Abraham. Martin Renold

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Название Abraham
Автор произведения Martin Renold
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847699408



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würden ihn auslachen, wenn sie davon wüssten. Nicht zu denken an die Leute, die den Priestern glaubten, oder an die Priester selbst. Sie würden ihn verdammen, ja vielleicht als Gotteslästerer umbringen wollen.

      Er wusste, diese Gedanken musste er für sich behalten.

      Abram hatte zwar noch keine Antworten auf seine Fragen. Trotzdem glaubte er, dass seine Ahnung richtig war. Davon wollte er sich nicht abbringen lassen. Er wusste, niemand würde seine Fragen beantworten können, weder sein Vater noch die Priester – die schon gar nicht – oder sonst jemand. Er musste sich die Antworten selbst geben. Dazu wollte er aber noch viel lernen und erfahren über diese geheimnisvolle Welt, in der er lebte und die ihn umgab, vor allem aber jene Welt, die er weder mit Händen noch mit seinem Verstand fassen konnte, die er nur mit seinen Augen am nächtlichen Himmel sehen, aber sich nicht erklären konnte.

      Abram erinnerte sich, dass schon vor einigen Jahren einmal von einer Mondfinsternis gesprochen worden war. Damals hatte sich der Mond irgendwo versteckt. Nicht einfach hinter einer Wolke. Es musste etwas anderes gewesen sein. Abram konnte es sich nicht erklären. Er selbst hatte es nicht gesehen. Es war mitten in der Nacht gewesen, als er und seine Brüder geschlafen hatten.

      Die Priester des Mondgottes müssten ihm erklären können, was damals geschehen war. Weil es ihm keine Ruhe ließ, ging er zum Tempel. Als er auf den großen Platz kam, beschlichen ihn doch Bedenken. Durfte er einfach so hinaufsteigen und fragen? Er ging nicht geradeaus über den Platz, sondern umging ihn am Rand und näherte sich so dem Tempel von der Seite. Er wollte zuerst beobachten, wer da die Treppen hinaufging und herunterkam. Es waren nur wenige, meistens ältere Männer.

      Abram drückte sich herum wie einer, der vor dem Haus einer heimlich angebeteten Frau herumschleicht und nicht weiß, ob er bei ihr anklopfen darf, um ihr seine Liebe zu gestehen. So heftig klopfte sein Herz, als er endlich wagte, die erste Stufe der Treppe auf der linken Seite zu betreten. Er schaute sich mehrmals um, ob ihn nicht ein Bekannter sehe. Einen Moment fühlte er sich sicher, als er durch das Tor trat, wo er sich vor den Blicken der Menschen unten auf dem Platz geschützt fühlte. Aber gleich, als er das Tor durchschritten hatte und sich auf der Terrasse nach rechts wandte, erfasste ihn eine neue Beklemmung. Er sah keinen Menschen, weder Priester noch Besucher. Er ging ein paar Schritte, bis er um die Ecke sehen konnte. Auf der Seite war ein kleiner Vorbau. Aus dem Tor kam gerade ein Mann, der wohl, wie Abram wegen seines Gewandes vermutete, ein Priester war.

      »Was suchst du hier?«, fragte der Priester den jungen Mann, der in seiner Hilflosigkeit so aussah, als ob er jemanden, vielleicht auch einen Rat oder Hilfe suche.

      »Ich möchte mit einem Sternkundigen sprechen«, antwortete Abram.

      »Geh hinein und frag nach Sin-Ta«, sagte der Priester.

      Abram ging zögernd durch das hohe, schmale Tor und kam in einen Raum, der nur von dem Tageslicht, das durch das Tor hereindrang, erhellt war. Er schaute sich um und sah an einem niedrigen Tisch einen Mann sitzen, vermutlich ein Schreiber. Er trat auf ihn zu und fragte ihn nach Sin-Ta.

      Der Schreiber erhob sich und ging, ohne ein Wort zu sagen, durch eine Tür, die in einen andern, düsteren Raum führte.

      Abram wartete eine Weile. Dann erschien der Schreiber wieder in Begleitung eines alten Mannes.

      »Ich bin Sin-Ta. Was willst du?«, fragte der Mann mit einer Stimme, die in Abrams Ohren angenehm klang.

      »Ich heiße Abram. Man hat mir gesagt, dass du ein Sternkundiger bist. Ich möchte wissen, wie das war, als vor Jahren der Mond am Himmel verschwand, so wie vor ein paar Tagen die Sonne.«

      »Komm mit mir nach draußen«, forderte ihn Sin-Ta auf. »Ich werde es dir erklären.«

      Sie gingen auf die Terrasse. Beide schritten nebeneinander rund um die zweite Stufe des Tempels herum.

      »Warum willst du es wissen?«, fragte Sin-Ta.

      »Ich weiß, dass der Mond sich vor die Sonne geschoben hat, als sie sich verfinsterte. Aber ich weiß nicht, was geschehen ist, als der Mond sich versteckte. Ich bitte dich, erklär es mir!«, bat Abram.

      »Du weißt doch gewiss, dass die Erde eine Scheibe ist, die auf dem Salzmeer schwimmt. Unter der Erde und unter dem Meer ist das Totenreich. In der Nacht steigt die Sonne hinab in den unendlichen Ozean. Sie geht unter der Erde und unter dem Totenreich hindurch. Ihr Licht aber erlischt nicht in der Nacht. Es strahlt von unten, und wenn der Mond rund und voll ist und in der Nacht am höchsten Punkt des Himmels steht und sich die Sonne gerade unter dem Mittelpunkt der Erde befindet, kann es vorkommen, dass der Schatten der Erdscheibe auf den Mond fällt. Dann gibt es eine Mondfinsternis.«

      »Ich danke dir, dass du mir das erklärt hast«, sagte Abram und verabschiedete sich.

      »Sonst hast du keine Fragen?«, wollte Sin-Ta noch wissen.

      »Nein«, antwortete Abram und ging davon.

      Sin-Ta war erstaunt, denn Abram machte ein Gesicht, als ob er in seinem Kopf noch Gedanken herumwälze, die heraus wollten und nach Aufklärung verlangten.

      Ja, es gab noch viele Fragen, aber Abram dachte nicht, dass Sin-Ta ihm Antworten darauf geben würde. Er war ein Priester. Und Abram wollte doch wissen, was der Mond und die Sonne mit den Göttern in den Tempeln zu tun haben, mit Schamasch, dem Sonnengott, und Nanna, dem Mondgott, oder eben, was die Götter, wie er selbst glaubte, nichts damit zu tun haben. Abram fürchtete, dass Sin-Ta ihn nicht verstehen, ihn vielleicht sogar tadeln und nicht mehr unterrichten würde. Denn es war eine Sünde, an der Gottheit von Schamasch und Nanna und den andern Göttern zu zweifeln. Wie manche Götterstatuen hatte er, Abram, selber in der Werkstatt seines Vaters hergestellt und dabei nichts Göttliches sehen oder empfinden können! Wenn er dies so unverhüllt einem Priester sagte, würde der ihn ganz sicher Sin-Aschar überantworten, der als Vizekönig zugleich auch der höchste Priester und Richter nach dem König war.

      Auch mit seinem Vater wollte er nicht darüber sprechen. Terach achtete die Götter und verehrte sie. Für ihn waren die Statuen, die er aus Holz verfertigte, mehr als nur Gegenstände. Sie waren ihm heilig, so wie all seinen vielen Kunden auch, die ihn damit beauftragten und die diese Figuren in ihren Häusern aufstellten und verehrten. Nein, ihn wollte er nicht fragen, nicht verletzen mit seinen Zweifeln. Sollte er ihm sagen: »Deine Figuren sind keine Götter. Es sind Gebilde aus Holz, die genauso verbrennen können wie jedes andere Stück Holz. Du kannst sie zerstören, so wie du schon manches misslungene Werk zerstört hast, wenn es dir nicht gefiel. Und was ist geschehen? Nichts. Was sind das für Götter, die man zerstören kann?«

      Abram behielt seine Gedanken für sich. Doch sie ließen ihm keine Ruhe. Denn er wusste selber auch keine Antwort auf seine Fragen.

      Ungefähr zehn Tage waren vergangen, seit er mit Sin-Ta gesprochen hatte, als er nach reiflichem Nachsinnen einen Entschluss fasste. Er ging wieder zum Tempel. Aber diesmal überquerte er den großen Platz mit eiligen Schritten und ging zielbewusst auf die mittlere Treppe los. Er schaute weder rechts noch links. Entschlossen stieg er die Stufen empor. Im Vorraum, den er schon einmal betreten hatte, fragte er einen Priester nach Sin-Ta. Der war nicht erstaunt, als er Abram sah.

      »Ich möchte, dass du mich in die Lehre der Astrologie einführst«, sagte Abram. Ich möchte mehr über die Gestirne wissen – und auch über die Götter«, fügte er hinzu.

      »Ich habe gehofft, dass du wieder kommst«, antwortete ihm Sin-Ta. »Deine Wissbegier hat mir gefallen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du keine Fragen mehr hast. Ich will dich gerne unterrichten.«

      Sin-Ta führte Abram in einen Raum, der nur spärlich mit Öllampen, die den Wänden entlang auf hohen Sockeln standen, erleuchtet war. Auf dem Fußboden sah Abram seltsame Kreise und Zeichen eingeritzt.

      »Das ist die Sonne«, sagte Sin-Ta und zeigte auf einen kleinen Kreis. »Und dieser Halbkreis ist das Zeichen für den Mond. Und der dicke, lange Strich in der Mitte ist die Erde.«

      »Ich habe lange darüber nachgedacht, was du mir gesagt hast«, sagte Abram. »Mir ist aber nicht klar geworden, warum Mond- und Sonnenfinsternisse so selten sind.«

      Sin-Ta