Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Название Jakob Ponte
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847668800



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Mengen auf die Haut komme, verursache es langwierige und kaum zu behandelnde Verätzungen.

      Großvater stand eine weitaus härtere Prüfung bevor. Alle Honoratioren unserer Stadt waren anwesend, vom Gebietsführer der Jugend bis zum Stellvertreter des Kreisleiters, den Stadträten, den Lehrern und zahlreichen gewöhnlichen Luftschutzwarten, als Großvater, der die Leitung der Übung wieder übernommen hatte, kaum, dass er wiederhergestellt war, seine Geräte aufstellte, zur Sicherheit wie ein Indianer hinter seinem Holzschild hockend und durch den Sehschlitz nach einem kleinen Holzhaufen spähend, den sein Gehilfe, um ein größeres Feuer zu erzielen, vermittels Petroleum am Brennen hielt. Es geschah, was alle schon kannten, die Bombe explodierte, der Holzstoß loderte hoch auf, indessen Großvater hinter dem Holzschild hervorsprang und barsch befahl, das Wasser nunmehr anzulassen. Es kam aber keines. Großvater, in Ermangelung des Wassers, schwang die Patsche. Seiner Sache völlig sicher, schlug er auf die kleinen Brandhäufchen ein. Regelwidrig explodierte es plötzlich erheblich stärker, als zuvor; die Briten hatten Großvater überlistet und ihn zu Fall gebracht. Hingestreckt lag er am Boden, und wir hielten ihn für tot. Aber er lebte, und bald war die Ursache seiner Niederlage geklärt; es handelte sich um eine neuartige Waffe, die erst seit Kurzem im Luftkrieg gegen uns eingesetzt wurde. Löschen ließ sich dieser sogenannte Phosphor nicht ...

      »Großvater«, sagte ich wohl, wie es im Tagebuch Mamas vermerkt ist, »wir Kinder sind klein, wir kennen nicht Kampf noch Sorgen. Wirst du nun weiterkämpfen?«

      »Ich weiß es wahrhaftig nicht, mein Kind«, sprach er nachdenklich. »Ich bin nicht einmal sicher, ob ich nicht eines meiner Augen bereits für Deutschland hingegeben habe.« Sein linkes Auge blieb lange Zeit verbunden, aber er bekam eine Luftschutzmedaille und Großmutter bemerkte unfreundlich: »Hoffentlich hat Er jetzt genug. Er soll sich in der Werkstatt betätigen, mehr wird von Ihm nicht verlangt.«

      Bald wurde er wieder gesund, behielt auch das Auge, vermied es aber, sich bei Vorführungen des Luftschutzes hervorzutun. Allerdings besprach er mit der Kundschaft gern seine pyrotechnischen Abenteuer. Bomben fielen bei uns auch weiterhin nicht, das Leben ging mit einigen erträglichen Einschränkungen weiter. Aus dem Reich aber wurden die durch den Luftkrieg gefährdeten Betriebe zu uns verlegt. Lebensmittel wurden zwar strenger rationiert, aber meine Großeltern hatten eine zahlreiche bäuerliche Verwandtschaft im Bayrischen wie in Thüringen und horteten und hamsterten, was das Zeug hielt, obschon schwere Strafen auf den Schwarzhandel standen. So entwickelte sich ein reger Tauschhandel, der alten Frau war ein wucherischer Zug eigen, der unstillbare Drang nach Erwerb und Besitz. Essen war bei uns also nicht knapp, wir konnten sogar noch davon abgeben, nicht verschenken, aber abgeben, im Tausch gegen Dinge, die wir nicht besaßen. Überdies florierte der Laden, verglichen mit den Friedenszeiten, sogar besser. Es kamen immer mehr Uhren fremden Fabrikates herein; wie immer sie erstanden waren, sie gingen entzwei, wie alle Uhren dieser Welt.

      Großvater machte schließlich ausgedehnte Reisen zu seinen Grossisten, um Ersatzteile heranzuschaffen, und ich lernte dabei, dass die Innung vorausschauend zentrale Lager für Ersatzteile eingerichtet hatte und somit jedem Engpass gewachsen war. Wiederum stand die Werkstatt ohne Meister da, alles ruhte auf dem Gehilfen, einem älteren Mann. Schließlich legte Großvater selbst ein Lager an, er kaufte jede ihm angebotene Uhr auch dann, wenn sie nicht zu reparieren war, und zerlegte sie in Einzelteile. Ferner erstand er einen Posten goldener Herrenringe mit jeweils einem Diamantsplitter; sie gingen reißend ab und mir oblag die Verwaltung dieses Nibelungenschatzes. Nichts war so billig wie Gold. Ich empfand den Umgang mit wertvollen oder kostbaren Dingen als eine höchst angenehme Tätigkeit. Jeder der Ringe kostete achthundert Mark, Käufer fanden sich bei Offizieren und ihren Frauen, bei Amtsträgern und Funktionären oder bei denen, die einfach etwas auf die sichere Seite bringen wollten. Zuletzt goss Großvater im Keller zu nächtlicher Stunde kleine Goldbarren im Unzengewicht und versteckte sie für Notzeiten, vor Angst schwitzend.

      Verwundete Soldaten verbrachten die Zeit ihrer Genesung oder einen Urlaub im Städtchen; auch hatten sich einige Dienststellen aus dem Reich in Müllhaeusen angesiedelt, wie erwähnt, und die bürgerliche Idylle unmerklich gelockert. Kurz, wir verkauften ihnen Ringe und Uhren, silberne Schüsseln, Schalen, Besteckkästen und Samoware, alles Beutegut aus Europa sammelte sich unter unserem Dach.

      Selbstverständlich war der Handel mit Edelmetallen staatlich beaufsichtigt, aber Großvater stellte sich gut mit den Aufsehern, ließ verdienen, wobei er selber auf seine Rechnung kam. Sein Geschäftserfolg verhalf ihm zu einem größeren Ansehen bei Großmutter. Der Gehilfe wurde bald darauf eingezogen. Großvater stellte den Reparaturbetrieb ganz ein, behielt nur noch den zwar gefährlichen aber lukrativen Schwarzhandel bei und vermittelte gegen Provisionen die Uhrenreparaturen an Kollegen, die weniger umsichtig gewesen waren. Nicht dass er im Gold schwamm, aber er prahlte mit seinem neuen Wohlstand, wollte nach dem Krieg das Geschäft ganz aufgeben, um von den Zinsen seines angehäuften Vermögens zu leben, was durchaus nicht unmöglich; denn in seinem Köfferchen aus Metall bewahrte er viele der kleinen von ihm selbst gegossenen handelsüblichen Barren auf. Nach dem Wechsel des Jahres 1943 zu 1944 verließ uns Mama, nicht, wie sie immer gedroht hatte, mit mir und nicht nach Paris oder Eisenach, sondern zog von Weimar nach Berlin. Zuerst kam sie selten, bald gar nicht mehr; selbst Großvater missbilligte ihren Schritt. Da wir die Welt immer in ihrem Bilde erleben - sehen - es hat sich ein Foto aus jener Zeit erhalten, das sie als eine nicht mehr junge, aber noch recht hübsche Frau in Waffenrock und Käppi darstellt, unter dem blondes Wellenhaar hervorquillt, eitel lächelnd.

      Sie hatte uns in der ersten Februarwoche verlassen, als überall Schnee lag. Neugierig und auch etwas misstrauisch sah ich zu, wie sie ins Dienstauto Doktor Wilhelmis stieg, der sich erboten hatte, sie nach Berlin zu bringen, weil er dort zu tun habe. Zuvor hatte es einen Abschied gegeben, an den ich mich deshalb lebhaft erinnern kann, weil Großmutter aus der Rolle fiel und ihre Verdächtigungen herausschrie. Schnippisch hatte Mama ihr geantwortet; die Gängelei sei nun endgültig vorbei. Großvater hatte hinzugesetzt, es sei ja überhaupt vielleicht bald alles vorüber, der Russe so gut wie besiegt und der Krieg gehe somit zu Ende, ihre Flucht sei eigentlich schon überflüssig. Mama strich mir zum Abschied mit dem Ratschlag über den Kopf: »Werde schnell erwachsen, mein Sohn!« Was ich gern versprach, freute mich schließlich doch über den Trubel, den der Krieg bei uns auslöste, auch wenn wir Mama an ihn verloren. Denn endlich trugen wir alle Uniformen; Großvater ging im Rock des Luftschutzwartes, obschon er als Verwundeter keine Übungen mehr abhielt, und Doktor Wilhelmi war berechtigt, die Rangabzeichen eines Stabsarztes an seine Uniform zu heften; nebenbei bemerkt, gehörte statistisch jeder vierte Arzt der SS an, nun, und ich selber gehörte zur Kampfreserve junger Nationalsozialisten. Allein Großmutter blieb zivil, und wenn man den geistlichen Rock nicht auch als eine Art Uniform betrachten will, so war mein Meister und Wahlvater Fabian ebenfalls ein Zivilist. Das Haus hatte sich geleert.

      Ich entsinne mich noch eines Vorfalles, der mich länger beschäftigte. Karl, Jan und ich schlenderten einmal am Stadtwall entlang, als uns eine Kolonne Menschen entgegenkam, fünfzig oder sechzig Gefangene, ehemals Soldaten der bolschewistischen Armee, wie wir sogleich an ihrem Aussehen erkannten, unsere Urfeinde und Untermenschen. Aber was für ein Bild boten sie! Die Mäntel verdreckt, ohne Schuhe, an den Füßen Lappen und Holzpantoffel. Auf den Köpfen trugen sie Mützen oder Wäschefetzen, einige zeigten kahle verschorfte Schädel. Langsam schleppte sich der Gefangenenzug am Wall entlang. Begleitet wurde die verzweifelte Truppe von älteren Leuten mit Gewehren über der Schulter, zu nichts anderem mehr nützlich als zur Bewachung dieser Siechen. Wir sahen der Kolonne sprachlos nach, bis sie unserem Blick entschwunden war ...

      Der Ordnung halber müsste ich wohl nachtragen, was in meinem Inneren zur Zeit der Kapitulation der 6. Armee von Stalingrad vor sich ging. Allein ich könnte mich hierzu nur verhalten äußern wie die gewöhnlichen Historiker, die nicht dabei waren, aber genau wissen, was dort geschah und vor allem weshalb. Nicht auszudenken, was sie täten, wäre die verlorene Armee von den Mannsteinpanzern wirklich herausgehauen worden; auch Leningrad überstand schließlich die Belagerung und ist heute deshalb Heldenstadt. So erklärt es sich vielleicht, dass mein Inneres mit anderem beschäftigt, der Niederlage dort nicht die Bedeutung zusprach, die sie tatsächlich im Nachhinein verdient.

      Fleißig besuchten wir jungen Menschen nunmehr das Stadtcafé und studierten angeregt die wippenden Hintern der Serviermädchen.