Emilie. Angela Rommeiß

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Название Emilie
Автор произведения Angela Rommeiß
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847670643



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Die Anstalt war auf milde Gaben angewiesen und oft fehlte es am Nötigsten. Deshalb protestierte Viktor:

      „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Im Waisenhaus ist das Leben noch härter als auf einem Bauernhof, das weißt du genau!“

      „Wilhelmine hat es ja wohl kaum geschadet!“, entgegnete Gertrud bissig.

      „Aber wie kann man die Kinder weggeben, es sind doch meine Nichten und Neffen und keine Waisen. Niemand wird sie dort gern haben ...“

      „Hier auch nicht!“, erwiderte Gertrud schroff. „Wenn wir alle Glück haben, kommen sie gar nicht hierher. Und nun genug gejammert, gib den Brief heraus, ich brauche ihn!“

      „Ich habe ihn nicht, so glaube es doch. Ich habe ihn nicht mitgenommen, als ich ging, und du warst vor mir zu Hause. Ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben ist!“ Gertrud und Viktor suchten nun sogar gemeinsam alles ab, doch der Brief blieb verschwunden.

      Ludwig lag wie seine Geschwister wach im Bett und lauschte dem lautstarken Streit seiner Eltern. Es war ja nicht der erste. Ludwig wusste, wo der verschwundene Brief war. Am späten Nachmittag, als sein Vater in die Weinschänke und seine Mutter beim Schulzenamt gewesen war, hatte er den Pfarrer aufgesucht – mit dem Brief.

      Ein furchtbares Geheimnis lag seitdem wie eine Zentnerlast auf seiner Brust.

      Langsam senkte Herr Pastor Johannes Lehmann das Papier und nahm die Brille ab.

      „Das ist ja wirklich sehr schmerzlich für deine Familie, mein Junge.“, sagte er mit seiner angenehmen, tiefen Stimme zu Ludwig, der vor ihm auf einem Stuhl hockte und die Mütze in den Händen drehte.

      „Von wo kommt denn dieser Brief?“, fragte der Pfarrer und blickte auf die Rückseite des Umschlages. „Cherson!“, rief er aus. „So weit weg! Das muss ja fast bei der Krim sein. Wie um alles in der Welt hat es denn deinen Onkel dorthin verschlagen?“

      Ludwig zuckte nur mit den Schultern. Seit er die Konfirmandenschule besuchte, war er öfter danach freiwillig zum Aufräumen dageblieben. Dem Pfarrer fiel auf, dass der Junge offensichtlich nur ungern nach Hause ging. Als guter Pfarrer erkannte er eine verstörte Seele, wenn er eine traf und als Vater von sechs Kindern wusste er mit Jugendlichen umzugehen. Mit freundlicher Anteilnahme gelang es ihm nach und nach, Ludwigs Vertrauen zu gewinnen. Seitdem war er der Ansprechpartner des Jungen bei all seinen Problemen. Pastor Lehmann war also mit der familiären Situation im Hause Haisch einigermaßen vertraut. Zögernd begann Ludwig zu sprechen.

      „Vater will ihr schon helfen, aber er wagt es nicht. Ich glaube nicht, dass er was auf die Beine stellt. Die Mutter hat eine Wut auf die Tante. Wissen sie warum? Sie kannten sie doch, oder?“

      Pastor Lehmann nickte, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schob die Daumen in die Weste. Sein Blick war an die Zimmerdecke gerichtet, als suche er dort nach längst vergessenen Gesichtern.

      „Es war eine sehr angenehme junge Frau, gerade zwanzig Jahre alt. Man konnte sie eigentlich nur mögen. Sie war eine Waise und dein Onkel hat sie bei einem Fest in Sarata kennengelernt, wo sie im Waisenhaus als Betreuerin arbeitete, nachdem sie selbst dort aufgewachsen war. Ich war damals schon drei oder vier Jahre im Amt und kannte deine Großeltern recht gut. Sehr gute und gottesfürchtige Menschen! Dich habe ich getauft in demselben Jahr, als dein Onkel heiratete.“ Der Pfarrer schmunzelte zu dem Jungen hinüber. Ludwig lächelte auch und fühlte sich wie immer in der Gegenwart des Pfarrers sehr wohl. Dieser weißbärtige alte Herr war für ihn der Großvater, der ihm so früh genommen wurde. Ludwig fiel etwas ein.

      „Woran sind eigentlich meine Großeltern gestorben?“

      Der Pfarrer hätte beinahe den Kopf geschüttelt. Worüber wurde in dieser Familie eigentlich gesprochen? Er erhob sich etwas mühsam und zog nach kurzem Suchen ein großes, ledergebundenes Buch aus dem Regal. Er legte es auf den Schreibtisch und blätterte eine Weile.

      „Da!“, rief er plötzlich und zeigte mit dem Finger auf einen Eintrag. Ludwig beugte sich ebenfalls über das Buch und las:

      „Gottlieb Haisch – geboren am 26. August 1827 in Teplitz, gestorben am 8. April 1899 in Teplitz. Todesursache: Herzversagen.“ Aufblickend sagte Pastor Lehmann:

      „Ich erinnere mich - er ist mitten bei der Arbeit gestorben. Plötzlich brach er zusammen, seine Lippen waren blau. Es ging schnell, er hat nicht gelitten. Du hast ihn wohl gern gehabt, was?“

      Ludwig nickte. „Und meine Ahna?“, fragte er dann.

      „Ach, die starb nur wenig später. Wie ich hörte, wollte sie schon damals deine Tante und deinen Onkel zurückholen, aber dann stürzte sie unglücklich die Scheunentreppe hinab und brach sich das Genick. Es war ein tragischer Unglücksfall. So etwas kommt vor. Wenigstens hat auch sie nicht gelitten.“ Pastor Lehmann verstummte und klappte das Buch zu.

      Ludwig war der kalte Schweiß ausgebrochen. Was hatte die Mutter vorhin in der Küche gesagt? ‚Wenn ich wieder mal nachhelfen muss...‘. Ja, das waren ihre Worte gewesen. Er leckte die trockenen Lippen und fragte stockend:

      „War sie denn ganz allein auf dem Scheunenboden, in ihrem Alter?“

      Pastor Lehmann überlegte. „Nun, soviel ich weiß, war deine Mutter bei ihr – aber Junge, was hast du denn?“ Ludwig war bleich geworden. Hastig erhob er sich und verabschiedete sich eilig.

      „Vielen Dank für alles, ich muss nun heim!“. Schon war er verschwunden. Den Brief ließ er liegen. Kopfschüttelnd blieb der Pfarrer zurück. Dieser Junge! Er nahm noch einmal das Schreiben und las es langsam durch. Zwischen den Zeilen las er nur eines: Heimweh!

      Er erhob sich und steckte den Brief in seine Jackentasche. Dann verschloss er sorgfältig das Pastorat und begab sich nach oben in die Wohnräume, wo in einem hellen Raum seine Frau am Fenster saß und stickte. Frau Klara Lehmann war eine wohlbeleibte Matrone, die mit viel Herz und Verstand ihren großen Haushalt regierte. Ihre zwei Söhne und vier Töchter hatte sie mit fester und liebevoller Hand zu gottesfürchtigen, tugendsamen Menschen erzogen. Als ihr Mann das Pfarramt in Teplitz antrat, nahm sie sich voller Hingabe der Gemeinde an. Ihrem ausgeprägten Organisationstalent war es zu verdanken, dass Erntedankfeste, Christmessen und Ostergottesdienste in einer prachtvoll ausgeschmückten Kirche gefeiert wurden. Resolut regierte sie die Frauen und erwachsenen Mädchen, die den Blumenschmuck herstellten und die Kuchen backten. Auch der Frauenverein stand unter ihrem Zepter. Diese Frauenvereine gab es in fast allen deutschen Gemeinden und erfüllten durchaus einen wichtigen Zweck. Im Winter wurden dort nämlich viele wunderschöne Handarbeiten hergestellt, die dann alljährlich zum Wohle der Wohltätgkeitsanstalten in Sarata und Arzis versteigert wurden.

      Als ihr Mann ins Zimmer trat, ließ Frau Lehmann den Stickrahmen sinken und schaute ihm aufmerksam entgegen.

      „Na, mein Lieber, was war heute in der Amtsstube zu tun?“, fragte sie im abendlichen Plauderton. „Hast den Haisch-Ludwig dagehabt, oder? Gerade sah ich ihn davonlaufen. Wie der Wind ist er gerannt!“ Seufzend ließ sich der Pastor in einen Sessel sinken.

      „Ach, der Junge ist mir ein Rätsel. Erst fragt er mir Löcher in den Bauch und dann rennt er plötzlich weg. Sieh mal, was er mir heute gebracht hat, das dürfte dich interessieren.“ Damit zog er den Brief hervor und gab ihn seiner Gattin, die sofort den Stickrahmen weglegte und sich in das Schreiben vertiefte.

      „Ach“, sagte sie dann mitleidig. „Die arme Frau! Da muss man doch etwas unternehmen, Johannes! Glaubst du denn, dass die Familie sie aufnimmt?“

      Pastor Lehmann schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall, Klara. Von Rechts wegen ist ja Viktor Haisch nun der Vormund der Kinder, aber ich glaube nicht, dass er dieser Rolle gerecht wird. Die Familie lebt beengt und die Frau ist... sie ist – du kennst sie!“

      Die Eheleute wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Nachdenklich überflog die Frau die Zeilen des Briefes.

      „Nun ja, man könnte ...ich meine, es wäre bestimmt möglich ...Ich glaube, ich weiß etwas!“ Johannes Lehmann schmunzelte. Wenn er seine Frau so reden hörte, kam alles in die rechten Bahnen, darauf konnte er sich verlassen.