Название | Und Gott schaut zu |
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Автор произведения | Erich Szelersky |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783737522106 |
Am Abend saßen sie beisammen und teilten das wenige Brot, das sie hatten. Es herrschte Stille. Keiner sagte ein Wort, bis Maria, deren Gehirn fieberhaft nach einem Ausweg suchte, einen letzten Versuch unternahm.
»Kann ich nicht vielleicht doch ein paar Tage bei Euch bleiben?«
Sie bemerkte, dass Ihre Cousine erschrak und fügte hastig hinzu:
»Ich habe eine kleine Pension als Witwe. Jeden Monat fünfzehn Taler. Die gebe ich Euch. Ich arbeite auch dafür. Nur so lange, bis ich etwas gefunden habe.«
»Fünfzehn Taler, das ist mehr als wir verdienen. Ist das wirklich wahr?«
»Ich sag‘s Euch doch.«
»Gut, aber nur bis Du etwas gefunden hast.«
Noch am Abend zog Maria mit den Kindern und den wenigen Habseligkeiten, die sie noch hatte, in das Haus ihrer Cousine ein.
Prügeln ist keine Sünde
Unrecht erleben, gar erleiden, ist für einen kleinen Jungen eine bittere Erfahrung.
Für Gustav begann nun in der Schule in Reichenbach eine Zeit, in der er mit Unrecht ständig konfrontiert wurde. Er war inzwischen neun Jahre alt und ging in die Schule. Jeden Morgen machte er sich zusammen mit seiner Schwester auf den sechs Kilometer langen Weg. Im Sommer war dies nicht weiter schlimm, doch wenn im Winter Regen und Schnee den Feldweg aufgeweicht hatten, war es sehr beschwerlich. Hinzukam, dass ihr Lehrer ihnen eingebläut hatte, nicht durch den Dreck zu laufen, da sie das Schulgebäude und den Klassenraum sonst nur verdrecken würden. Gustav hatte das am eigenen Leibe zu spüren bekommen, als er mit vom Schlamm des Feldweges verschmutzten Schuhen in seiner Schulbank saß. Sein Lehrer hatte die Fußspur, die nicht zu übersehen war, verfolgt und Gustav aufgefordert, aus der Bank zu treten. Dann musste Gustav ihm sein Lineal geben und die rechte Hand mit der Handfläche nach oben ausstrecken. Gustav war zuerst nicht bewusst, was geschehen würde, doch nur nach ein paar Sekunden der Unsicherheit spürte er es. Der Lehrer schlug ihm mit dem Holzlineal auf die Fingerspitzen. Gustav zog die Hand weg. Dies machte seinen Lehrer aber nur noch wütender. Er musste die Hand wieder ausstrecken und erhielt zehn Schläge auf die Finger. Der Schmerz war fast unerträglich für ihn. Er war von seiner Mutter nie verprügelt worden. Insofern war diese Erfahrung neu für ihn. Aus den Erzählungen einiger seiner Schulkameraden wusste er, dass sie von ihren Eltern häufig heftige Prügel bezogen; und dies sogar auch für Kleinigkeiten. Gustav versuchte, trotz des höllischen Schmerzes keine Miene zu verziehen. Am Ende der Schulstunde beschloss er, seiner Mutter nichts von dem Vorfall zu erzählen. Was würde dies schon helfen? Auf dem Heimweg weinte er; aber nicht die schmerzenden Finger waren die Ursache hierfür. Vielmehr weinte er aus Wut. Die Schläge auf seine Finger hatten ihm seine Ohnmacht gezeigt. Er war bestraft worden, obwohl es für die Strafe keinen Grund gegeben hatte. Wie sollte man auf einem vom Regen aufgeweichten und von den Gespannen zerfurchten Feldweg laufen, ohne seine Schuhe zu verdrecken. Ihm war reine Willkür widerfahren.
Körperliche Züchtigungen gehörten in der Schule zu Gustavs Alltag. Sie waren bei den Lehrern einfach von Zeit zu Zeit angesagt, um den Kindern die eigene Macht zu demonstrieren. Immerhin war die Prügelstrafe erlaubt, und die Lehrer machten nicht nur von ihr Gebrauch. Sie fühlten sich dabei sogar auch noch im Recht. Es kam ihnen nicht einmal in den Sinn, dass zumindest der willkürliche Gebrauch nach den gültigen preußischen Gesetzen grobes Unrecht war und bei den Kindern nachhaltige Schäden verursachen würde. Jeder, der sich zur Erziehung von Kindern berufen fühlte, machte von ihr Gebrauch. Es war ein probates Mittel, den Kindern ihren eigenen Willen aufzuzwingen und das nannten sie dann Erziehung. Die Kinder sollten zu folgsamen Untertanen erzogen werden, die willenlos taten, was von ihnen gefordert wurde. So wuchsen Menschen heran, die ohne zu fragen ihr außerordentlich schweres Schicksal klaglos ertrugen. Mit Prügel und der Androhung noch viel schlimmerer Strafen, wie sie nur in ewiger Verdammnis zu finden wären, wurde so lange gedroht, bis jeder auch noch so geringe Widerstand gebrochen war.
Ein Haus in Duisburg
Heute
Ich legte die Kladde für einen Moment zur Seite. Mein Vater hatte mich nie geschlagen. Er hatte viel über Gewalt erzählt. Insbesondere im Krieg muss er wohl viel Gewalt erlebt haben. Aber er versuchte auch immer, mir zu erklären, dass es auch psychische Gewalt gab. Er erzählte mir von Einschüchterungen durch seelische Repressalien. Wie musste mein Großvater gelitten haben? Grundlose Prügel und seelischer Druck wegen der ständigen Drohungen, nicht das Seelenheil zu erlangen, wenn er nicht dem gottgewollten Wort der Obrigkeit folgte.
Ich las weiter, was Vater geschrieben hatte.
*
In der damaligen Zeit machten die Menschen diese Erfahrung täglich. Da ist es nicht verwunderlich, dass man seine eigenen Probleme auch mit Gewalt löst. Gewalt gehörte zum Alltag. Kinder wurden von ihren Eltern verprügelt, Schüler von ihren Lehrern, Messdiener und Katechismusschüler von den Priestern und Landarbeiter von ihren Dienstherren. Obwohl offiziell verboten wurde natürlich auch beim Militär geprügelt. Dienstherren beriefen sich auf die Gesindeordnung von 1810 und ließen prügeln, wenn sie dies zur Aufrechterhaltung ihres Disziplinverständnisses für gegeben hielten. In Schulen war die Prügelstrafe erlaubt und selbst die christliche Kirche sah kein Vergehen darin, ihre Schutzbefohlenen mittels Schlagstock und Faust vom rechten Glauben zu überzeugen. Wie dies zuging erlebte Gustav beim Kommunionunterricht.
In der Vorbereitung auf die erste heilige Kommunion gingen alle katholischen Kinder an jedem Nachmittag in den Kommunionunterricht. Der fand in der Sakristei der Kirche in Reichenbach statt. Es bestand Teilnahmepflicht. An jenem denkwürdigen Tag, der sich in Gustavs Gedächtnis einbrannte und ihn nie wieder frei lassen sollte saßen sie auch wieder in der Sakristei. Es kam schon einmal vor, dass ein Weberkind fehlte, und auch die, die schon in der Glashütte arbeiteten, konnten nicht immer pünktlich erscheinen, denn die Familien brauchten jeden Groschen Lohn zum Überleben. Das war allgemein bekannt. Jeder im Dorf wusste das.
Als an diesem bewussten Tag im Frühjahr 1856 der Kommunionunterricht begann fehlte Anton Mischkowitz. Etwas verspätet kam er angehetzt, öffnete so leise er konnte, um nicht zu stören, die Türe und trat in die Sakristei. Sofort traf ihn der Bannstrahl von Pfarrer Broszka. Anton senkte den Kopf und schlich verängstigt zu seinem Stuhl. Er kam nicht dazu, sich zu setzen, denn Pfarrer Broszka wollte von ihm wissen, wo er gewesen ist.
»Du bist zu spät. Wo hast Du Dich rumgetrieben?«
»Ich hab noch bis gerade in der Fabrik gearbeitet. Die Kühlfässer für die nächste Schicht mussten noch mit frischem Wasser aufgefüllt werden.«
»Das ist kein Grund, nicht da zu sein, wenn Ihr den Katechismus zu lernen habt. Ist das klar?«
»Ja, aber ich musste da bleiben. Vater hat gesagt, ich soll...«
»Was? Dein Vater hat gesagt! Dein Vater hat nichts zu sagen.«
Pfarrer Broszkas Gesicht lief rot vor Zorn an.
»Ich habe Euch etwas zu sagen, und zwar Gottes Wort. Und dann hast Du pünktlich zu sein. Sag mir das Glaubensbekenntnis auf. Aber sofort!«
Anton schaute eingeschüchtert zum Pater auf.
»Ich ... Ich glaube an Gott den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde und an Jesus, seinen Sohn, unseren ...«
»Jesus?« brüllte Pfarrer Broszka, »Jesus? Jesus Christus heißt das! Hast Du das verstanden? Jesus Christus! Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.«
Er stockte und griff nach seinem Stock, der immer griffbereit auf seinem Pult lag. Er holte aus und schlug zu. Der Stock traf Anton auf dem Kopf. Er zuckte zusammen und wandte sich ab, die Hände über seinem Kopf zum Schutz verschränkend. Doch Pfarrer Broszka war gerade so richtig in Fahrt gekommen und schlug auf Anton ein. Immer und immer wieder.
Dabei