Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Название Jakob Ponte
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847668800



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wie meine kleine Schwester. Ich musste nicht wünschen, was ich schon besaß. Eines Sonntags, wir saßen bei Tisch, rührte mein lieber Wahlvater in seiner Kaffeetasse, um Zucker und Sahne zu verteilen und sprach Helene an; er habe sie noch nie bei einer Andacht gesehen, wie das komme? Helene antwortete schnell und patzig: »Wir sind Atheisten.« Er hatte trinken wollen, nun setzte er die Tasse wieder ab und sah sie sprachlos an. »Nehmen Sie einen Kognak«, schlug Großmutter vor, »mit diesem Mädchen werden Sie nicht fertig!« War es Stolz, was ich heraushörte?

      Dabei blieb es zunächst. An einem schwülen Spätwintertag Anno Domini 1945 mit föhnartigem Wetter besuchte ich ihn auf Weisung der Alten, ohne zu ahnen, weshalb er mich sprechen wollte. Am Fenster stand sein Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch, an der Wand hingen ein Kruzifix und etliche gerahmte Bilder sakralen Inhalts. Mein lieber Vater deutete auf einen Stuhl; ich setzte mich ahnungslos ob der Feierlichkeit, die er an den Tag legte. Beiläufig fragte er nach den Namen der Sonntage des Kirchenjahres; Ostern stand zwar nicht vor der Tür, aber ihm gefiel es, sich nach den Sonntagen zu erkundigen, die zu diesem Fest hinführten. Laetare, fiel mir nach strengem Nachdenken ein; er half weiter: »Judica, und ...« Ich verlegte mich aufs Raten, kam an den Schluss der Reihe und schlug verlegen vor, Passion. In rechter Ordnung lerne Jesu Passion, so viel war mir erinnerlich. Er funkelte mich grimmig an: »Weil du unter dem Einfluss dieser Ketzerin stehst!« Innerlich musste ich ihm zustimmen, fand aber seinen Zorn ein wenig übertrieben; er schlug vor, Invecare, Reminiscere, Occuli, Laetare, Judica und Palmarum ...

      Palmarum machte also eine Ausnahme, während alle anderen Sonntage mit dem Wort identisch schienen, wich Palmsonntag rücksichtslos von der Regel ab, falls es eine gab. Aber Hochwürden verfolgte diese Spur nicht weiter, indem er mir aus einer Schachtel Mundpastillen anbot, sprach er ernstlich mit mir. »Hör!« Er wollte wissen, wie sich diese Ketzerin Helene bei uns eingelebt hatte und ich gab arglos Auskunft. Ihr könntet meinen, in mir ein so gescheites wie durchtriebenes Kind gefunden zu haben, so schilderte ich ihm die nächtlichen Ergötzungen; gab auch auf seine Frage, ob sie und ich etwa auch gemeinsam nackt badeten, was ich nun nicht mehr leugnen konnte. Zwar hatte ich endlich verstanden, worauf das hinauslief, aber er was zu spät. Als es heraus was, sagte er kopfschüttelnd: »Jakob, du bist das erstaunlichste Kind unter meinen Söhnen. Was, um Himmels Willen, habe ich dir eigentlich beigebracht? Na, wünschte ich mir einen leiblichen Sohn, müsste er dir sicherlich ähnlich sein.« Er schloss seine Überlegung mit dem Vorschlag, die Sache schleunigst zu bereinigen. Ich bekundete, wie sehr ich ihn liebe und verehre, und wir gingen also ins Knochenhauerinnungshaus, wo er mich in mein Zimmer hinaufschickte, ich sollte warten, bis ich gerufen werde. Was ich tat. Heftiges schreien brandete alsbald zu mir hinauf, sodass ich hinunter ins Wohnzimmer stürzte. Mamas Morgenrock stand vorn offen, sie hatte wohl vergessen, ihn zu schließen und ließ uns schwarzseidene mit zierlichen Spitzen besetzte Unterwäsche sehen. Nur Großmutter saß ruhig strickend am Tisch und verfolgte die Auseinandersetzung Mamas mit meinem Wahlvater stumm und nur mit Blicken. Fassungslos fragte meine arme Mama den Geistlichen: »Und sie hat ihn zusehen lassen; hat sie dich zusehen lassen«, wendete sie sich an mich. »Zweifellos, ja«, sagte Hochwürden, dem das Lachen in den Augenwinkeln saß. Da es sinnlos gewesen wäre, sich dumm zu stellen, ging ich weiter, als von mir verlangt worden war und berichtete, was ich gesehen und getan und gerochen hatte, meinem Wahlvater hasserfüllte Blicke zuwerfend. Ach, er war ein Verräter gleich jenem Judas, den die Evangelisten verurteilt hatten, sich selbst zu erhängen. »Weiter«, rief Mama, völlig außer sich, »rede oder ich vergesse mich! Meiner Schwester werde ich den Marsch blasen. Worauf sie sich verlassen kann! Und diese Göre muss natürlich aus dem Haus. Oder ich.« Da griff Großmutter helfend ein. Ja, sie wisse oder sie ahne es, nach Paris könne die Tochter derzeit nicht, aber bis Weimar gehe es noch immerhin. »Was haben wir denn eigentlich? Ist der Blitz eingeschlagen«, wendete sie sich fragend an ihre Neffen. Der lehnte ab, das wohl nicht, biologisch gesehen. »Aha, haben wir in der Kinderzeit nicht auch solche ..., na, lassen wir es dabei bewenden. Was dich betrifft, liebe Tochter; hat dein Graf nun endlich sein Jawort hinterlegt? Oder warten wir immer noch darauf? Tief errötend schwieg Mama. Was bei mir eine lässliche Sünde, das vernichtete sie, und weshalb Großmutter ihre Enkelin Helene in Schutz nahm, klärte sich auch auf, als mein Vater vorschlug, wirklich zur Tagesordnung überzugehen; er jedenfalls habe seine Pflicht getan. »Aber gewiss doch«, zog Großmutter den Schlussstrich unter diese Affäre, »Sie haben sich wie immer nicht allzu weit herausgelehnt. Wie wir sehen, hat jeder genug vor seiner eigenen Tür zu kehren. Was das Mädchen betrifft, wissen Sie zufällig eine saubere, nicht zu teure Hausgehilfin?« Verdrossen sagte Hochwürden, dass die Heilige Kirche kein Arbeitsamt sei. »Ganz so, wie ich dachte, da sind wir also einig«, sagte Großmutter. Von diesem Aufruhr erfuhr Helene nichts.

      Zweites Buch

      Jede Regierung, selbst die der Vereinigten Staaten,

      lügt immer und in allem; kann sie nicht über den Kernpunkt

      Lügen verbreiten, so tut sie es in Nebensächlichkeiten.

      Balzac, in: Glanz und Elend der Kurtisanen.

      1. Kapitel

      Bevor der Krieg endete, brachte Mama der lange gehegte Plan, mich in eine höhere als die Volks- oder Gemeindeschule zu schicken, auf den Einfall, mich bei unserem Gymnasium Justus von Liebig anzumelden.

      Wir, Großmutter und ich, hatten uns gefragt, weshalb Mama nicht längst nach Weimar oder sonst wohin zu ihrer Luftabwehr abgereist war; auf Fragen, gab sie keine klare Auskunft, aber wir glaubten, dass sie vergeblich auf ihren Ehemann wartete, oder bloß auf ein Lebenszeichen dieses Herren. Sie ging häufig zum Standesamt, um sich zu erkundigen, ob endlich das Jawort meines Stiefvaters eingegangen sei, aber diese Gänge waren bisher vergeblich gewesen. Großvater verteidigte unterdessen das thüringische Vor- und Vaterland; er war eingezogen und zur Bewachung einer Barackenanlage eingesetzt worden, in der die sogenannten Fremdarbeiter aus allen Himmelsrichtungen lebten und sicherlich auf das Kriegsende lauerten, das sie wieder in ihre jeweiligen Heimatländer spedieren würde, nachdem sie uns die Hälse umgedreht hatten. Und übrigens wimmelte die Stadt von Flüchtlingen aus den bedrohten oder schon verloren gegangenen Ostgebieten des Reiches.

      Mama schickte sich trotz allem an, dem Direktor des Gymnasiums ihren Sohn als seinen künftigen Pennäler einzuschwätzen. Aus unerklärlichen Gründen waren meine Leistungen recht mäßig geworden. Mir waren sie erklärlich; ich war der Schule überdrüssig. Helene aber sprach mit Hochachtung und Neid von der Bildungsstätte; wer eineHohe Schule besuchen dürfe, dem stünde alles im Leben offen. Hingegen wusste ich recht wenig darauf zu erwidern, befürchtete, dass mit diesem Wechsel eher die Ansprüche an mich steigen würden, als mir einen realen Nutzen einzutragen.

      Ihr Schicksal war ungewiss. Mamas Brief an ihre Schwester war lange unbeantwortet geblieben, bis endlich die amtliche Nachricht einging, dass Helenes Mutter Opfer des britischen Bombenterrors geworden sei und unter den Trümmern des Wohnhauses im Berliner Stadtteil Moabit ihr Grab gefunden habe. Diese Mitteilung nahmen alle Hausgenossen ziemlich gleichgültig auf; dass Helene trauerte, konnte ich nicht feststellen; von mir zu schweigen. Die Familie hatte wohl zu lange getrennt und zerstritten gelebt, als dass sich die Bindungen vertiefen konnten. Was mich betraf, so konnte ich im Tode dieser Frau durchaus keinen Verlust sehen, da ich sie nicht gekannt hatte. Jedenfalls war das Mietshaus mitsamt ihrer Wohnung in Moabit durch eine feindliche Sprengbombe gründlich getroffen und zerstört worden; nach Meinung Großmutters kam für diese Tochter, einer religiös Abtrünnigen nicht einmal mehr das Himmelreich in Betracht. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht ihren Neffen gebeten, der verstorbenen Tochter eine Totenmesse zu lesen. Demnach war Helene also eine Halbwaise und musste bei uns bleiben, was weder ich noch Großmutter beklagte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Nein, der Verlust ihrer Eltern brachte meiner kleinen Schwester weniger als nichts ein, obschon ich sie scheinheilig zu trösten suchte.

      Eifervoll unterzog sie sich der Mühe, mich auf die Anforderungen eines Gymnasiums vorzubereiten, mir Aufgaben aus den Lehrbüchern zu stellen, die sie sich in der Stadtbibliothek zu verschaffen gewusst hatte. Ihre altkluge Sanftmut steigerte sich noch, wenn