Stumme Gier. Günther Tabery

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Название Stumme Gier
Автор произведения Günther Tabery
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044478



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und wartete darauf, was nun passieren sollte.

      Martin behielt einen ruhigen Kopf. Solche Szenen hatte er schon oft erlebt. Er machte den Eltern verschiedene Vorschläge für das Arrangement und die Beleuchtung. Sie einigten sich darauf, dass die Kinder auf dem Sofa Platz nehmen und die Eltern dahinter stehen sollten. Es dauerte eine kurze Weile, bis alles hergerichtet war, die Kinder still und ruhig auf dem Sofa saßen und das Shooting beginnen konnte.

      „So, und jetzt alle einmal `Cheese´ sagen“, begann Martin.

      „Aua!“, schrillte Marcel.

      „Nico, jetzt hör endlich auf, deinen Bruder zu ärgern“, reagierte die Mutter genervt.

      „Der hat aber angefangen!“, entgegnete Nico und zeigte auf Marcel.

      „Gar nicht! Ich habe nichts gemacht. Du hast angefangen. Du hast mich gezwickt!“

      „Also, wer hat jetzt angefangen?“, fragte die Mutter.

      „Der!“

      „Ich nicht, der war es!“

      Der Konflikt war nicht zu lösen. Die Mutter wusste keinen Rat. Sie sagte schließlich: „Dann entschuldigt sich jetzt jeder bei dem anderen und dann ist Ruhe.“ Mit lockender Stimme sagte sie: „Und wenn es jetzt klappt, dann gehen wir später noch einen Burger mit Pommes essen.“

      Die Kinder bekamen einen Glanz in die Augen, reichten sich die Hände und ließen die Prozedur über sich ergehen. Martin musste nur noch einige Anweisungen geben und dann war das Bild im Kasten. Als kleine Belohnung gab er dem Mädchen, das ganz artig gewesen war, einen kleinen Lutscher.

      „Na, das ist aber lieb“, sagte die Mutter, „Dann bedank dich mal bei dem netten Mann, Jaqueline.“

      „Danke“, säuselte Jaqueline leise und wippte mit dem einen Bein schüchtern hin und her.

      Martin, der jetzt hinter der Kasse stand, gab der Familie einen Abholschein und sagte, dass das Familienportrait wohl in den nächsten zwei Tagen fertig sei und er es wie gewünscht auf Leinwand drucken würde. Die Eltern bedankten sich bei Martin und verließen das Studio. Draußen hörte er die immer leiser werdende Stimme der Mutter, die abwechselnd `Marcel´ oder `Nico´ rief.

      Martin schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Es war ein wunderbarer Beruf, dachte er. Aber Momente wie diesen mochte er ganz und gar nicht. Er hopste leicht und es kam ein leises „Pah“ aus seinem Mund. Es fiel ihm immer schwerer mit solchen Kindern wie den beiden Jungen umzugehen und den richtigen Ton zu finden. Er überlegte, wie schwierig es ist, Kinder richtig zu erziehen. Und ihn schauderte es bei dem Gedanken, was dabei alles falsch laufen könnte. Heftig riss er für einen kurzen Moment seinen Mund weit auf. Er kam zu dem Entschluss, dass die Eltern wohl die wichtigste Rolle dabei haben würden. Dass eine positive Vorbildfunktion und ganz viel Liebe wohl das Wichtigste wären. Er hatte selbst noch keine Kinder, aber er wünschte sich welche. Ganz leicht begann er sehnsüchtig zu lächeln. Er hopste wieder und ging anschließend leicht in die Knie.

      Nach ein paar Momenten kam er wieder zu sich und lief ins Labor um weiter an seiner Auftragsarbeit zu arbeiten. Es vergingen gut zwanzig Minuten, als gegen halb drei wieder die Glocke ertönte und Martin pflichtbewusst in den Ausstellungsraum schnellte. Er stockte kurz, als er den Mann sah, der eben hereingekommen war. Dieser stütze sich mit der linken Hand an der einen Sessellehne ab, mit der rechten Hand fasste er sich an den Bauch. Er atmete sehr schwer, als ob er gerannt wäre. Martin kam ihm sofort zu Hilfe. Plötzlich stieß er einen verzweifelten Schrei aus. Sein Körper krampfte zusammen und er sackte nach unten. Die Stimme verstummte wieder. Nun atmete er nur noch flach. Der bereits kniende Mann taumelte und fiel ganz auf den Boden. Martin sah ihm in die von Angst gezeichneten, weit aufgerissenen Augen. Sie flehten um Hilfe. Aber er wusste nicht, was er tun sollte. Wieder krampfte der Körper des Mannes zusammen und wieder erklang ein furchterregender Schrei. Er war schweißgebadet und stöhnte. Noch ein letztes Mal beugte sich schmerzvoll sein Körper, bevor er bewegungslos auf dem Boden liegend zur Ruhe kam. Martin kniete neben ihm und war wie paralysiert. Er blickte in die aufgerissenen Augen und konnte nicht fassen, was eben geschehen war. Vorsichtig berührte er seinen Hals und fühlte den Puls. Es war kein Puls mehr spürbar. Auch hatte der Mann aufgehört zu atmen. Martin schluckte und stieß einen Seufzer aus. „Pah“ kam es leise aus seinem Mund und sein Kopf begann unwillkürlich zu zucken. Er schloss die Augen des Mannes und setzte sich anschließend für einen Moment auf den Sessel. Unmöglich, dass so etwas geschehen konnte. Hier in diesem Fotostudio! Er fühlte sich unbehaglich und blickte auf den Toten. Armer, junger Mann, dachte Martin anteilnehmend. Wie starr und unbeweglich er vor ihm lag. Wer mag ihm das angetan haben? Was hatte er verbrochen, dass er sterben musste? Er biss sich auf die Lippen. Woher ist er gekommen und wieso suchte er ausgerechnet hier Zuflucht? Martin konnte sich die Fragen nicht beantworten. Dieser Mann war wahrscheinlich an einer Vergiftung gestorben, mutmaßte er. Er musste aus Verzweiflung in das Studio gekommen sein, um Hilfe zu suchen. Aber es war keine Hilfe mehr möglich gewesen. Zu schnell trat der Tod ein, als dass er etwas hätte verhindern können. Er betrachtete den Mann. Ihm fielen seine rotgefärbten Lippen auf. Ja, es musste ein Gift gewesen sein. Er schätzte, dass der Mann um die vierzig Jahre alt sein musste. Er hatte gutaussehende, ebene Gesichtszüge und eine athletische Figur. Die Kleidung war schick und sportlich.

      „Ich muss den Notarzt rufen und die Polizei“, sagte er zu sich. „Ja, die Polizei. Wenn es Gift war, dann war es womöglich….“, er stockte und sah den Toten entsetzt an. „Dann war es womöglich Mord.“

      Er neigte den Kopf zur Seite und tastete den Fremden mit seinem Blick vom Kopf bis zu den Schuhen ab. Wer mag er wohl sein, dieser Mann? Martin verspürte den Drang, in seinen Taschen nachsehen zu wollen. Er wollte unbedingt wissen, wer dieser Mann war. Er schloss die Türe zum Fotostudio zu, holte zwei Latexhandschuhe aus dem Labor und kniete sich wieder neben den Toten. Vorsichtig griff er in die Innentasche seiner braunen Lederjacke. Dort spürte er seine Geldbörse. Er holte sie vorsichtig heraus. In der Börse war nur wenig Bargeld. Er entdeckte einige Rechnungen, einen ausgefüllten Lottoschein und eine abgerissene Kinokarte vom Kino am ZKM. Einen Personalausweis, eine Bankkarte oder andere Karten, die seinen Namen hätten preisgeben können, gab es leider nicht. Vorsichtig steckte er die Sachen in die Geldbörse und legte sie wieder in die Jackentasche zurück. Behutsam fühlte er, ob der Tote auch etwas in der Hosentasche bei sich trug. In der rechten Tasche raschelte etwas. Er griff hinein und zog einen Zeitungsausschnitt heraus. Neugierig entfaltete er den Bogen. Es war ein Ausschnitt aus den Badischen Neuen Nachrichten. Die Seite zeigte verschiedene Verlobungs- und Heiratsannoncen. Eine Annonce war mit einem Kreuz markiert. Er las: „Lass die Liebe in deinem Herzen Wurzeln schlagen, und es kann nur Gutes daraus hervorgehen´, Zitat Augustinus. Aus Liebe verkünden wir unsere Verlobung: Charlotte Driesig und Rolf von Breidenfall.“ Martin blickte aus der Annonce hervor. „Rolf von Breidenfall? Ist das nicht dieser vermögende Großindustrielle aus Karlsruhe?“, fragte er sich. Über ihn hatte er schon einmal in der Zeitung gelesen, glaubte er.

      Er schaute auf den Toten und entschied, diesen Zettel zu behalten und nicht wieder zurück zu stecken. Angespannt schüttelte er den Kopf. „Die Polizei!“, er zuckte zusammen. „Die Polizei muss ich jetzt sofort anrufen.“ Er ging zur Theke, auf der das portable Telefon lag und wählte die Nummer der Polizei. Nachdem er alle Einzelheiten am Telefon besprochen hatte, öffnete er die Tür und setzte sich neben den Toten.

      Keine zehn Minuten später kamen einige Polizisten und der Notarzt zum Schauplatz. Allen voran lief ein kleiner drahtiger Mann mit spitzer Nase und grauen Haaren. Sein Gesicht zierte ein kleiner Schnurrbart. Die wachen blauen Augen schienen das alles um sie herum Geschehene wissbegierig zu erfassen. Er war Ende fünfzig und machte einen erfahrenen Eindruck. Ihn begleitete eine brünette Frau mit kurz geschnittenen Haaren. Ihre Kleidung war eher sportlich als schick. Das markant geschnittene Gesicht passte zu ihrer forschen Art. Während Kommissar Frank in der Türe stehen blieb und den Schauplatz zunächst aus der Distanz heraus betrachtete, kam Kommissarin Schubert direkt auf Martin zu.

      „Sie sind Herr Fennberg?“, begann sie professionell mit einer dunklen Altstimme.

      „Ja, das bin ich. Ich hatte bei Ihnen angerufen und den tragischen Tod gemeldet.“