Die Servator Verschwörung. Jürgen Ruhr

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Название Die Servator Verschwörung
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742743503



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      Aber merkwürdigerweise ging ihm die Gerichtsverhandlung um den Einbrecher Oliver Inat nicht mehr aus dem Kopf. Warum hatte der von einem Toten gesprochen? War der Mann wirklich verwirrt, so wie es der Richter bemerkte? Warum leugnete der Einbrecher den Diebstahl von Münzen und Schmuck? Dann schlug Ron sich vor den Kopf: Wo war Inat überhaupt eingebrochen? Nirgendwo fand sich ein Hinweis darauf. Ron nahm sich noch einmal sämtliche Unterlagen vor. Nichts. ‚Einbruch in ein Einfamilienhaus‘. Aber wo? Keine Adresse, kein Hinweis auf einen Ortsteil, einfach nichts. Ob in dem Gerichtsurteil etwas zu finden sein würde? Ron nahm sich vor, gleich morgen beim Amtsgericht anzurufen. Es müsste doch möglich sein, eine Abschrift des Urteils zu erhalten.

      Schließlich recherchierte er im Internet. ‚Einbruch in ein Einfamilienhaus‘, ‚Oliver Inat‘, ‚Schmuckdiebstahl‘, ‚Münzendiebstahl‘ - alle diese Suchbegriffe brachten kein zufriedenstellendes Ergebnis. Dann suchte er nach Getöteten in dem in Frage kommenden Zeitraum. Aber auch dort fielen die Ergebnisse nicht zufriedenstellend aus. Ron notierte sich die Namen der Redakteure, die bei den verschiedenen Zeitungen die Meldung über den Einbruch verfasst hatten.

      Am späten Nachmittag und beim fünften Becher Kaffee - der zugegebenermaßen nicht annähernd so gut schmeckte, wie der von Maike aufgebrühte - fasste er den Entschluss, den Menschen zu befragen, der ihm bestmöglich Auskunft würde geben können: Oliver Inat selbst. Er hoffte nur, dass er im Gefängnis eine Besuchserlaubnis erhalten würde.

      Am nächsten Morgen befand sich Ron schon vor allen anderen in der Redaktion, was ihm später einige fragende Blicke einbrachte. Jetzt lernte er auch endlich den Kollegen Egon Müller, einen unscheinbaren Sechzigjährigen, kennen. Müller war Ron nicht unsympathisch, gab ihm die schlaffe Hand und schlurfte schließlich an seinen Arbeitsplatz. Maike, die wie immer sehr spät erschien, versorgte nach einiger Zeit alle mit Kaffee.

      Kurz nach neun Uhr rief er beim Amtsgericht an. Einerseits hoffte Ron darauf, eine Abschrift des Urteils zu erhalten, andererseits versuchte er in Erfahrung zu bringen, in welche Haftanstalt Inat verlegt worden war. Beides erwies sich als schwierig. Man verwies ihn immer wieder an andere Stellen, niemand schien so richtig zuständig zu sein. Und jedes Mal musste er sein Anliegen erneut hervorbringen. Ron war kurz davor aufzugeben, als er mit einer jungen Frau verbunden wurde.

      „Amtsgericht Berlin Mitte. Sie sprechen mit Vera Hagerl, was kann ich für sie tun?“

      Ron atmete hörbar auf: „Mein Name ist Ronald C. Nayst. Ich arbeite für die Berliner Filiale des New York News Papers. Es geht um die Gerichtsverhandlung gegen den Einbrecher Oliver Inat, die am Ersten stattfand. Können sie mir gegebenenfalls weiterhelfen?“

      Es folgte ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Was kann ich denn für sie tun? Ich habe zwar mit den Strafsachen nichts zu tun, aber ich könnte ja einmal im Computer nachsehen.“

      Ron schickte ein kurzes Dankesgebet gen Himmel. Endlich einmal jemand, der ihn nicht direkt abwimmelte. „Es geht um diesen Oliver Inat. Wäre es möglich, eine Abschrift des Urteils und der zugehörigen Papiere zu bekommen und zu erfahren, in welche Haftanstalt Inat gebracht wurde?“

      Erneut folgte ein kurzes Schweigen und Ron konnte das leise Klappern einer Tastatur vernehmen. Dann seufzte die Dame am anderen Ende der Leitung hörbar auf. „Es tut mir Leid, aber eine Abschrift kann ich ihnen nicht zukommen lassen. Da müssen sie sich direkt an den Richter wenden und ein berechtigtes Interesse nachweisen. Auch über die Haftanstalt, in der Herr Inat einsaß, darf ich keine Auskunft geben.“

      „Einsaß?“ Ron meinte nicht richtig gehört zu haben. „Wurde Inat denn verlegt? Und wo befindet er sich jetzt?“

      „Darüber darf ich keine Auskunft geben, da müssen sie sich ebenfalls an den zuständigen Richter wenden.“ Dann hustete die Frau leise und murmelte: „Sagt ihnen RIP irgendetwas?“

      Ron nickte. RIP - Rest in Peace. Ruhe in Frieden. Aber was sollte das bedeuten? War Inat plötzlich verstorben?

      Wieder meldete die Frau sich zu Wort: „Ich darf jetzt nicht mehr sagen. Aber ich bin hungrig und würde mich über eine Einladung zum Abendessen freuen ...“

      Ron verstand. Die Frau schien vor irgendetwas oder vor irgendjemandem Angst zu haben. Und die Möglichkeit, dass ihr Gespräch mitgehört wurde, bestand immer. Sie räusperte sich vernehmlich und sagte leise, so dass er sie kaum verstehen konnte: „Ich schaue um zwanzig Uhr immer Fernsehen und sitze gemütlich auf meinem Kissenturm.“

      Nach diesen Worten legte sie hastig auf.

      Ron hielt den Hörer in der Hand und überlegte noch einmal beim Amtsgericht anzurufen und sich mit der Frau verbinden zu lassen. Dann verwarf er den Gedanken und zog seinen Schreibblock zu sich heran. ‚Vera Hagerl‘ notierte er auf dem jungfräulichen Blatt und darunter: ‚Möchte zum Essen eingeladen werden‘. Soweit war es ja noch ganz verständlich. Der Sinn dessen, was er dann aber darunter schrieb, blieb ihm allerdings verborgen: ‚Schaut um zwanzig Uhr Fernsehen und sitzt auf einem Kissenturm‘. Ziemlich blöde. Wen interessierte denn, wann und wie die Frau Fernsehen schaute. Außerdem: Um zwanzig Uhr wurden hier in Deutschland die Nachrichten ausgestrahlt. Sollte dies ein Hinweis sein?

      Ron wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen, als sich zwei Hände auf seine Schultern legten. Die Stimme des Chefredakteurs erklang direkt neben seinem Ohr: „Na mein Lieber? Back to the Roots, wie ich sehe. Sie kehren zu Papier und Stift zurück?“ Fellger lachte leise, wobei Ron etwas Feuchtes an seinem Ohr spürte.

      „Oder planen sie jetzt schon ihren Feierabend? Wie heißt ihre neue Flamme? Vera? Aha. Mit Vera heute Abend schon auf Kissen kuscheln und fernsehen. Aber bitte, bitte lieber junger Sohn des Bosses aus Amerika: Kümmern sie sich jetzt um ihre Arbeit. Der Artikel über die Verurteilung des Einbrechers war ja mehr als dürftig und auf ihr merkwürdiges Krickelkrakel, was sie für eine Zeichnung halten, wollen wir in Zukunft auch verzichten. So etwas mögen unsere guten deutschen Leser nicht!“

      Fellger drückte noch einmal aufmunternd beide Schultern Rons und wandte sich dann ab.

      Der Onlinejournalist aber hätte seinem Chef in diesem Moment die Hände küssen können. Das war es! Vera Hagerl hatte ihm eine versteckte Botschaft zukommen lassen. Zwanzig Uhr, gut die Zeit war nicht verschlüsselt. Aber ‚Fernsehen‘ und ‚Kissenturm‘ machten dann einen Sinn, wenn die Silben zusammengefügt und daraus ‚Fernsehturm‘ würde. Und sie wollte sich zum Essen einladen lassen. Also war vermutlich das Restaurant im Fernsehturm gemeint. Aber war diese Schlussfolgerung auch logisch und korrekt?

      ‚Viel kann ja nicht passieren‘, dachte Ron. ‚Sollte sie nicht erscheinen, so genieße ich wenigstens ein schönes Abendessen, wenn auch alleine.‘ Minuten später reservierte er einen Tisch für zwei Personen im Restaurant ‚Spehre‘, zweihundertsieben Meter über der Stadt. Man sagte ihm sogar einen Platz am Fenster zu. Ob die Frau wirklich kommen würde?

      Den Tag verbrachte er schließlich mit Routinearbeiten. Sein nächster Termin wäre am Samstag der Auftritt der Laienmusikergruppe und Ron recherchierte im Internet, ob er etwas darüber in Erfahrung bringen könnte. Die Informationen waren eher mager, würden aber den Grundstock für einen kurzen Artikel bilden können.

      II. Der Generalstaatsanwalt

      Ronald Nayst betrat das Restaurant im Fernsehturm überpünktlich. Nachdem er seinen Namen angegeben hatte, führte ihn ein Kellner zu seinem Tisch. „Ich erwarte noch eine Dame“, erklärte der Redakteur und bestellte zunächst einen Tower Kick als Aperitif. Dann genoss er den Blick auf die Stadt. Dieses Restaurant drehte sich einmal in der Stunde um dreihundertsechzig Grad und bot einen einzigartigen Blick über die Straßen und Gebäude.

      Aber trotz der grandiosen Aussicht ließ ihn der Gedanke an den Einbrecher Oliver Inat nicht los. Er hoffte nur, dass diese Vera Hagerl ihn nicht versetzen würde. RIP - Rest in Peace. Inat musste tot sein, sonst hätte sie das nicht erwähnt. Aber wieso? Der Mann war ein kleiner, unbedeutender Einbrecher gewesen. Oder war alles lediglich ein Zufall? War Inat eines natürlichen Todes gestorben? Warum aber dann diese Geheimnistuerei?