Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Название Jakob Ponte
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847668800



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den Tag entwickelte sich der Schwarzhandel vor unserem Haus und auf dem Markt zwischen den abgestellten Jeeps und patrouillierender Military Police schwunghaft mit der Standardwährung Zigarette, für die keine umständliche Rechnerei nötig war. Herr Links, der einst so bürgerlich gemütliche Vorsteher eines gut gehenden Caféhauses mit Konditorei nach Wiener Art verwünschte diesen unzivilisierten Frieden ein über das andere Mal und beschimpfte meinen armen Großvater, weil dieser so schnell bereit gewesen war, das Städtchen durch Kapitulation preiszugeben, was ihm nicht einmal genutzt hatte. Solcher Art waren jetzt die Gespräche in unserem Erker, den wir gegen alle Eindringlinge verteidigten, als das einzige uns gebliebene Refugium, in welchen wir auch dicht gepackt nebeneinanderliegend die Nächte zubrachten.

      Überall auf den Straßen und Plätzen standen gut genährte Soldaten herum und bissen auf einen merkwürdigen Stoff, der ihre Kaumuskeln wie Ballons aufblähte. Zunächst nahm ich an, es handele sich um altes zähes Rindfleisch. Es war einfach Gummi; hier schien ein ganzes Volk auf der Stufe unberührter Flegelhaftigkeit stehen geblieben zu sein und mit dem Kauen von Baumharz beschäftigt, der ebenfalls zur Handelsware wurde, wovon sie den bettelnden Kindern gern abgaben, um sie das perfekte amerikanische Kauen zu lehren.

      Dennoch aber lebte ich wie im Traum: Was sich hier abspielte, das war noch schöner als der Krieg; es war überhaupt der Krieg auf seinen eigentlichen Zweck hin geführt, eingefahrene Verhältnisse umzukehren. Erst lange später in einem Studium Universale sollte ich begreifen, dass Kriege auf Dauer nicht in den Schlachten entschieden werden; die Umwälzung findet in einem Zivilisationsexport statt, Bomben machen nur den Begleitlärm. Wie das berühmte Erdbeben die Armen von Lissabon jubeln ließ, weil die Reichen nun die Stadt wieder aufbauen und den Armen Arbeit beschaffen mussten, so auch hier. Immerfort kamen und gingen Menschen; das Leben glich einem Karneval; aus dem Café dröhnte Musik, flogen die wie Zirkusclowns bemalten Huren ein und aus. Die mit ihrem Unterleib erworbenen Waren, Zigaretten, Kaffee wurden rasch verschachert. Mir war rätselhaft, wann und wo alle diese Weiber denn eigentlich schliefen, da sie unentwegt auf den Beinen schienen. Angeregt lief ich durch die Straßen, reihte mich hier ein, und stellte mich dort als Lauscher auf und entdeckte immerfort etwas Neues, noch Schöneres, das heißt, noch Schlimmeres und studierte die ursprünglichen Handelsformen, Raub und Tausch. Die Armen, die Flüchtlinge glichen dunklen Flecken auf glatter weißer Haut, sie störten das Dasein wie eine Art Aussatz; es war tatsächlich besser für sie, gut zu sein, da sie hässlich und ausgestoßen waren, denen man überdies auch noch die Schuld an der Niederlage aufhalste.

      Mir ging es auf die Nerven, ständig vom Bürgersteig herunter springen zu müssen, um einem der schlendernden Sieger Platz zu machen. Unsere Bürgersteige sind nur wenige Meter breit, und zwei GIs, wie sie alsbald hießen, nehmen dreiviertel davon für sich in Anspruch, wenn sie nebeneinander hergehen. Mein Schlaf war ständig gestört, neben dem gewöhnlichen Lärm, den ein Militärlager erzeugt, knatterten in der nächtlichen Stille auch hin und wieder Schüsse, Salven aus Maschinenpistolen als eine Form des Sieges. Wahrscheinlich würden die Heutigen solche dringenden Erinnerungen als ein Trauma bezeichnen und eine lange spezielle psychiatrische Behandlung empfehlen, nicht bedenkend, dass es sich um einen wichtigen und kostbaren Besitz an Wissen handelt, wie man in einem Chaos überlebt.

      Obschon wir sehr beengt hausten, wurden eines Tages einige weitere Offiziere dieser perfekten bornierten und eleganten Maschinerie in unserem schon gefüllten Haus einquartiert. Sogleich beanspruchten sie unseren Erker und schickten alle Hausgenossen nach oben in die Bodenkammern beziehungsweise in den Keller. Ich überlegte, ob ich nicht mit Jan und Ehrenfried zu meinem Wahlvater umziehen sollte, sicher, dass er uns als seine lieben Ziehsöhne willkommen heißen und aufnehmen würde, da er von Einquartierungen verschont geblieben war, als es zu einem ernsten Zusammenstoß zwischen unseren Siegergästen und Großmutter kam, die endlich doch alle Geduld mit diesen Zuständen verlor.

      Die Neuen, wie wir sie zur Unterscheidung von den Alten nannten, bedienten sich des Restes aus unserem Eigentum in der großzügigsten Weise. Großmutter schrie, sie werde sich umbringen; sie würde es tun, wäre ihr nicht ihre religiöse Überzeugung im Wege, die einer Christin den Freitod verbiete. Der Friede, dieses verdammte Ding oder Unding hänge ihr hier oben heraus, bedenkenlos bediente sie sich unserer deutschen Muttersprache. Ein älterer Offizier, in dessen Gegenwart ihre verächtliche Äußerung zum Frieden fiel, musterte sie feindlich; er hielt ein halb gelehrtes Glas in der Hand, schien angetrunken, aber gleichwohl zu verstehen, was sie gesagt hatte. Weil ich die Katastrophe heraufkommen sah, zog ich sie warnend am Rock aus der Gefahrenzone. Indessen stellte der Offizier das Glas auf den Tisch, füllte ein zweites und forderte sie auf, mit ihm auf das Ende der Nazibarbarei zu trinken. Seine Rede hielt er im gutem Deutsch; es mag ein schöner Vortrag gewesen sein, voller Überzeugung und Besserwisserei; davon behielt ich einiges im Gedächtnis, er nannte uns Nazischweine und Hunnen, die es alle verdienten aufgehängt zu werden, sähen sie, was er gesehen, die Verbrechen in ihren Nazilagern, die Tötung von Juden und so fort. Großmutter hob die Schultern, drehte sich um und ließ ihn stehen. Darauf trank er beide Gläser, spuckte aus und schritt, seiner Sache sicher, zum Erker, zu seinen Trinkkumpanen. Auf mein jugendliches Gemüt machte diese Rede keinen großen Eindruck; anscheinend hatten wir Glück, nicht für etwas zur Rechenschaft gezogen zu werden, an dem wir keinen oder nur einen symbolischen Anteil gehabt hatten. Erwartete ich, dass der fremde deutschsprachige Offizier das Haus anzünden werde, um uns mitsamt dem Drin und Dran zu verbrennen, so irrte ich. Nichts geschah, und ich ging ihm neugierig nach, um zu erfahren, weshalb wir am Leben geblieben waren. Zu meinem Erstaunen lag er bloß in seiner eigenen Kotze auf dem Estrich unseres Erkers und brabbelte dummes Zeug.

      Vermutlich aber wurde sich das amerikanische Oberkommando darüber klar, dass Müllhaeusen auf die Dauer gegen Huren und Schwarzhandel nicht zu halten sein würde, zumal der Bevölkerung auch die gewöhnlichen Lebensmittel ausgingen und sie nicht allein aus den gestohlenen Beständen der Armee ernährt werden konnte. Der Heerwurm zog wieder ab, wie er gekommen war, gleich das Heer Pharaos nach dem Sieg. Sie gaben uns auf. Das demolierte Café kam wieder in die Hand seines Besitzers, Herrn Links, und wir alle halfen ihm bei der Einrichtung, trugen die geretteten Möbel, die Tische und Stühlchen hinüber und die herbeigerufenen Handwerker setzten, so gut es ging instand, was beschädigt worden war. Herr Links kehrte mit Frau und Sohn wieder heim und eines Nachmittags saß denn auch mein Freund Jan am Klavier und spielte unseren Mozart, ich glaube, das Konzert Nummer einundzwanzig, oder zweiundzwanzig, freilich ohne das dazu gehörige Orchester, wenn nicht das Adagio aus dem Konzert Nummer sechsundzwanzig. Es war wie die Rückkehr in eine freundlich alte Kultur nach diesem Zwischenspiel eines Chaos. Indessen zeigte Jan sich als guter Hörer oder Lernender und fing an mit Synkopen zu experimentieren, wie sie dem sogenannten Boogie-Woogie eigen sind. Unter den Tischplatten klebten die ausgelutschten Gummis, die Frau Links mit einem Spachtel mühevoll entfernte.

      Großvater kehrte mager und gebrochen aus der Haft zurück, sprach aber nicht über die Art der Behandlung, die ihm zuteilgeworden war und wir alle bezogen unsere wieder frei gewordenen Zimmer. Frau von Schramm wohnte fortan unten, weil Großmutter sie plötzlich um sich haben wollte, da sie sich als ruhig und zuverlässig erwiesen hatte, eine echte Hilfe war, und ich quartierte mich bei Ehrenfried ein, mit dem sich wohl auskommen ließ, sodass meine kleine Schwester Helene ein eigenes Zimmer erhielt. Großmutter hielt es nunmehr für schicklich, ein junges Mädchen nicht den Blicken und der Begehrlichkeit junger Bengels auszusetzen. Nach Beratung mit Frau von Schramm kam sie überein, Geschirr und Silber vorerst nicht zu ergänzen, da viel gestohlen war, sondern den Rest zu verstecken, bis die Zeiten besser wurden.

      In diese Zeit fällt eine Begebenheit, die für einen Augenblick Bestürzung bei uns auslöste, ehe der Vorfall wieder in Vergessenheit geriet. Nicht dass sich endlich Mama wieder bei uns einfand; wir hatten sie längst erwartet, war das Besondere. Eines frühen Morgens noch während der amerikanischen Besatzungszeit wurden wir aus dem Schlaf getrommelt und in einen Mannschaftswagen gesteckt zu einer Erbauungstour nach Weimar. Die Wagen, es waren mehrere, wurden randvoll mit ahnungslosen Bürgern des Städtchens bepackt, die schreckerfüllt um sich blickten und sich fragten, was man mit ihnen vorhatte. Die Bewacher auf den Plattformen der Wagen gaben auf Befragen keine Auskunft, sondern geboten mit einem shut up Ruhe. Neben dem O. K. besaß ich nun schon ein mehr an Kenntnis des Amerikanischen, meinem Sprachinstinkt nach mit haltet das Maul übersetzt. Man brachte