Alle meine Packer. Martin Renold

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Название Alle meine Packer
Автор произведения Martin Renold
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847699576



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nicht seine Wände mit unseren Bildern zu tapezieren beginnt, fresse ich einen Besen.“

      Ich zahlte und ging. Wie sagte schon Schiller? „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“

      Dichtung und Wahrheit

      In einem der Bewerbungsschreiben, die ich auf das neue Stelleninserat erhielt, stand der bewegende Appell: „Geben Sie doch um Gottes Willen einem älteren, aber kräftigen und zuverlässigen Mann eine Chance.“

      Der Mann bewies psychologische Fähigkeiten. Er wusste mit einem Schlag das christliche Gewissen und den sozialen Sinn anzusprechen. Ich ließ den älteren Mann kommen und überzeugte mich von zwei der angegebenen Eigenschaften.

      August Binggeli war einundsechzig Jahre alt, ein Mann von mittlerer, kräftiger Statur. Er wirkte voll Energie. Seine Zuverlässigkeit war er gewillt, unter Beweis zu stellen.

      Binggeli war der vollendete Charmeur. Frau Knopf überreichte er schon am ersten Tag eine Rose aus der Rabatte der Frau Direktor Ledergerber. Dies war der willkommen Anlass, ihn über die Hausordnung aufzuklären.

      „Das ist selbstverständlich, dass die Rosen der Frau Direktor unangetastet bleiben. Hoffentlich denken Sie nie, dass ich überhaupt je an so etwas gedacht hätte Es gibt ja beim Migros so herrliche Rosen. Als ich sie heute früh im Migrosmarkt sah, konnte ich einfach nicht vorübergehen, ohne eine zu kaufen. August, habe ich mir gedacht, erinnerst du dich an die hübsche junge Dame, die dir letzte Woche, als du dich vorgestellt hast, die Tür öffnete? Diese Frau liebt Rosen, das habe ich sofort gesehen. Damit kannst du ihr eine Freude machen. Stimmt’s?“

      „Sie duftet wie die Sorte der Frau Direktor“, entgegnete Frau Knopf, die ihre Nase in die Rose gesteckt hatte.

      „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, lachte Binggeli, zwinkerte mit den Augendeckeln und stieß die Luft zischend zwischen den paar noch verbliebenen gelblichbraunen Zähnen hindurch. Alter schützt vor Torheit nicht. Aber Binggeli war nicht so einer Auch wenn er Frau Knopf jeden Tag wie ein verliebter Schuljunge anschaute und ihr immer wieder Komplimente machte und allzu oft Röslein und andere Blumen stehen sah, zu nahe trat er unserer Frau Knopf nie.

      Es war eine richtige Freude, dem Mann bei der Arbeit zuzusehen. Er begriff leicht und tat alles, was man von ihm verlangte. Kisten voller Bücher waren für ihn kein Problem, je schwerer, desto lieber. Der Mann schien überschüssige Energie zu besitzen. Alles an ihm strotzte vor Kraft. Schon um elf Uhr war alles gepackt, was am Morgen bestellt worden war. Dann hörte ich in meinem Dachstübchen den Leiterwagen den Weg zur Straße hinunterrasseln. Wenig danach hörte ich ihn bereits über das Kopfsteinpflaster der Bahnhofstrasse zurückkommen. Das Rasseln des unbeladenen Wagens war jetzt heller. Der leere Wagen hüpfte wie ein Hase im Zickzack hinter Binggeli her. Dieser schritt aus wie ein Napoleon. Die Rocktaschen seines grauen Berufsmantels flatterten im Wind und streiften beinahe den Boden, so lang waren sie. Ein speckiger Schlapphut bedeckte den vierschrötigen Kopf mit dem unrasierten Gesicht. Im Mundwinkel zwischen den gelbbraunen Stummeln der Zähne steckte der aufgeweichte braunschwarze Stummel einer abgebrannten Toscani, der bis zum Feierabend als Schick diente. Mittags aß Binggeli in einer nahen Arbeiterwirtschaft, in der vor allem Lastwagenfahrer abstiegen, aber auch Straßenarbeiter und Arbeiter der PTT, die in der Nähe Kabel verlegen mussten. In einem Hinterstübchen saßen meist ein paar Angestellte oder Passanten, die es hierher verschlagen hatte, an gedeckten Mittagstischen. Binggeli saß immer bei seinesgleichen in der vorderen Stube. Er war es gewohnt, an rohen, ungedeckten Tischen zu essen. Hier war er schon am ersten Tag mit allen auf Du und Du. Der Serviererin wusste er den Hof zu machen. Der Wirtin schenkte der aufmerksame Gast ab und zu eine rotgelbe Rose von der Sorte der Frau Direktor.

      Nachmittags, während der Arbeitszeit, sah man Binggeli zuweilen mit langen Schritten vom „Schwanen“ die Bahnhofstraße heraufkommen. Die Zipfel seines Mantels schienen noch mehr als üblich den Boden zu berühren. Aber jetzt flatterten sie nicht, sondern wurden eher von etwas Schwerem zu Boden gezogen.

      Am Weg zum Verlag schritt er achtlos vorbei. Weitausholend steuerte er auf den Güterschuppen am Bahnhof zu. Dort verrichteten Köbi und Heiri in der brütenden Hitze des Holzbaus ihren Dienst. Die beiden armen Teufel lechzten in ihrem Durst nach einer kühlenden Erfrischung. Trotz dem mörderischen Klima in ihrem Schuppen war es ihnen anscheinend untersagt, den Arbeitsplatz zu verlassen. Ein männliches Freudengeheul überschüttete den hereinstürzenden Binggeli, der den Verdurstenden zu Hilfe eilte und die Taschen seines Mantels von den schweren Bierflaschen befreite.

      Und wieder leicht und beschwingt, in ausgetretenen Schuhen lang ausziehend, schritt Binggeli zum Verlag zurück. Man sah förmlich die Luft vor ihm zurückweichen. Es war, als ob sie sich vor ihm verneigte und mit leichter Hand die Schöße seines Mantels streifte, sie aufhob und wieder fallen ließ.

      August Binggeli war ein praktisch veranlagter Mensch. Der Unterstand für den Handwagen war mit einem Dach aus Kistendeckeln und Dachpappe gedeckt. Die Dachpappe hatte unter der Witterung schon ziemlich gelitten und war an den Rändern zerrissen. Binggelis geübtes Auge sah dies schon in den ersten Tagen. Da musste Abhilfe geschaffen werden. Die Dachpappe wurde weggerissen. August Binggeli ließ sich aus der Kasse zwanzig Franken auszahlen und versprach, anderntags zwei Quadratmeter neue Dachpappe zu liefern. Unterdessen gingen die letzten Spätsommergewitter über das Land, und langsam begannen die Metallteile des Leiterwagens eine rötliche Farbe anzunehmen. Der Baumeister, angeblich ein Bekannter Binggelis, der Dachpappe zu Freundschaftspreisen lieferte, war offenbar nie anzutreffen. Zuerst war er noch in den Ferien, dann gerade auf dem Bau, dann weiß ich wo! Nur Binggeli wusste es nicht.

      „Ja, entweder, Herr Renold“ belehrte mich Binggeli, als ich zum fünfundzwanzigsten Mal fragte, „entweder warten Sie, bis sich dieser verflixte Baumeister auftreiben lässt, unterdessen verrostet der Leiterwagen aber noch vollends, oder Sie geben mir noch einmal zwanzig Franken aus der Kasse, damit ich an einem anderen Ort Dachpappe zum Normalpreis beschaffen kann.

      Da die Achsen, Naben und Reifen des Leiterwagens bereits wie Feuer glühten, gab ich Binggeli nochmals zwanzig Franken. Überraschenderweise war an diesem Abend der befreundete Baumeister doch noch anzutreffen gewesen. Der Preis der Dachpappe aber war inzwischen so hoch angestiegen – und Quittungen waren unter Freunden selbstverständlich nicht üblich –, dass ich das bisschen Herausgeld mit gutem Gewissen großzügig dem eifrigen Förderer zweckdienlicher Baukunst als Trinkgeld überlassen konnte.

      Wie heißt es schon bei Schiller? „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.“

      August Binggeli war der schlagende Beweis für dieses Dichterwort.

      Nach den ausgezeichneten Erfahrungen mit dem neuen, regensicheren Dach ließ ich Binggeli auch an zwei Türschlösser heran, von denen er feststellte, dass sie nicht mehr richtig zuschnappten.

      Geradezu mit blindem Eifer montierte der versierte Amateurschlosser die beiden Schlösser ab. Schon nach wenigen Minuten lagen sie im Packraum auf einer ausgebreiteten Zeitung. Stolz präsentierte Binggeli sein Werk uns ließ uns einen Einblick in das Innere dieses sinnreichen Mechanismus tun. Oft sind es ja gerade die alltäglichsten und doch so außerordentlich nützlichen Dinge, deren ausgeklügelte Funktion uns Laien ein Leben lang verborgen bleit. Binggeli aber hatte die unschätzbare Gabe, uns das komplizierte Schloss auf die einfachste Weise zu erklären.

      Schon wenig später waren beide Schlösser in ihre Einzelteile zerlegt, abgeschmirgelt und in eine entrostende Flüssigkeit eingetaucht.

      Leider stellte sich heraus, dass beide Schlösser nicht mehr zu gebrauchen waren. Aber Binggeli war nicht verlegen. Einer seiner Freunde handelte mit Schlössern, zu Freundschaftspreisen versteht sich. Da aber auch dieser Freund entweder in den Ferien oder weiß der Himmel – nur Binggeli wusste es wieder nicht – wo anzutreffen war, fand Binggeli bald eine Notlösung. Durch die Löcher in der Tür zog er Schnüre und verschlaufte deren Enden. In die Türrahmen schlug er Nägel ein und befestigte daran die Schlaufen. Da der Sommer noch nicht ganz zu Ende war, waren wir für den Durchzug dankbar. Dass es verschiedene Schlösser gibt, je nachdem eine Tür nach links oder nach rechts aufgeht, wurde mir erst bewusst,