Schattenzeit. Sylvia Obergfell

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Название Schattenzeit
Автор произведения Sylvia Obergfell
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847652526



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die nicht mehr imstande war für ihre Kinder zu sorgen, seit sich ihr ältester Sohn sich entschlossen hatte in den Krieg zu ziehen und sie war trotzdem immer hübsch und voller Leben. Sie hatte eine zierliche Figur, lange schwarze Haare und die Männer der Stadt liefen ihr reihenweise hinterher, weshalb es ihr auch nicht schwer fiel immer an die besten Lebensmittel, Kleider und Schuhe zu gelangen. Laya war immer im Schatten ihrer Schwester gestanden, auch früher schon. Ihr Gesicht war weder zart noch schön, hatte buschige schwarze Brauen und eine kleine Stupsnase, ihr Haar war dunkelbraun bis schwarz und fiel wild um ihre Schultern, nie wäre ihm eingefallen so schön glatt und gewellt wie bei ihrer Schwester herunter zu wogen und ihre Figur war zu knochig. Aber das war nicht das Einzige, was sie von Shaina unterschied. Sie waren zwei gänzlich unterschiedliche Menschen. Shaina war immer der Liebling der Familie gewesen, schon als Kind war sie perfekt, hatte immer alles richtig gemacht, nie etwas angestellt, nie eine Regel gebrochen, während Laya dauernd in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte und ständig gegen die Autorität der Eltern rebellierte. Laya folgte ihrer Schwester hinüber zu einer weiteren Tür, die ins Erdgeschoss führte, im Obergeschoss wohnten schon längst andere Leute, Flüchtlinge, die Schreckliches hinter sich hatten. Sie betraten die große Wohnküche, in der ein Herd, ein großer Holztisch mit Stühlen, ein alter dunkler Schrank und ein abgenutztes Sofa standen. Ein flauschiger Teppich bedeckte den Boden, auf dem der kleine Per saß und mit ein paar Klötzen spielte. Shaina sagte nichts, sondern wandte sich dem Herd zu und rührte in einem Topf, aber Laya kannte den stummen Vorwurf in ihrem Blick: Warum bist du nicht hier, um mir zu helfen? Sie gab ihrem zweijährigen Bruder einen Kuss, setzte sich auf einen der Stühle und sah ihrer Schwester eine Weile zu.

      „Es werden immer mehr Menschen, die draußen auf der Straße leben müssen.“

      Laya hatte diese Bemerkung eigentlich nur so dahin gesagt, aber Shaina fuhr herum und fühlte sich sofort angegriffen.

      „Unsere Mutter braucht Ruhe und keine Horde Menschen, die hier alles durcheinander bringt!“

      Sie hatte durch ihre vielen Beziehungen dafür gesorgt, dass in ihrem Haus nur der obere Stock mit Flüchtlingen besetzt wurde.

      „Sie ist nicht die Einzige, die Schreckliches erlebt hat! Überhaupt hat sie noch gar nichts richtig Schreckliches erlebt!“ Kaum ausgesprochen taten Laya ihre Worte schon wieder leid. Sie schaffte es einfach nicht, sich mit ihrer Schwester zu unterhalten, ohne einen Streit anzufangen. Shainas Augen funkelten vor Zorn, aber sie ließ sich nicht dazu hinreißen zu schreien oder auszurasten, sondern sie sagte ganz ruhig:

      „Deine Mutter hat ihren Mann verloren und sie weiß nicht wo ihr Sohn ist, also nimm etwas Rücksicht.“ Sie drehte sich wieder zum Herd um und Laya erhob sich, um den Raum zu verlassen, denn länger hielt sie es hier nicht aus. Die Wohnküche führte zu einem schmalen Gang, von dem aus man das Zimmer ihrer Mutter, das Zimmer ihrer Geschwister und das Zimmer, das sie sich mit Shaina teilte, erreichen konnte. Sie öffnete die Tür zum Zimmer ihrer Mutter, das sehr klein war und nur ein winziges Fenster besaß, bei dem auch noch die Vorhänge zugezogen waren. Es gab ein Bett, einen Schrank und einen Sessel, in dem ihre Mutter saß, zugedeckt mit einer Wolldecke. Tagein, tagaus saß sie da und starrte vor sich hin, ihr Gesicht war eingefallen, die Haut welk und im Haar zeigten sich die ersten grauen Strähnen. Sie sah nicht aus wie eine Frau Ende vierzig.

      „Hallo, Mama.“ Laya gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich nebenan auf das Bett. Ihre Mutter regte sich nicht, die Stille lastete schwer und Laya hatte wie immer, wenn sie zuhause war, das Gefühl zu ersticken.

      „Es ist sehr viel los draußen, so viele Leute habe ich noch nie gesehen. Und auf dem Turm war ich oben und habe aus der Stadt gesehen. Ich weiß, du und Shaina ihr seid dagegen, dass ich dort hinauf gehe, aber es ist der einzige Ort, an dem man etwas Ruhe haben kann.“

      Immer noch blieben das Gesicht und der Körper ihrer Mutter regungslos und Laya hätte gerne geschrien, ihre Mutter angebrüllt, sie solle etwas sagen, aber ihr Mund wollte nicht und sie fühlte sich leer und hilflos.

      „Die wilden Kerle sind da, ich habe sie gesehen. Es wird nicht lange dauern und sie werden angreifen!“ Laya wusste, dass ihre Schwester ihr streng verboten hatte, über dieses Thema zu ihrer Mutter zu sprechen, aber es waren die einzigen Worte, die eine Reaktion auslösen konnten. Ein Zittern lief durch den Körper ihrer Mutter und ihr blasses Gesicht wurde noch fahler. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber wieder und rang plötzlich nach Atem. Sie begann zu wimmern und plötzlich stand Shaina im Zimmer. Sie hielt einen Teller mit dampfender Suppe in der Hand, sah aber sofort, was passiert war und stellte ihn achtlos zur Seite. Mit zwei Schritten war sie bei ihrer Mutter, nahm ihre Hände und redete beruhigend auf sie ein, aber ihre Mutter wollte sich nicht so schnell beruhigen. Sie umklammerte Shainas Handgelenke und murmelte unverständliche Wörter vor sich hin, dann begann auf einmal ihr Körper zu zucken, sie riss ihre Augen weit auf und fiel dann gänzlich in sich zusammen. Shaina streichelte ihren Arm und ihre Wangen und allmählich kehrte ihre Mutter wieder in den alten Zustand zurück. Laya saß atemlos da und war unfähig sich zu rühren. Der Blick, den ihre Schwester ihr zuwarf, löste sofort heftige Schuldgefühle bei ihr aus. Was hatte sie da bloß getan. Ihre Schwester war nicht diejenige, die schrie oder schimpfte oder gewalttätig wurde, aber sie brauchte Laya nur anzusehen und schon fühlte sich diese, wie der schlechteste Mensch auf der Welt. Laya hielt es nicht länger aus, sie sprang ruckartig auf und flüchtete nach draußen. Sie stürmte durch die Wohnküche und hielt erst im Vorraum inne. Sie überlegte einen Augenblick, dann stieg sie die Treppe in den oberen Stock hinauf, denn hinaus in diese überfüllte Stadt wollte sie auf keinen Fall und für den Turm war es jetzt zu spät, außerdem konnte sie dort oben mit dem Menschen reden, der ihr am meisten bedeutete. Laute Stimmen drangen aus den einzelnen Zimmern, die Leute saßen überall, sogar im Gang, schliefen, spielten oder unterhielten sich. In der provisorischen Küche versuchten einige Frauen etwas zu kochen, es stank fürchterlich, denn sie besaßen nur einen alten Holzofen. Die allgemeine Aufgeregtheit war auch hier zu spüren, ohne Zweifel hatte sich die Nachricht von der Ankunft der wilden Kerle wie ein Lauffeuer verbreitet. Laya drängte sich rücksichtslos durch die vielen Menschen, trat dabei auf Füße, Beine, Hände und Arme und erreichte schließlich das letzte Zimmer, in dem es ein klein wenig ruhiger zuging. Es war ein kleiner Raum mit einer Fensternische. Es gab zwei Betten, auf dem Boden waren zudem Matten und Decken ausgelegt und ganz hinten stand ein alter Sessel, in dem ein noch älterer Mann mit schlohweißen Haaren, verrunzeltem Gesicht und gebücktem Rücken saß. Trotz seines Alters waren seine Augen wach und lebhaft und sein Geist ungebrochen. Laya musste lächeln, als sie ihren Großvater sah und mit zwei großen Schritten war sie bei ihm. Shaina hatte hunderte Male versucht ihren Großvater zu überreden nach unten zu ziehen, damit er seine Ruhe hatte, aber er hatte immer abgelehnt.

      „Er ist genau so stur wie du!“ pflegte ihre Schwester immer zu sagen.

      Laya und ihr Großvater waren seelenverwandte, da war sie sich ganz sicher, denn er war der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete. Er wusste immer einen Rat, konnte gut zuhören und erzählte die spannendsten Geschichten, denn er war als junger Mann viel durch die Welt gereist.

      „Du bist genau wie dein Großvater!“ hatte ihre Mutter ihr früher immer vorgeworfen.

      Laya stand nun direkt vor dem Sessel und begrüßte ihn. Der alte Mann nahm ihre Hand und tätschelte sie.

      „Mein Mädchen, komm setzt dich zu mir!“

      Laya machte es sich auf der breiten Armlehne bequem. Ihr Großvater sah sie forschend an und wusste sogleich, dass etwas passiert war.

      „Ihr habt euch wieder gestritten!“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, aber Laya nickte trotzdem und seufzte.

      „Ich glaube Shaina und ich passen einfach nicht zusammen und mit Mutter wird es immer schlimmer. Ich habe eine solche Wut auf sie, ich möchte sie anschreien und schütteln, dabei sollte ich mich um sie kümmern und nett zu ihr sein.“

      Ihr Großvater sah eine Weile zwei Kindern zu, die versuchten sich aus Decken und Stühlen eine Höhle zu bauen.

      „Die Zeiten sind schwer. Es geht nicht nur dir so. Ich glaube wir alle möchten gern schreien und irgendjemanden schütteln.“