Der EMP-Effekt. Peter Schmidt

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Название Der EMP-Effekt
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847656333



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In den einander überlappenden Lichtkreisen zweier Bahnsteiglampen wartend, fiel ihm die Einladung ein, die ihm Thaube am Morgen überreicht hatte. Ein Brief aus Klagenfurt.

      Dunkel erinnerte er sich jetzt wieder der Andeutungen Thaubes vor einigen Wochen. Damals hatte er ihnen keine Bedeutung beigemessen, weil er mit der Planung seiner Reise beschäftigt gewesen war.

      Auf dem Wege nach Rumänien würden sie durch Klagenfurt kommen. Dort war eine Zwischenübernachtung vorgesehen.

      Er verabscheute Nachtfahrten. In jener Woche sollte eine Tagung weit links stehender Sozialisten und anderer europäischer Linker stattfinden, darunter der Volksfront (V), des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KFAZ) und der jungen Pioniere (JP).

      Welche geeignetere Stadt auf neutralem Boden ließ sich dafür denken?

      Sie besaß sogar ein Institut für angewandte Pflanzensoziologie, was immer das sein mochte. Er nahm das Blatt heraus, es steckte noch in seiner Jackentasche. Eine unsaubere Hektographie auf blassgrün eingefärbtem Umweltschutzpapier. Grün stand für Hoffnung. Rot wäre zu verfänglich gewesen, zu belastet mit Vorurteilen. Grün für die Hoffnungen der Menschheit war immer akzeptabel.

      Thaube bedauerte es, wegen seiner Krankheit nicht an den Veranstaltungen teilnehmen zu können. Er hatte einige Bücher und zwei, drei ältere Berichte über die Entwicklung linker Gruppen am Ort für den Sekretär der Veranstaltung bereitgestellt und Karga gebeten, sie ihm bei seiner Ankunft zu überreichen. Mehr, um sich in Erinnerung zu bringen und als Beweis dafür, dass er noch existierte. Als er diese Bitte am Morgen wiederholt hatte, war es Karga wie Schuppen von den Augen gefallen:

      Man hielt sie beide offenbar für weitaus wichtigere Figuren in der Szene, als sie waren. Genaugenommen war er, Karga, nichts weiter als ein Bote. Sogar ein Bote wider Willen, der nur aus Gelegenheit und angeborener Verbindlichkeit handelte. Er hegte keinerlei Sympathien für Thaubes Engagement. Man wollte gar nicht seine Reise nach Rumänien verhindern, sondern dieses Treffen!

      Und wenn viel mehr dahintersteckte, als er annahm?

      Wenn er nur über die wirklichen Absichten des Treffens als Außenstehender nicht informiert war, man aber glaubte, dass er dabei eine herausragende Rolle spielte?

      Dann erklärte sich alles: seine Wohnungsdurchsuchungen, das Richtmikrofon, der Verkehrsunfall und die ausgetauschte Blutprobe, das Verschwinden seines Ausweises …

      Dann ließ sich alles als ein harmloses Missverständnis aufklären. Der ganze Spuk war nur zustande gekommen, weil man seine Beteiligung falsch einschätzte.

      Thaube würde ihm die wirklichen Hintergründe kaum auf die Nase binden wollen. Womöglich machte er sich ungewollt zum Mitschuldigen?

       Attentate? Banküberfälle? Zusammenarbeit mit den Kommunisten?

      Oder ging nur wieder seine Phantasie mit ihm durch?

      Wenn er an Thaubes lächerliche Gestalt vor dem Fensterkreuz dachte, kam ihm jede Befürchtung in dieser Richtung absurd vor.

      Da er keinen Führerschein besaß, würden Sie mit dem Zug fahren. Und wenn sie statt dessen das Flugzeug nahmen? Direktflug?

      In dem Falle würde Thaube kaum von Ungefälligkeit reden können.

      Über ihm knackte der Bahnsteiglautsprecher. Eine Stimme wie der Frost, der in den Nachrichten vorausgesagt war, kündigte die Einfahrt des Zuges an. Karga wurde von einer plötzlichen Beklemmung befallen. Er hatte seine Stiefmutter seit langem nicht gesehen. Was erwartete sie von ihm?

      Und dann dieser fremde Kerl ... LKW-Fahrer, wenn er richtig verstanden hatte. Dass er Fahrer war, erklärte immerhin, weswegen man ihn die Republik verlassen ließ. Diese Leute im internationalen Güterverkehr besaßen einen Sonderstatus. Es waren ausgewählte Personen, treue Vasallen des Systems.

      Als sie aus dem Waggon stiegen, war alles einfach. Der Anblick des ungleichen Paares ließ ihn aufatmen, und er verzog zu einem kaum merklichen Lachen das Gesicht. Katja trug einen braunen Pelzmantel mit grauen Einsprenkeln; für eine Frau in den Fünfzigern sah sie erstaunlich gut aus.

      Er hatte sie nicht so attraktiv in Erinnerung. Ältere Frauen reizten ihn mehr als junge, obwohl er sich das ungern eingestand. Der alte Knabe neben ihr war jedenfalls kein ernst zu nehmen der Konkurrent für ihn: sein Bauch wurde mühsam von einer glänzenden schwarzen Kunstliederjacke zusammengehalten.

      Seine geringe Körpergröße – er war anderthalb Kopf kleiner als Katja –, die zu breiten Oberarme vor der gedrungenen Brust und seine ungewöhnlich kurzen Beine verliehen ihm etwas vom Aussehen eines unbeholfenen Kobolds.

      Sein hoher, eckiger Kopf war an den Seiten kurz rasiert; erst wo die Haare länger würden und auflagen, bildeten ein kleines Spitzdach aus grauem Gestrüpp.

      Wie komme ich nur auf den absurden Gedanken, dass sie mehr für mich bedeuten könnte als die Frau meines verstorbenen Vaters? Seine Irritation über den Gedanken ließ ihn einen Moment lang zögern – während Katja schon mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam

      Wenn er Sorgen hatte oder sich auf irgendeine Weise bedrängt fühlte, kamen ihm immer Gedanken an Sex. Es war, als suche sein Unbewusstes in der Lust nach einem Ausgleich für ausgestandene Pein. Ein Hang, dessen er sich schon seit seiner Jugend schämte.

      «Robert … wie schön.»

      Sie schüttelte mit beiden Händen seine Hand, als er keine Anstalten machte, ihr um den Hals zu fallen. Es wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Merkwürdig, er hatte sie wirklich ganz anders in Erinnerung. Er fragte sich, ob das dieselbe Frau war.

      Der Mann hinter ihr trat zögernd auf ihn zu, den einen Arm merkwürdig abgespreizt. Als er Karga die Hand reichte, fiel seine Unbeholfenheit von ihm ab. Der Kontakt ihrer Hände wirkte wie ein Auslöser, ein Stromstoß, der ihn aus seiner Steifheit erweckte. Sein Blick schien Karga zu vereinnahmen. Es war, als drohe er, in ihn hineinzustürzen:

      als besetzte er sein Hirn und nehme für den Bruchteil einer Sekunde sein Bewusstsein ein. Wirklich ein Kobold … dachte Karga. Er machte sich mühsam von seinem Blick frei.

      «Leutner.»

      «Guten Abend.»

      «Wir sind ja nun weitläufig miteinander verwandt. Auf gute Zusammenarbeit.»

      «Zusammenarbeit – was meinen Sie?»

      «Beziehungen», berichtigte er. «Nicht wahr, Katja? Beziehungen wäre das bessere Wort.»

      «Ja, Beziehungen.»

      «Wir sollten uns duzen, finden Sie nicht auch? Ich meine, das wäre angemessen.»

      «Einverstanden», sagte Karga.

      «Beppo …»

      «Robert … Ich habe euch ein Doppelzimmer reservieren lassen, es ist nicht weit vom Bahnhof.»

      Sie tranken auf dem Zimmer eine Flasche Sekt. Leutner hatte darauf bestanden. Zur Feier des Tages. Sekt dieser Güte sei drüben schwer zu bekommen. Er wollte alles von der Stadt sehen. Nein, er sei nicht im internationalen Speditionsverkehr beschäftigt. Als Lastwagenfahrer habe er nur sehr kurz gearbeitet. Nach dem Kriege. Karga mußte irgend etwas falsch verstanden haben.

      Leutner fragte ihn, ob er sich nicht einen Tag frei nehmen wolle, um ihn zu begleiten. Das sei doch eine Abwechslung für ihn. Ein Tag vorm Jahresurlaub: kein Problem.

      «Und Katja?», fragte er.

      «Wird morgen eine Freundin besuchen.» «Eine Brieffreundin», bestätigte Katja.

      «Da müsste ich erst meinen Vorgesetzten fragen.»

      «Arbeitest du nicht in einem Elektronikkonzern – als Entwicklungsingenieur?»

      «Unterhaltungselektronik, ja.»

      «Darüber musst du mir mehr erzählen.»

      «Unsere Produkte stehen in jedem Kaufhaus.»

      «Für