Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde. Harald Hartmann

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Название Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde
Автор произведения Harald Hartmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742775450



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harten Trainings dazu in der Lage waren, jede Lage, auch diese Lage, schneller als jeder andere zu erfassen, zu beurteilen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, packten den schreckensbleichen, gerade eingetroffenen ausländischen Präsidenten am Kragen und den Beinen und warfen ihn, in einem Akt beschützender Fürsorge, noch soeben in den abhebenden Kanzlerhubschrauber, dessen Tür schon dabei war, sich zu schließen. Ihr ausgeprägter Sinn für Sicherheit hatte Priorität vor allen langwierigen Diskussionen, denn der sicherste Platz war der geheime Atombunker in Bayern, zu dem der Hubschrauber unterwegs war.

      Der Kanzler sah das auch so und begrüßte den Staatsgast förmlich, nachdem der wieder auf den Füßen stand und bot ihm einen Sitzplatz an. Auf dem Flug telefonierte dieser wieder mit seiner Botschaft und erzählte weiter, nicht wissend dass es sich um ein Unglück handelte, von dem Anschlag auf ihn. Die deutschen Regierungsmitglieder im Hubschrauber, die bereits wussten, dass es kein Anschlag sondern ein Unfall gewesen war, und sie alle womöglich radioaktiv verseucht waren, verstanden nicht die Sprache des ausländischen Präsidenten, und welche Darstellung er gab. In der Aufregung war kein Dolmetscher mit in den Hubschrauber gelangt, und der Präsident gab vor, auch keine andere Sprache zu sprechen als seine eigene. Was die deutschen Politiker aber nicht wussten, genau so wie der Staatsgast, war, dass dieser wegen des todbringenden Klumpens in seiner Limousine nun selbst verstrahlt war und auf diese Weise seine Umgebung weiter verstrahlte.

      Endlich erreichten sie den geheimen Atombunker und fühlten sich erst einmal gerettet in diesem nach allen Künsten der Technik von der Außenwelt isolierten Gebäude, bei dessen Bau man aus Sicherheitsgründen mit einer Sache überhaupt nicht gespart hatte, mit Geld. Doch nach kurzer Zeit stellte sich überraschenderweise heraus, dass trotz des vielen Geldes ein ärgerlicher, unerklärlicher technischer Defekt eingetreten war und sie deshalb von der Außenwelt noch mehr abgeschnitten waren, als sie eigentlich wollten. Weder konnten sie den Bunker verlassen, noch konnten sie in irgendeiner Form mit jemandem von außerhalb kommunizieren. Außerdem stimmte es mit der Sauerstoffversorgung nicht, so dass nicht klar war, ob der Sauerstoff knapp werden würde. Belastend war dieser Umstand auch deswegen, weil es nur wenig Hoffnung gab, das Problem lösen zu können, weil keine Techniker mit im Bunker waren sondern nur Politiker. Jetzt erwies sich die sich seit langem von ihnen selbst geübte Praxis, Spitzenpolitiker fast nur aus der Kaste der Beamten und Juristen zu rekrutieren, als verhängnisvoll. Menschen ohne Bezug zum praktischen Leben mit zwei linken Händen standen in diesem Bunker einer Technik hilflos gegenüber, deren Entwicklung sie selbst durch ihre Entscheidungen maßgeblich voran getrieben hatten. Der Geist war aus der Flasche und sie saßen drin. So war es überhaupt nicht gedacht. Aber wenn man genauer hinsah, stellte man fest, dass dieser Zustand der Isolation von ihrem Volk gar nicht ein so ungewöhnlicher war, vielleicht sogar eher der Normalfall. Warum sich also aufregen, hätten sie nun sagen können. Doch das wäre der Situation nicht gerecht geworden. Denn es fehlte ihnen im Gegensatz zu sonst die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen mit dem Volk. Nicht, dass sie unbedingt so etwas tun wollten, doch wären sie trotzdem gerne im Besitz der Möglichkeit gewesen, es jederzeit nach Gutdünken tun zu können. Zudem waren sie sehr an die Anwesenheit des Volks gewöhnt und sie spürten mit Unbehagen sein Fehlen, so wie ein altes Ehepaar, das schon lange nur noch nebeneinander her lebte, sich nichts mehr zu sagen hatte und nur noch aus Angst vor der singulären Einsamkeit in einsamer Zweisamkeit lebte, was möglicherweise aber die schlechtere Variante darstellte.

      Es war also nicht nur aus diesen Überlegungen heraus kein Wunder, dass sich trotz des geballt versammelten Expertenwissens im Bereich Krisenmanagement Nervosität im Inneren des Bunkers breit machte. Aber es hätte sich nicht um erfahrene Politiker gehandelt, wären sie nicht in der Lage gewesen, diese Situation als Chance zu begreifen, wenn schon nicht der Welt so doch wenigstens sich selbst zu beweisen, der Herausforderung gewachsen zu sein und die aufkommende Nervosität in den Griff zu bekommen. Man beschloss einstimmig, denn auch der ausländische Staatsgast war plötzlich dazu in der Lage, sich auf englisch zu äußern, und zwar akzentfrei, zunächst einmal etwas zu essen und zu trinken, um zur Ruhe zu kommen. Also teilte man sich in mehrere kleine Gruppen auf und suchte nach Vorräten.

      3

      In der Außenwelt hatte sich dank der sehr tüchtigen Medien, für die solche Ereignisse natürlich ein gefundenes Fressen waren, eine erste Welle der Verunsicherung breit gemacht, der aber bald durch die unaufhörliche Berichterstattung des Immerselben, welches, weil man nichts Genaues wusste, zur Dekoration mit wilden Spekulationen delikat angereichert wurde, eine zweite Welle, eine Welle der Katastrophenstimmung, nachfolgte. Das Volk oder sollte man besser sagen der Volkskörper begriff, dass er für den Moment kopflos war. Der Umstand, das eine Erkenntnis in diesem Zustand der Befreitheit von der Macht des Kopfes möglich war, bewies jedoch zum Glück, dass der Kopf und damit das Gehirn nicht das einzige Organ des Begreifens war, was jeden grundsätzlich beruhigen sollte. Denn für die Übergangszeit, bis unsere menschliche Natur es geschafft hatte, im Falle eines Kopfverlustes einen neuen Kopf aus unserer Mitte sprießen zu lassen, dem wir endlich wieder unser Schicksal glaubten anvertrauen zu können, waren wir nicht hilflos sondern durchaus handlungsfähig. Trotzdem ließen wir meistens in einer solchen Situation das Aufkommen einer Angst oder sogar Panik zu, weil wir nicht an unsere intuitiven Stärken glaubten. Wie man so schön in der Sprache der Ökonomen sagen könnte, waren wir wesentlich breiter aufgestellt, als wir dachten. Aber wir hatten Angst, es zu glauben. Es war so, als wenn man auf einem Brett von einem Meter Breite balancieren sollte. Lag es auf dem Boden, konnte man sehr leicht auf ihm lustwandeln. Lag es dagegen in einer Höhe von drei Metern, verlor man schnell den Glauben an seine eigenen Fähigkeiten und hatte es mit einer Glaubensreduktion von mindestens 90% zu tun.

      Also breitete sich folgerichtig auch nicht der Glaube an das baldige Wachsen eines neuen Kopfs aus, sondern, erst zwar noch unterschwellig brodelnd aber dann doch plötzlich exponentiell aufsteigend, eine Panik in der Bevölkerung. Nicht nur der Unfall und die sich schnell ausbreitende radioaktive Verseuchung waren daran Schuld, sondern auch die undiplomatisch harten Reaktionen der iranischen Regierung, die nicht an einen Unfall sondern an eine Verschwörung und ein Attentat glaubte. Sie drohte mit harten Konsequenzen, sollte ihr Präsident nicht umgehend wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Man würde sich andernfalls, wie sie sich ausdrückten, dazu gezwungen sehen, eine der neuen Langstreckenraketen probeweise auf ein Ziel in Deutschland abzufeuern, um der Forderung den nötigen Druck zu verleihen. Es wäre in Anbetracht der Schwere der geschehenen Aggression eine völlig gerechtfertigte Maßnahme. Die Reichweite würde reichen, und zwar bis in den Süden Deutschlands und da wollte man, um ernst genommen zu werden, ein kulturelles Ziel von hohem Stellenwert angreifen. Schloss Neuschwanstein würde nach einer verstrichenen Frist von 12 Stunden zerstört werden. Mit welcher Art von Sprengladung ließ die Drohung offen, schloss aber atomare Mittel nicht aus, weil sie sie, vielsagend verdächtig, in ihrer Mitteilung nicht einmal mit dem kleinsten Wort oder Hinweis erwähnten und so die Tür zu einem neuen, und außerdem gut vermarktbaren Universum der Spekulationen aufstießen.

      Die verbliebenen Politiker aus der zweiten und dritten Reihe hatten sich mit der Flugbereitschaft in eine Filiale des Verteidigungsministeriums nach Bonn geflüchtet. In diesem Moment waren sie sehr froh darüber, dass sie noch nicht alles nach Berlin verlegt hatten. Manchmal hatten lang andauernde Diskussionen mit einem darauf folgenden unendlichen Beratungsbedarf auch ihr Gutes. In Abwesenheit der Leitwölfe war es natürlich ihre Aufgabe, sich um eine kompetente Krisendiplomatie zu bemühen. Aber sie scheiterten auf ganzer Linie an einem reinen Statusproblem, weil die andere Seite, die in diesem Fall die iranische war, nicht mit der zweiten Garnitur sprechen wollte und alles nur für einen Trick hielt, um sie hinzuhalten. In der Filiale zerbrach man sich den Kopf, warum Schloss Neuschwanstein zerstört werden sollte und nicht eine Stadt oder etwas Militärisches, weil man krampfhaft nach einem Schlüssel suchte, doch noch in Verhandlungen einzutreten.

      Wenn sie allerdings den Grund für das Angriffsziel gekannt hätte, wäre ihnen diese Vorgehensweise von einem persönlichen Standpunkt aus gesehen, verständlich vorgekommen, weil sie sie an eigene, tief sitzende Aktionsreflexe, wie sie jeder Mensch hatte, erinnert hätte. Was sich in dieser Form gesagt vielleicht schwierig anhörte, war aber eigentlich ganz leicht zu verstehen, wenn man die Geschichte des iranischen Verteidigungsministers kannte. Es war eine schlimme Geschichte.