Emilie. Angela Rommeiß

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Название Emilie
Автор произведения Angela Rommeiß
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847670643



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ansprechen könnte? Die arme Frau kann so viele Kinder unmöglich allein ernähren. Außerdem brauchen wir Heiratskandidaten. Wie alt wird sie denn sein? Johannes, so sag doch auch mal etwas - und lach mich nicht aus!“ In gespielter Empörung stemmte Frau Lehmann die Fäuste in die Hüften. Ihr Mann saß in seinem Sessel und lachte leise.

      „Aber Klara, Liebes. Lass uns vorher überlegen, wie wir die Familie überhaupt aus Cherson nach Teplitz holen. Das ist eine sehr weite Strecke. Vielleicht kümmert sich ja der Haisch darum, aber das ist eher unwahrscheinlich. Auf jeden Fall werden wir das wohl auf einer Gemeindeversammlung besprechen müssen. Ehe das organisiert ist, hast du noch den ganzen Winter Zeit, mit deinem Frauenkränzchen Heiratskandidaten auszusuchen!“ Er lachte wieder. Würdevoll nahm Frau Lehmann wieder ihren Stickrahmen auf. „Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, Johannes! Darüber darfst du nicht scherzen. Eine Frau soll schließlich die treue Gefährtin ihres Mannes sein und dazu müssen sie zusammenpassen. Was die Kinder betrifft – die Kleinsten wird sie wohl behalten wollen. Die Größeren müssen bei gottesfürchtigen, verantwortungsbewussten Menschen untergebracht werden. Es gibt wirklich keinen Grund zum Scherzen!“ Pastor Lehmann stand auf und klopfte seiner Klara begütigend auf die Schulter.

      „Nichts für ungut, meine Liebe. Ich weiß ja, dass die Angelegenheit bei dir in den besten Händen ist. Ich will nun zum Primar hinübergehen und die Sache auch mit ihm besprechen.“

      Während Frau Lehmann in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne ihr Handarbeitszeug zusammenräumte, machte sich ihr Mann auf den Weg, um den Dorfschulzen aufzusuchen. Der amtierende Primar, Hermann Schenker, versah sein Amt mit Hilfe des Gemeindeschreibers Gustav Müller, welcher als Gemeindesekretär und Gesetzeskundiger eine wichtige Stellung innehatte. Bisweilen fungierte er sogar als Postbote, wie wir wissen. Diese Herren, aus der Mitte der Dorfbewohner auf drei Jahre gewählt, verwalteten die Gemeinde in dieser Zeit nach bestem Wissen und Gewissen. Der Pfarrer hatte jedoch eine Amtszeit von manchmal zwanzig Jahren und war deshalb mit den Belangen der Menschen, mit denen er es zu tun hatte, zutiefst vertraut. Aus diesem Grunde nahm die weltliche Behörde, die ja auch aus gläubigen Männern bestand, nicht selten die Hilfe des Pastors in Anspruch, wenn es die Situation erforderte. Herr Schenker, gerade von Gertrud Haisch heimgesucht, hielt die Situation für erforderlich. So kam es, dass sich der Herr Pastor und der Herr Primar mitten auf der Dorfstraße begegneten und sogleich eine angeregte Unterhaltung begann.

      Auch an anderen Orten wurde an diesem Abend über Wilhelmine Haisch und ihre Kinder gesprochen. Die Männer, die aus der Weinschänke heimkehrten, erzählten die Neuigkeit ihren Frauen, und die besprachen es beim abendlichen Klatsch vor den Hoftoren mit den Nachbarinnen. Die meisten Leute, vor allem aber die Frauen, hatten Mitleid mit der Familie, und in einem war man sich einig: Man musste ihr helfen.

      Wenn Wilhelmine, die als Fremde in einem fremden Land lebte, nur geahnt hätte, wie viel Anteilnahme die Menschen hier an ihrem Schicksal zeigten – wie glücklich würde sie das machen!

      Wenn Gertrud, die als Fremde im eigenen Dorf lebte, ahnen würde, wie sich die Dorfgemeinschaft entgegen ihrem Willen auf die Heimkehr der Schwägerin vorbereitete, wäre sie weniger glücklich!

      * * *

      Für Wilhelmine und ihre Kinder wurde es ein harter Winter.

      Das baufällige kleine Häuschen bebte und ächzte unter den orkanartigen Böen, die der Herbst alljährlich übers Meer schickte. Manchmal dachte Emilie, es würde gleich zusammenbrechen.

      Die Mutter hatte im Herbst Kartoffeln, Bohnen und Melonen geerntet. Die halbreifen Arbusen hatte sie mit verschiedenen Küchenkräutern eingesäuert, wie sie es von daheim kannte. Auch ein paar Kürbisse lagen in der Speisekammer. Salz und Mehl würden allerdings nicht mehr lange reichen, auch der Tee und das Petroleum für die Lampe gingen zur Neige. Jeden Sonntag schlachteten sie ein Huhn und kochten es in dem großen Topf, die Brühe reichte dann die ganze Woche. Als kein Futter für die Kuh mehr da war, führte Jacob sie zu Wasile. Der versprach, einen guten Käufer zu finden. Tatsächlich brachte er eine Woche später ein ordentliches Geld und wollte nicht einmal Lohn dafür. Der wackere Wasile! Nun kauften Emilie und die Mutter noch einige Vorräte ein und hofften, dass der Winter nicht so lang und streng werden würde.

      Ende November wurde es bitter kalt. Schwere Schneestürme fegten über das Land und verbannten die Menschen in ihre Häuser. Die kleine Selma bekam einen bösen Husten und musste wochenlang das Bett hüten. Fiebernd lag die Kleine auf dem Lager der Mutter und wurde zusehends schwächer. Zart und dünn war sie schon immer gewesen, nun wurde sie geradezu durchsichtig. Auch Wilhelmine wurde immer magerer. Vor lauter Sorge brachte sie oft keinen Bissen hinunter. Nächtelang saß sie am Bett ihrer Jüngsten, kühlte die kleine Stirn und betete.

      Emilie hörte es im Halbschlaf. Der Sturm, der draußen ums Haus heulte und alles mit einem weißen Tuch bedeckte, die eintönige Stimme der Mutter, die Gebete murmelte oder Kinderreime aufsagte, schläferten sie allabendlich ein und begleiteten sie in ihre Träume. Trotz aller Sorgen und des Kummers um den Vater war es doch eine friedliche Zeit. Sie rückten alle enger zusammen, die Kinder stritten sich kaum und man ging sehr behutsam miteinander um, gleichsam um die heile Welt zu bewahren und kein neues Unglück heraufzubeschwören.

      Wilhelmine hatte Jacob die Schnitzmesser seines Vaters überlassen. Nun hockte der Junge immer nachmittags und abends am warmen Herd und schnitzte mit Feuereifer kleine Tiere und Figürchen. In ein paar Jahren, prahlte er, würde er so geschickt sein, dass er die Sachen auf dem Markt verkaufen und die Familie reich machen würde. Wilhelmine lächelte nur. Wie bekannt kam ihr diese Prahlerei vor! Ihr Mann war auch so leicht zu begeistern gewesen und hatte nach den Sternen gegriffen, statt mit kleinen Erfolgen zufrieden zu sein. Derweil hielt sich Eduard an Jacobs Seite und freute sich über jedes neue Spielzeug.

      Wenn die Haus- und Stallarbeit getan und die kleine Hütte saubergemacht war, saß Wilhelmine mit ihren älteren Töchtern auf der Ofenbank. Sie brachte ihnen das Stricken und Sticken, das Spinnen und Nähen bei. Die gesponnene Schafswolle und auch die daraus gestrickten Jacken ließen sich gut verkaufen.

      „Spinnen am Abend: Erquickend und labend. Spinnen am Morgen: Kummer und Sorgen.“, pflegte Wilhelmine oft zu sagen.

      „Wenn das Spinnen am Morgen Unglück bringt, warum tun wir es dann?“, fragte Paula einmal. Die Mutter lächelte.

      „Ach, Kind, dieser Spruch heißt nichts anderes, als das diejenigen, die am Abend nach getaner Arbeit Wolle spinnen, dies nur zur Entspannung und zu ihrem Vergnügen tun. Dann ist es tatsächlich erquickend und labend. Arme Leute wie wir, die mit dem Spinnen ihr Brot verdienen müssen, haben Kummer und Sorgen - trotzdem wir schon am Morgen damit beginnen. Doch was hilft es, irgendwie müssen wir ja Geld verdienen. Also, an die Arbeit, Kinder!“

      Gern hätte Wilhelmine die Mädchen auch im Weben unterwiesen, aber sie hatte keinen Webstuhl. Zu Hause, erzählte sie, gab es in jedem Haushalt einen Webstuhl. Alle Stoffe, grobe und feine, wurden darauf gewebt und anschließend daraus Kleider genäht. Man maß eine gute Hausfrau an der Qualität ihres Tuches! Aber auch die Männer gingen an langen Winterabenden ihren Frauen beim Weben zur Hand. Man konnte gutes Geld verdienen mit dem Verkauf von Stoffen. Ach, wenn sie doch nur einen Webstuhl hätten!

      Oft traf man sich auch zu geselligen Runden und da wurde gelacht und gescherzt, Lieder gesungen und Geschichten erzählt. Wilhelmine wusste immer neue Einzelheiten aus dem Leben daheim zu erzählen. Dabei hatte sie den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend im Waisenhaus zugebracht. Bloß drei Jahre lebte sie im Haus ihres Mannes und lernte dort Sitten und Gebräuche des Familien- und Gemeindelebens kennen. Diese Zeit war aber für das einsame Mädchen so schön gewesen, dass sie sich heute noch an jedes Detail und jedes Fest genau erinnerte. Unschöne Erinnerungen verdrängte sie einfach.

      Die Kinder lauschten und lernten. Längst hatten sie gemerkt, dass ihre Mutter sich von ganzem Herzen von hier fortsehnte. Richtig verstehen konnten sie es allerdings nicht. Das Leben hier war doch sehr schön! Die Ukrainer wussten auch fröhliche Feste zu feiern und im Sommer gab es wilde Reiterspiele, bei denen das ganze Volk auf den Beinen war. Ein Volk, freundlich und großherzig und so bunt wie die weiten Röcke und farbenfrohen Tücher der Frauen. Der Fluss und das nahe Meer boten viel