Название | Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde |
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Автор произведения | Harald Hartmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742775450 |
In dieser Situation, da die Macht anklopfte, erhob sich in der Tafelrunde ein bisher im Bundestag wenig auffällig gewesener Abgeordneter, der gerne manchmal abfällig als Hinterbänkler bezeichnet worden war, und öffnete ihr so selbstverständlich, als wäre er mit ihr schon lange vertraut. Er sprach. Alle klatschten. Er bedankte sich und verbeugte sich, so wie es Mächtige tun. Er war der Auserwählte der Macht, er war ihr Körper, denn die Macht duldete kein Vakuum in ihrer Nähe.
So etwas hätte ihm gestern natürlich keiner erzählen können, ohne dass er ihn dafür ausgelacht hätte. Noch heute Morgen hatte er einem ruhigen Tag mit intensivem Zeitungsstudium bei schwarzem Kaffee und einer leichten Havanna entgegen gesehen, und nun fand er sich wieder im Zentrum der politischen Entscheidungen und spürte eine sich in ihm aufrichtende, nie in dieser Intensität erlebte Kraft, die sich vor nichts fürchtete. Auf seinen Vorschlag hin, der mehr einer Anweisung glich, entschied man sich, unverzüglich die Bundeswehr in Marsch zu setzen mit dem Auftrag, Berlin zu evakuieren.
Das war, wie sich herausstellte, leichter gesagt als getan. Zum einen herrschte durch die Abwesenheit des Verteidigungsministers, Unklarheit, um nicht zu sagen Irritation, über die nun bestehenden Befehlsstrukturen in der Truppe. Die Fäden, die sonst beim Minister zusammenliefen, endeten frei schwebend in einer Art luftleeren Raums und waren in Gefahr, sich zu einem schwer zu entwirrenden Knäuel zu verknoten. Zum anderen war die Bundeswehr von der Plötzlichkeit des Einsatzbefehls überrascht, weil sich bis dahin auch nicht das kleinste Wölkchen am Himmel gezeigt hatte, das auf einen Sturm hingedeutet hätte. Sie wurde, wie es so schön heißt, auf dem falschen Fuß erwischt. Dass sie in tiefster Ruhe still wie ein Kind in seinem Bett schlummerte, war aller Ehren wert. Zeigte es doch ihren defensiven und somit friedlichen Charakter, was die übrige Welt als ein positives Signal sehen und sie beruhigen sollte. Was einen äußeren Feind betraf, hatte die Bundeswehr mit ihrer Einstellung absolut recht. Dass sich aber tatsächlich auch Katastrophen, die theoretisch ihren Einsatz erforderten, durch Dummheit, Inkompetenz, Ignoranz, Ungeduld oder Gleichgültigkeit im Land selber entwickeln konnten, überraschte sie in ihrer so leidenschaftlich friedfertigen Praxis.
Ein ansehnlicher Teil des Personals war in Urlaub oder in Therapie, was man grundsätzlich begrüßen sollte und zeigte, dass die Bundeswehr, was Politiker so oft gefordert hatten, tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen war. Nicht wenige befanden sich auf den Krankenstationen, und der Rest hatte gerade Mittagspause. Es war also alles in bester Ordnung, ein Idealzustand, der immer angestrebt wurde, und nun musste man erleben, wie diese so mühsam aufgebaute Ordnung wieder durcheinandergebracht wurde. Was das Material anbetraf, das nun schnellstmöglich für die Evakuierung zum Einsatz kommen musste, also hauptsächlich Busse und Lastwagen, war vieles reparaturbedürftig und somit nicht gleich einsatzfähig. Wegen Geldmangels ging es mit der Ersatzteilbeschaffung nur schleppend, was unter normalen Umständen kein Problem war, aber jetzt plötzlich jeden künstlich aufregte von der Generalität bis ins Verteidigungsministerium. Da jedoch der Minister nicht da war, um die Verantwortung von sich auf andere abzuschieben, entspannte sich bald die Atmosphäre. Ganz pragmatisch beschloss man zu schicken, was möglich war, und so rückten die einsatzfähigen Teile der Bundeswehr von allen Seiten auf die Hauptstadt vor.
Unter den Soldaten war man, trotz der wiederholten Beteuerung, dass es sich um einen Ernstfall handelte, der Meinung, es sei ein als Ernstfall getarntes, groß angelegtes Manöver, das von langer Hand vorbereitet war und in das auch die zivile Öffentlichkeit durch die gezielte Verbreitung von Falschmeldungen mit einbezogen wurde, und die auf diese Weise in der augenblicklichen Zeit des Wahlkampfs durch eigenes Erleben erfahren durfte, wie sehr die Regierung sich um ihre Sicherheit kümmerte.
Aufgrund dieser Annahme ging der Abmarsch in gewohnt menschenfreundlicher Betulichkeit vor sich, weil man auf keinen Fall durch zu viel Schnelligkeit schlafende Hunde wecken wollte. Dieser Absicht war dann auch auf ganzer Linie Erfolg beschieden. Die Hunde konnten weiter schlafen. Eine solche Truppe, die sich nicht verunsichern ließ, ruhig, besonnen und eigenverantwortlich handelte, konnte nur das Ziel aller demokratischen Staaten sein. Das war die wahre Schule der Nation, die von den Regierungen so gerne beschworen wurde und die sich hier in geradezu vorbildlicher Weise verwirklicht hatte.
Doch im Verlauf ihres Einsatzes kamen in der Truppe immer größere Zweifel auf, ob es sich wirklich nur um ein Manöver handelte. Echt waren die blockierten Straßen, die von der Hauptstadt wegführten und ein Vorwärtskommen nur im Schneckentempo ermöglichten. Echt waren die hektischen Vorratseinkäufe von Lebensmitteln überall und damit auch die leeren Regale in den Supermärkten, eine Leere, die Furcht auslöste und als Indiz einer existenziellen und kurz bevor stehenden Gefahr gedeutet wurde. Echt waren auch die Menschenschlangen vor den Banken, deren Bargeldvorräte bald erschöpft waren und so ein schnell wachsendes Zornpotential in der Bevölkerung erzeugten, was als wahlkampftaktische Maßnahme ein völlig untaugliches Mittel gewesen wäre. Die Menschen dieses Landes verschmolzen unter diesen Voraussetzungen unbewusst mehr und mehr zu einem gemeinsamen Organismus. Es war, als erwachte ein bisher friedlich schlafender und träumender Riese, der durch unsanftes Wecken in eine ausgesprochen schlechte Laune geraten war, und der sich mürrisch umblickte, sich zu orientieren versuchte und schließlich seine Hilflosigkeit erkannte, weil er nicht wusste, wo er sich eigentlich befand.
Das alles registrierten die tapferen Soldaten der Truppe mit Hilfe ihres gesunden Menschenverstandes und analysierten aus ihren Beobachtungen die Existenz ernster Alarmzeichen, was sie an ihrer bisherigen Einschätzung der Lage berechtigt zweifeln ließ. Denn auch sich hilflos fühlende Riesen verfügten doch weiterhin über Riesenkräfte, die sie ungelenkt durch die Vernunft und gereizt durch ihren Zorn in massive zerstörerische Energien umsetzen konnten.
Dank des Fleißes der allgegenwärtigen Medien, die die Welt unermüdlich nach wirtschaftlich verwertbaren Nachrichten abtasteten, um sie geschickt aufbereitet und verpackt zu verkaufen, blieben solche Vorgänge nicht auf einen Ort beschränkt. Schnell breiteten sich die Meldungen über mehr und mehr und sich überall ereignende bedrohliche Vorgänge aus, unaufhaltbar durch jedwede irdischen Kräfte in ihrer libidonösen Entfesselung. Handelte es sich gar, wie heute, um die raren, alles durchbrechenden Nachrichten wurde sogar die ganze Welt in kürzester Zeit wie von einer Epidemie erfasst, in Lichtgeschwindigkeit sozusagen. Moderne Medien waren die einzige Macht, die es schaffen konnte, die Welt ohne traditionelle Waffen, ohne explosive Hardware, zu beherrschen.
Natürlich wollten sie das von Natur aus fragile Reich, das sich auf der Basis einer Nachricht gründete und das immer dem Zustand einer schwebenden Seifenblase glich, möglichst lange am Leben erhalten und wachten eifersüchtig über ihre Macht. Doch letzten Endes war nicht die Dauerhaftigkeit einer Seifenblase ihre Absicht und nicht die eigentliche Technik, an der sie arbeiteten. Es ging vielmehr um eine Erzielung von Langfristigkeit durch Wiederholbarkeit, um den Eindruck von Stabilität durch die ständige Erzeugung von unablässig aufeinander folgenden neuen Seifenblasen. Es war der immerwährende Aufbau kurzlebiger neuer Reiche durch den unaufhörlichen Strom an Neuigkeiten, ob wirklich wahr, nur behauptet oder Ressourcen schonend recycelt, spielte keine Rolle, die einen wärmenden Mantel von fürsorglicher Medienmacht über die Menschen ausbreiteten.
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Im geheimen bayerischen Atombunker ahnte man nichts von den dramatischen Vorgängen draußen. Immerhin hatte man inzwischen etwas zu essen gefunden. Es gab reichlich Konserven mit wohlklingenden Inhaltsbeschreibungen, doch handelte es sich durchweg um schwere Nahrung, die natürlich in erster Linie den Hunger in einer solchen Situation stillen sollte, um das Tier im Menschen zu beruhigen. Der Finanzminister und der Wirtschaftsminister erklärten sich bereit, gemeinsam, einen großen Eintopf zu kochen, was ein durchaus beachtenswerter Vorgang war und auf allgemeine Zustimmung stieß. Auch der iranische Präsident war froh, dass es etwas zu essen gab.
Das ursprünglich geplante Staatsbankett hatte die Form einer Feldküche angenommen. Es gab Bohnensuppe. Das machte ihm aber, vom kulinarischen Standpunkt