Gegen den Koloss. Achim Balters

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Название Gegen den Koloss
Автор произведения Achim Balters
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742752642



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      «Müsste. Aber nicht machbar. Dafür ist die altbewährte Koalition von Wirtschaft und Politik zu stark.»

      «Ist eine Schweinerei», sagt Richard, sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn wischend.

      «Ist es.»

      «Ich bekomme es einfach nicht aus dem Kopf. Schon ein Wiederholungszwang.»

      «Wiederholungszwang? Na ja, nenn’s besser Bewältigungsversuch», sagt Martin. Er blickt zu Richard, der jetzt mit gesenktem Kopf und offenem Mund läuft, schwer zu atmen beginnt. «Angesichts der Tatsachen ein ganz normales Verhalten in einer anormalen Situation. Rede dir jetzt keinen Wiederholungszwang ein. Du bist doch schon ziemlich gelassen.»

      «Aber noch nicht gelassen genug. Ich muss es besser ausblenden», sagt Richard.

      «Nicht so einfach», meint Martin.

      «Ach, lass uns lieber nicht mehr darüber reden», sagt Richard. «Sonst verkrampfe ich noch.»

      «Entspann dich und genieße es, hier zu laufen«, sagt Martin. Er zieht die Luft hörbar tief durch die Nase ein. «Wie der Wald nach dem Regen duftet! Köstlich, mein Lieblingsparfüm.»

      Richard merkt, dass ihn heute Nachmittag das Laufen mehr anstrengt als sonst. Er wundert sich, er müsste doch besser in Form sein. Nach diesem schönen Wochenende mit Birgit. Der Braunkohlenterror scheint doch mehr an ihm zu zehren, als ihm lieb ist. Zu oft muss er daran denken. Als wären es geistige Widerhaken, von denen er sich nicht befreien kann.

      Sie überholen ein junges Paar, das sich Händchen haltend auf dem zwischen Buchen verlaufenden Waldweg einer Bank nähert. Ein Eichelhäher stößt Warnrufe aus. Sonnenstrahlen werden vom dichten Laubwerk abgeschirmt, sie gelangen, sich zerstreuend, nur bis zu den Baumkronen, zwischen denen Flecken mit blauem Himmel zu sehen sind. Wenige Meter vom Weg entfernt wächst roter Fingerhut, der in einem langen, schmalen Streifen hinter Farnen hochragt. Dieses Waldstück hat für Richard etwas Märchenhaftes. Wie aus einem Bilderbuch. Er sieht so lange dorthin, wie es in seinem Blickfeld bleibt. Er atmet die würzige, noch regenfeuchte Luft tief ein. Ein belebender Naturduft, aber sicherlich nicht sein Lieblingsparfüm. Das verströmt jetzt Birgit. Wenn sie nackt ist, duftet sie betörend, vor allem im Schulter-Nacken-Bereich. Morgen wird er wieder bei ihr sein. Gut, dass er sie hat. Und Martin.

      Richard überspringt eine Pfütze mit breitmatschigen Rändern. Er sieht zu Martin, der noch erstaunlich leichtfüßig neben ihm läuft und ganz entspannt aussieht. Sein Hemd klebt schweißnass an seinem Körper, dessen übergewichtige Rundungen sich jetzt stärker abzeichnen. Er isst zu gern. Sein größtes Problem sind seine überflüssigen Pfunde, gegen die er bislang wenig erfolgreich mit Sport anzukämpfen versucht. Zwei bis dreimal pro Woche joggen sie beide durch den Aachener Stadtwald. Das ist für ihn sinnvoller als jede Diät, die er nur als Folter empfinden und schon nach wenigen Tagen abbrechen würde. Auch wenn er es nicht schafft, abzunehmen, nur kurzfristig Pfunde verliert, verbrennt er beim Joggen so viele Kalorien, dass er, wie er meint, sein Gewicht recht gut in Schach hält.

      Seit ihrer Schulzeit sind sie miteinander befreundet. Beinahe wäre Martin auch Richards Schwager geworden. Seine sieben Jahre jüngere, ihm in vielem ähnliche Schwester und Richard hatten sich ineinander verliebt und in ihrem Gefühlstaumel eingebildet, füreinander geschaffen zu sein. Sie hatten sich schon darin verrannt, das mit einer Heirat zu besiegeln. Ein explosiver Streit jedoch, der sich erst an ihren unterschiedlichen Vorstellungen zur Familienplanung entzündete, dann starke Zweifel aufflammen ließ, Illusionen zerstörte, beendete alle Hochzeitsvorbereitungen und ihre Liebesepisode.

      Martin bedauert es noch immer, meint, dass alles hätte ganz anders kommen können, wenn sie damals nicht ebenso stolz wie töricht gewesen wären, sich nicht wie zwei Sensibelchen verhalten hätten, die sich narzisstisch gekränkt fühlten. Für Richard jedoch war es die plötzliche Einsicht in trennende Gegensätze, die ihren Bruch verursachte. Es war eine überhitzte Liebesillusion, die nach acht Monaten erkaltete. Richard hat Gundula, die seit neun Jahren mit Mann und zwei Kindern in Hamburg lebt, ins Archiv der Erinnerung eingeordnet. Für Martin ist seine Schwester noch immer ein Problem, das ihm zu schaffen macht. Ihre frühere innige Beziehung ist stark abgekühlt, was er als großen Verlust empfindet und als willkürliche Abgrenzungsmaßnahme von ihr zu erklären versucht.

      Von Lebenserfahrungen ernüchtert, hat sich Martin im Laufe der Zeit eine seelische Schutzschicht zugelegt, die eine variable Mischung aus Gleichgültigkeit und Zynismus ist. Damit fühlt er sich gegen die, wie er es nennt, tief verwurzelte Verkommenheit der menschlichen Gesellschaft besser gewappnet als früher. Martin war ziemlich lange ein zeitkritischer Heißsporn, der sich bis zur geistigen Erschöpfung für eine bessere Gesellschaft einsetzte. Als Journalist provozierte er, eckte an, ärgerte die Heuchler. Es war für ihn eine Jagd, bei der er die Gemeinheit zur Strecke bringen wollte. Er schonte sich dabei nicht, ging bis an die Grenzen tolerierter Meinungsfreiheit, nahm finanzielle Einbußen in Kauf. Doch schließlich merkte er, dass er sich mit wenig Erfolg verausgabte. Zu oft musste er seine Ohnmacht eingestehen, mit seinen Artikeln änderte er nichts. Er kam sich töricht vor, wie jemand, der mit Fäusten gegen massive Mauern schlägt. Er änderte seine Einstellung, wurde gleichgültiger, schaffte es nach mehreren Rückschlägen, sich ein inneres Gleichgewicht anzueignen, das er sorgsam pflegt. Er verspürt keine Resignation, die ihn bedrückt, sondern ihm hilft eine große Dosis Gleichgültigkeit, die er sich als Stärkungsmittel verordnet hat. Seine Abwehrkräfte gegen Zeitkrankheiten schützen ihn mittlerweile so gut, dass er davon nicht mehr infiziert werden kann. Eine Immunisierung für ihn. Er hat es sich jetzt im Leben recht bequem gemacht. Während er früher politischen Murks so nah an sich herankommen ließ, dass er davon bestimmt wurde, hat er heute dazu einen großen Abstand gewonnen. Als würde er alles nur noch durch ein umgedrehtes Fernglas betrachten. Seine frühere Engagiertheit wertet er als eine Art geistiges Laster, das er durch strenge Selbstdisziplin glücklicherweise überwunden hat. Ausgerüstet mit einem scharfen Verstand, würzt er seine Sätze gern mit beißendem Spott. Er arbeitet noch immer als Journalist, weil er, wie er sagt, nichts besser kann. An die Macht des Wortes glaubt er nicht mehr. Worte sind für ihn jetzt nur noch stumpfe Waffen. Trotzdem schreibt er weiter, um sich einzumischen und die menschliche Dummheit und Gemeinheit bloßzustellen. Es hat für ihn einen geistigen Reiz, der zu seinem Leben gehört. Mit Zynismus federt er seine Einsicht ab, dass er an Missständen nichts ändern kann. Die Tagespolitik, die er früher mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte, womit er Richard manchmal auf die Nerven fiel, ist für ihn heute zu läppischer Public Relations verkommen, für die er nur noch ein Achselzucken übrighat. Was auf der politischen Bühne geschieht, betrachtet er oft als unfreiwilliges Kabarett von Leuten, die ihre Lächerlichkeit und Beschränktheit stets von Neuem beweisen und unverdrossen weiterwursteln. Mit den Politikern ist kein Staat zu machen. Er glaubt, dass sich daran nichts ändern wird. Mit fatalen Folgen.

      Martin, der schon immer gern gut gegessen hat, ist in den letzten Jahren zu einem begeisterten Feinschmecker geworden. Ein erstklassiges Essen gehört für ihn zu den Genüssen, die er braucht, um es sich im Leben möglichst angenehm einzurichten. Als Feinschmecker ist ihm das Essen wichtiger als die Kritik an der menschlichen Gesellschaft, deren selbstgefälliger Stumpfsinn und verabscheuungswürdige Gemeinheit ihn nicht mehr empört, sondern nur noch zum Sarkasmus reizt. Wenn er gut isst, dann ist er ganz bei sich und seinem Körper, ein, wie er sagt, kultivierter Akt der Selbstbefriedigung. Kulinarische Genüsse, die er höher einschätzt als Sex, bieten ihm Spitzenwerte der Lebensfreude. So zufrieden wie heute hat er sich noch nie gefühlt. Er hat sich einen sehr gesunden Egoismus zugelegt, der ihn wie ein Bollwerk vor negativen Einflüssen schützt.

      Martin arbeitet als freiberuflicher Journalist, schreibt auch Reiseberichte, die er seit mehreren Jahren am liebsten verfasst. Im Gegensatz zu seinen politischen Artikeln sind sie von erfreulichen Erfahrungen geprägt und bieten Beispiele für die positiven Seiten des Lebens. Ein guter Ausgleich für ihn. Sein Buch über Korsika, in dem er kulinarische und kulturelle Routen beschrieb, hatte einen überraschenden Erfolg.

      Er begeistert sich für Island, plant ein Buch darüber, in dem er vor allem die geologischen und kulturellen Besonderheiten würdigen will. Es soll eine wohltemperierte Liebeserklärung an dieses Land werden, das auf ihn seit einiger Zeit