen Mahl hielt ihn zurück. Das Mädchen trabte gerade übellaunig und mit verheultem Gesicht in der Nähe seiner Kate vorüber. Sie schleuderte wütend etwas hin und her, das sich beim näher kommen als Lumpenpuppe erwies. Wer weiß, was sie auf der Nordseite damit wollte, überlegte Sarly. Es zählte als Sünde, wenn die Kinder der vornehmen Leute mit Kindern der südlich gelegenen sprachen oder gar spielten. In den Augen der Ehrbaren galten sie als verlogen, schmutzig, habgierig und ungebildet. Sich mit ihnen einzulassen oder gar anzufreunden wäre einer unverzeihlichen Leichtfertigkeit gleichgekommen und hätte einen Eklat ausgelöst.

      Dabei entsprach die Familie des Holzfällers Flaubert allen anderem als diesem Klischee. Ihr einziger Makel lag wohl in der Armut. Der Vater stand beim Königlichen Oberforstmeister Bresson in Diensten. Sein Sohn Fabien half ihm seit fünf Jahren im Wald. Zu einem stattlichen jungen Burschen herangereift, gehörte er mit seinen zwanzig Jahren zu dem Ältesten der neun Kinder. Madame Flaubert trug bereits das zehnte unter ihrem Herzen. Die Familie führte ein redliches Leben. Die Mutter besorgte das Haus und bestellte mit den größeren Kindern einen kleinen Gemüsegarten. Zwei Ziegen komplettierten das bescheidene Dasein. Sonntags erschien die gesamte Familie regelmäßig auf der Kirchenempore, betete und sang inbrünstig die frommen Lieder. Die Worte des Patre empfanden sie als Erbauung und die Einteilung der Menschen nach dem Prinzip des Geldbesitzes als gottgegeben. Es störte sie nicht, dass sie oben auf dem Rang und die Reichen unten im Altarraum saßen.

      Fabien plagten seit einiger Zeit ganz andere Gedanken. Er hockte etwas abseits und konnte so unten im Altarraum ein Mädchen beobachten, das er mit verklärten Augen verfolgte. Nur einmal kreuzten sich kurz ihre Blicke, doch das lag Wochen zurück. Sie hatte gelächelt. Von diesem Zeitpunkt an konnte er an nichts anderes denken. Gotteslob, der Gesang, die Predigt, alles war ihm egal, seine Aufmerksamkeit galt nur ihr, der Göttlichen. Sie, die züchtig neben ihrer Mutter saß, einen weißen Sommerhut trug, der von einem blauen Band unterm Hals gehalten wurde, sie verkörperte das Wesen, das ihn interessierte.

      Nach dem Kirchgang rügte ihn sein Vater. Ihm waren die schmachtenden Blicke des Sohnes nicht entgangen. Es zieme sich nicht und sei eine Sünde für