Schattenzeit. Sylvia Obergfell

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Название Schattenzeit
Автор произведения Sylvia Obergfell
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847652526



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diesmal wird es nicht gut gehen, die Zeiten sind zu düster!“

      Laya rutschte unruhig auf der Lehne umher. So hatte sie ihren Großvater noch nie reden hören, er hatte den Leuten immer Mut gemacht, hatte ihr immer versprochen, dass es anders werden würde.

      „Aber Großvater...“

      Der alte Mann hob die Hand und Laya verstummte.

      „Ich weiß, es wird nicht aufzuhalten sein, aber du musst dich vorsehen mein Kind. Du musst dich verstecken, lass dich nicht gefangen nehmen, sonst bist du verloren!“

      Laya starrte ihren Großvater an. Bisher war der alte Mann immer klar bei Verstand gewesen, konnte es sein, dass sein Verstand langsam nicht mehr funktionierte?

      „Großvater?“, fragte sie, „Was redest du denn da? Es wird nichts passieren!“

      Wieder starrte der Großvater eine Zeitlang vor sich hin, dann begann er ruhig und klar zu sprechen.

      „Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Hör mir gut zu, es ist eine wichtige Geschichte. Vor vielen Jahren, zu der Zeit als mein Großvater noch ein kleiner Junge war, gab es einen Mann namens Caleb. Er war ein Geschichtenschreiber und hatte viel über die Geschichte unseres Volkes aufgeschrieben. Aber zu dieser Zeit brach der Krieg aus und damit dem Feind keine Informationen in die Hände fielen, wurde beschlossen alle Bücher zu verbrennen, die irgendetwas über die Eronier verrieten. Alle waren damit einverstanden, nur Caleb nicht. „Wir können nicht unsere gesamte Geschichte auslöschen!“ rief er, aber die anderen wollten es nicht hören und versuchten, ihn dazu zu zwingen, seine Bücher herzugeben.“

      Der Großvater wurde von einem Hustenanfall unterbrochen und Laya fragte sich, was an dieser Geschichte so wichtig sein sollte, hörte aber weiterhin gespannt zu.

      „Caleb gelang es eines dieser Bücher zu verstecken, in dem fast die ganze Geschichte unseres Volkes niedergeschrieben war, aber bald wurde ihm die Sache zu gefährlich, denn die Stadträte ließen ihn ausspionieren. So flüchtete er eines Nachts mit dem Buch und reiste durch viele Länder, um einen Ort zu suchen, an dem er es sicher verwahren konnte.“

      „Hat er diesen Ort gefunden?“ wollte Laya wissen, aber ihr Großvater schüttelte den Kopf.

      „Man erzählt sich, dass er bis nach Seeburg gelangt ist, ein prächtiges Schloss auf dem die Herrscher des Seenlandes leben, aber sicher weiß es niemand.“

      Eine Weile war es still, dann fragte Laya: „Warum erzählst du mir diese Geschichte?“

      Ihr Großvater nahm ihre beiden Hände und sah sie fest an.

      „ Dieses Buch ist das letzte, in dem unsere Geschichte steht. Heute haben die Leute vergessen, dass es auch mal bessere Zeiten gab. Aber in diesem Buch steht alles! Das darfst du nie vergessen! Was auch passiert, denk immer daran, dass unser Volk eine Geschichte hat!“

      Laya wurde es etwas zu viel der Belehrungen, sie wollte auf andere Gedanken kommen.

      „Erzähl mir etwas über diese Seeburg!“ forderte sie, doch ihr Großvater schüttelte den Kopf.

      „Ein andermal. Lass mich ein wenig ausruhen und mach dir keine Sorgen. Alles wird gut werden.“

      Er schloss die Augen und Laya erhob sich, um nach unten zu gehen. Sie drängelte sich durch die Menschen, verließ die Wohnung und lief die Treppen hinunter. In der Küche war niemand mehr, nur der Topf der das Abendessen enthalten hatte, stand einsam auf dem Herd. Die Suppe war schon kalt, trotzdem nahm sich Laya einen Teller, denn in diesen Zeiten musste man jede Nahrung, die man kriegen konnte zu sich nehmen. Wahrscheinlich bekam sie einige Tage nichts Warmes mehr zu essen, da machte es nichts, wenn sie sich jetzt schon mal daran gewöhnte. Sie setzte sich an den Tisch und dachte über die Worte ihres Großvaters nach, während sie ihre Suppe löffelte. Vielleicht wurde er wirklich langsam etwas verrückt, aber hatte sie es nicht selber gespürt? Wenn man durch diese Stadt lief, konnte man es überall spüren: Die Menschen waren verzweifelt! Nach so vielen Jahren Krieg schien niemand auch nur einen Funken Hoffnung zu besitzen, das war es, was sie gespürt hatte, als sie durch die Straßen gegangen war. Laya hatte den letzten Löffel verschlungen, stellte den Teller zur Seite und ging hinüber zu ihrem Zimmer. Sie fand es schön so viel Platz und Ruhe zu haben, auch wenn sie wusste, dass es egoistisch war. Es würde für einige Zeit die letzte Nacht sein, die sie in ihrem Bett verbringen würde. Die Leute hatten sich daran gewöhnt mit dem Rhythmus der Angriffe zu leben. Sah man die wilden Kerle am Horizont auftauchen, wusste man, dass man noch einen Tag und eine Nacht Zeit hatte. Am darauffolgenden Tag wurden die Vorbereitungen getroffen und am Abend ging es dann hinunter in die Keller und Gewölbe unter der Stadt. Shaina war auch schon im Bett und las in einem Buch. Laya mochte keine Bücher, denn ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass darin ausschließlich von den Heldentaten der Soldaten berichtet wurde. Es gab auch verbotene Bücher, aber es war zu gefährlich sie zu lesen, außerdem war es sehr teuer sie zu bekommen. Laya hätte gerne das Buch gelesen, welches ihr Großvater in seiner Geschichte erwähnt hatte, denn schon immer hatte sie es interessiert, wie es in einer Zeit ohne Krieg zugegangen war.

      „Hallo“, begrüßte sie ihre Schwester, „Was liest du da?“

      Shaina sah nicht auf, gab keine Antwort und reagierte auch sonst nicht, wahrscheinlich hatte sie beschlossen ihre Schwester mit Nichtachtung zu strafen. Laya schlüpfte aus ihren Kleider, die wie immer staubig waren, wie alles in dieser Stadt und zog sich ein Baumwollhemd zum Schlafen über, dann bürstete sie ihre Haare, obwohl es nicht viel Sinn hatte und wusch sich mit Wasser aus einer Schüssel neben ihrem Bett, denn das Badezimmer war eigentlich im oberen Stockwerk. Unter der Decke war es kuschelig warm und sehr bequem. Laya blickte hinüber zu Shaina, die so tat, als würde sie sich voll auf ihr Buch konzentrieren, aber in Wirklichkeit genau beobachtete, was ihre Schwester tat.

      „Großvater hat mir eine interessante Geschichte erzählt, aber ich nehme nicht an, dass du sie hören willst.“

      Wieder kam keine Antwort von Shaina, sie schlug ihr Buch zu, löschte die Lampe und drehte sich zur Wand, um zu schlafen. Laya seufzte, legte sich auf den Rücken und blickte zur Decke. Durch das kleine Fenster fielen winzige Lichtpunkte von draußen herein und malten ein schönes Muster. Laya stellte sich vor, wie die Seeburg aussehen könnte, die ihr Großvater erwähnt hatte.

      „Ein prächtiges Schloss“, hatte er gesagt. Bestimmt war sie riesig, hatte vier große Türme und viele kleine Türmchen, außerdem gab es einen wundervollen Garten mit Blumen in allen Farben und großen alten Bäumen. Die Zimmer waren alle groß und mit den schönsten Möbeln eingerichtet, die Krönung war ein riesiger Saal mit langem Tisch und einer Tanzfläche, in dem tolle Feste gefeiert wurden, mit leckerem Essen, Musik und Tanz. Zu Füßen der Burg lag der See, der silbern glitzerte und außen herum gab es kleine Häuser, die nicht so eng nebeneinander gebaut waren, sondern weit voneinander entfernt. Laya fragte sich, ob ihr Großvater diese Seeburg schon einmal gesehen hatte, denn er hatte als junger Mann als Botschafter gearbeitet und war viel in andere Länder gereist. Ihre Mutter hatte immer böse behauptet, dass er das nur getan hatte, um nicht als Soldat in den Krieg ziehen zu müssen. Immer hatte ihr Großvater versucht seinen Sohn auch dafür zu begeistern, aber Layas Vater war wild entschlossen gewesen dem Treiben der wilden Kerle ein Ende zu setzten. Alles was von ihm wieder nach Hause kam, war sein Amulett, das er immer getragen hatte und das er, als er im Sterben lag, einem Kameraden mitgegeben hatte. Jetzt schmückte dieses Amulett den Hals seines ältesten Sohnes und Laya wartete jeden Tag darauf, dass es zurückkommen würde, ohne ihren Bruder.

      „Rache ist ein schlechtes Gefühl“, hatte ihr Großvater ihr immer gesagt, „Man zerstört nicht den, den man hasst, sondern sich selbst.“

      Auf der Seeburg gab es nach Layas Vorstellungen keinen Hass, sondern nur Freude und Liebe. Die Menschen dort waren fröhlich bunt angezogen und die Zimmer waren mit bunten Bildern und Tüchern geschmückt.

      „Einmal im Leben“, dachte sie, „Einmal im Leben möchte ich dorthin reisen und mir alles ansehen und dann möchte ich dort wohnen und nie mehr in meinem Leben Angst haben müssen.“

      Sogar ihrer Mutter würde es dort gefallen, sie würde wieder fröhlich