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Автор произведения | Marlin Schenk |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738009705 |
*
Nach dem Abendessen verließen Annette und Jockel das Haus. Onkel Eberhards Kneipe war das Ziel.
Um neun Uhr wurde Karsten zu Bett geschickt, und um zehn Uhr suchten Lotte und Rainer die Gemächer auf. Um halb drei in der Frühe würde der Wecker seine Pflicht tun, was Rainer wenig störte. In all den Jahren hatte er sich so an das zeitige Aufstehen gewöhnt, dass es ihn sogar sonntags spätestens um Sechs aus den Federn zog.
Als sich Lotte mit einem Kopf voller Wickler neben ihm in die Kissen kuschelte, lag er mit verschränkten Armen unter dem Kopf auf dem Rücken und starrte gegen die Decke.
„An was denkst du?“ fragte Lotte.
„An das Altstadtcafé.“
Lotte rollte die Augen. „Zu diesem Thema ist doch schon alles gesagt.“
Rainer drehte sich zu ihr um. „Aber es muss, es wird eine Möglichkeit geben.“ Lotte seufzte. „Wir haben doch sowieso kein Geld dafür.“ Sie strich ihrem Mann eine Locke aus der Stirn. „Ich würde es dir ja von Herzen gönnen, aber...“ Rainer schüttelte den Zeigefinger. „Wir könnten mehr Geld haben, wenn sich dieser langhaarige Hungerleider nicht bei uns durchfressen würde. Weißt du, wie viele Brötchen er heute Abend wieder verschlungen hat?“ Er hielt die Hand hoch und spreizte die Finger. „Fünf Stück, Lotte. Fünf. Und wie er sie belegt hat. Mit Salami und Käse. Fingerdick.“ Lotte versuchte, ihren Mann zu beruhigen. „Nun lass ihn doch. Auch wenn er ein bisschen verwildert aussieht. Er ist kein schlechter Kerl.“ Davon wollte Rainer nichts wissen. „Von ihm ist nichts zu erwarten, Lotte. Er hängt alles in eine brotlose Kunst hinein. Rockmusik! Welche deutsche Band hat damit schon so viel Erfolg, dass sie davon leben kann? Die kann ein schlechter Schreiner an den beiden Fingern seiner verstümmelten Hand abzählen.“ „Erwartest du etwa, dass er dir etwas zu seinem Café zuschießt?“ „Quatsch. Das kriegen wir auch noch alleine hin. Dazu brauchen wir diesen Dürrmagen nicht.“ Nun wollte Lotte aber wissen, wie der Herr Gatte diesen Traum finanzieren wollte. „Wir haben satten Bausparverträge“, erklärte Rainer. „Den Rest schaffen wir mit Krediten heran. Wenn der Laden läuft, können wir diese aus dem Handgelenk abbezahlen, ohne uns dabei zu übergeben. Aber was red’ ich denn da? Wir haben sowieso kein Haus dafür.“ Rainers Augen leuchteten noch einmal auf. „Hach, ein Fachwerkhaus in der Altstadt.“ „Lass uns schlafen, ja?“ „Das interessiert dich wohl nicht, was?“ „Natürlich interessiert es mich! Dass du aber auch immer gleich eingeschnappt sein musst.“ Rainer drehte seiner Frau beleidigt den Rücken zu. „Du verstehst mich nicht“, murmelte er in die Kissen hinein. Eine Hand kroch unter seine Decke und kitzelte ihn an den empfindlichsten Stellen, bis er laut lachend aus dem Bett flüchtete. „Lass das jetzt“, keuchte er. „Ich muss morgen wieder früh raus. Also schön, schlafen wir.“ Sie küssten sich und löschten das Licht. Sie hatten gerade drei Stunden geschlafen, als Rainer unruhig wurde. Irgendetwas zupfte an seinen Sinnen. Er wälzte sich im Bett hin und her, schlug die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Aha! Das Telefon klingelte. Es stand auf seinem Nachttisch und summte in periodischen Abständen leise vor sich hin, bis er sich nach dem Hörer streckte und ihn aus der Gabel hebelte.
„Boltersdorf“, murmelte er verschlafen.
*
In der Altstadtkneipe ‘Zum Alten Faß’ war lebhafter Betrieb. Sie war gut besetzt, aber nicht zu voll. Ein paar moderne Schlager quakten aus den Boxen über der runden Theke, die sich in der Mitte des Raumes befand. In diesem von Gästen belagerten Ring war Eberhard Boltersdorf emsig damit beschäftigt, gepflegtes Bier in Pilsgläser abzufüllen. Die Nachfrage war so groß, dass er damit fast nicht nach kam und manche mürrisch und lautstark um Nachschub bettelten.
„Mir auch noch’n Bier, Onkel Eberhard“, rief Jockel durch Rauchschwaden dem Wirt zu. „Und für Annette’n Wasser.“
„Du sollst mich nicht immer ‘Onkel’ nennen“, warnte Eberhard. Er ließ den Zapfhahn los, griff in seine Lederschürze, nahm einen Block und einen Kugelschreiber heraus und kritzelte etwas drauf. Dann knallte er Jockel den Zettel hin und sagte: „Hier hast du’s schriftlich. Beim nächsten Mal gibt’s Hausverbot. Klar?“
Nun war Jockel doch ein wenig erschrocken, und als Eberhard sein blasses Gesicht sah, schlug er ihm lachend auf die Schulter.
Jockel entspannte sich wieder. Jetzt musste auch er lachen.
Eberhard stellte Jockel das Bier hin und kratzte ihm einen Strich auf den Deckel.
„Trink doch nicht so viel“, schimpfte Annette.
„Ist doch erst das fünfte“, sagte Eberhard.
Eberhards Frau Helga bahnte sich einen Weg zur Theke und schob ihrem Mann ein Tablett voller leerer Gläser zu. „Sechs Bier“, rief sie.
Eberhard ergriff das Tablett und zeigte es Jockel. „Weißt du, wie dieses Ding im tiefen Westerwald genannt wird?“ fragte er.
Jockel schüttelte den Kopf.
„Hintragblech“, keuchte Eberhard und schlug sich vor Spaß auf die Oberschenkel.
„He, das ist echt cool, Mann“, sagte Jockel. „Ist das nicht griffig, Annette? Hintragblech!“
Das Mädchen konnte der Pointe keinen humoristischen Wert abgewinnen. Lustlos nuckelte sie an ihrem Wasser.
„Trink doch mal was anderes, damit du in Stimmung kommst“, riet Jockel.
„Damit ich weiter zunehme? Hast ja gehört, was Karsten gesagt hat.“ Sie schmollte.
Jockel deutete mit dem Daumen auf das neben ihm sitzende Mädchen. „Sag selbst, O… äh, Eberhard. Ist Annette zu dick?“
Eberhard rieb seine Schürze, unter der sich ein ansehnliches Verdauungsorgan spannte. „Unsinn. Ich wünschte, ich hätte ihre Figur. Komm, Annette, ich spendiere dir einen Krefelder, ja?“
Zwei Wesen kämpften in ihr, bis die Lust nach einem Colabier siegte. „So werde ich nie Model“, stöhnte sie.
Jockel forderte Eberhards Rat. „Sag mal was. Mit diesen blonden Haaren, die wie Seide bis auf die Taille fallen, mit diesem Engelsgesicht und dem Liebreiz, den sie ausstrahlt, steht ihr doch eine Weltkarriere offen.“
„Natürlich“, schwor Eberhard.
„Du sollst zapfen und nicht dumm daherreden“, donnerte Helga, die auf ihre sechs Bier wartete.
„Gleich ist eh Schluss“, sagte Eberhard. „Es ist fast ein Uhr. Erst letzte Woche habe ich eine saftige Strafe wegen wiederholten Ignorierens der Sperrstunde bezahlt. Und ich will nicht, dass der Laden dichtgemacht wird. Die letzte Runde“, trommelte er. „Jeder kann noch ein Getränk bestellen, und dann ist Schluss.“
Die Menge meuterte, aber an diesem Abend blieb Eberhard stur, und eine halbe Stunde später war die Kneipe geräumt.
Eberhard war einer jener Scherzkekse, die sich einen Spaß daraus machten, anderen auf die Nerven zu gehen. In gewisser Weise konnte man ihm eine Spur Sadismus bescheinigen, denn er konnte sich köstlich amüsieren, wenn es ihm gelang, jemanden bis auf die Knochen zu erschrecken, wenn jemand einen von ihm präparierten Gegenstand anfasste, oder wenn er jemanden zur Weißglut getrieben hatte. So war es schon früher, als die Boltersdorf-Brüder noch Jungs waren, und so war es bis heute geblieben. Rainer eignete sich da hervorragend als Objekt. Er konnte sich so herrlich-leicht aufregen. Auch heute war er wieder reif, denn als Annette und Jockel gegangen waren und Helga die letzten Gläser spülte, ging Eberhard zum Telefon. „Mal sehen, ob mein Bruder schon schläft“, sagte er.
„Lass ihn doch in Frieden“, sagte Helga gedehnt und müde. „Er muss morgen früh raus.“