Y. null DERHANK

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Название Y
Автор произведения null DERHANK
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847616757



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dieses Einssein wurde immer wieder gestört durch Hände, von denen er damals keinen Begriff gehabt hatte; Hände, die ihn packten, die Fleisch und Nadeln und Windeln auseinanderrissen, die die Ordnung des Nestes zerstörten, die es austrockneten und seinen Geruch vertrieben. Hände, die ihm Angst machten - Angst, das Nest zu verlieren, das Einssein zu verlieren, letztlich sogar Angst davor, die Angst selbst zu verlieren.

      Und so kam es, es erfüllte sich seine allererste, in der Angst geborene Prophezeiung: Eines Tages trennten ihn die Hände vom Nest für immer. Hände aus brennendem Gummi, Hände, die an den Nadeln rissen, die den Schlauch aus seiner Nase zogen, die ihn abtupften und abrieben, die seinen verkrusteten Nabel einschmierten, Hände, die das Nest Yosy unter einer gleißend hellen Sonne in seine Bestandteile zerlegten. Ein Teil dessen, was er gewesen war, blieb als tote Hülle zurück. Man gab den Rest einer Frau.

      Die Frau hatte kein Gesicht. Yosy nahm nur die Hände wahr. Hände, die ihren Widerstreit nicht verbergen konnten, die nichts mit ihm anzufangen wussten und ihn unsicher empfingen. Die Hände umgriffen seine wunde Haut, fingerten an Öffnungen, bogen und streckten Gelenke. Die Hände drückten ihn erst zu zaghaft, dann zu feste, und Yosy blieb nichts übrig als zu schreien, denn seine Angst war riesig. Sie blähte seine schwachen Lungen auf und ließ ihn brüllen; er schrie sich die Angst aus dem Leib. Schrei und Angst waren eins, dasselbe, und als ihm seine Mutter mit hektischen Bewegungen den Mund zusperrte, ihm Gummi und warme Milch in den Rachen stopfte, als wollte sie die Angst gewaltsam zurückhalten, da hatte diese sich schon befreit, war mit seinem Schreien auf und davon.

      Yosy lag zitternd im Stroh und dachte an die Angst zurück, fragte sich, wo sie jetzt war. Das Nest, seinen Brutkasten, den dürfte es längst nicht mehr geben, aber die Angst, wo war seine Angst geblieben? Er hatte danach nie wieder Angst gehabt. War sie im Himmel? Das Nest verloren, die Angst davongeflattert? Und übrig geblieben sein Zittern?

      Das Zittern war immer ein Kampf gewesen, ein Kampf gegen seine Schwäche, die ihn tonnenschwer machte, obwohl er kaum mehr als ein Kilo gewogen haben soll. Ein Kilo gegen hundert oder zweihundert, die er sich heute gab. Aber Schwere war unabhängig vom Gemessenen, nichts war so schwer wie er selbst.

      Yosy roch an seinem Nabel, an der verschlossenen Öffnung, hinter der das Nichts war. Dort war die Angst nicht. Aber sie war noch da, irgendwo auf der Welt wehte sie umher, eine Art Seele oder Geist, vielleicht auch als Vogelscheuche, eine von denen, die er auf dem Weg hierher gesehen hatte. Ein Schrei vergeht nicht, dachte er. Eines Tages würde die Angst zurückkommen.

      Das Zittern ließ nach. Yosy rollte über den Boden und fand eine Stelle, in der das Stroh besonders dicht lag. Er wälzte sich hinein, und ganz allmählich und sachte öffnete sich die Kugel wieder. Yosy lauschte dem Husten des Pferdemädchens und lächelte, während das Zittern schwächer wurde und er langsam einschlief.

      Sein Schlaf war traumlos, bis ihn Stimmen weckten. Stimmen, die sich über ihn unterhielten, wie die Gummihände damals am Nest, hinter dem Plexiglas, jeder Finger eine Person, mit lustigen Gesichtern aufgemalt, große Augen, grinsender Mund. Pfleger und Schwestern ...

      »Prächtiger Bursche ...«

      Yosy erkannte die Stimme des Fahrers. Die Köpfe zweier Männer zeichneten sich in der nachtgrauen Fensteröffnung ab.

      »Hab' dem nix getan, gar nicht!« Das war Schatt.

      Glas stieß aneinander, dann hörte Yosy kräftiges Schlucken.

      »Is'n guter Bursche!« Der Fahrer.

      »Ja ja, hab dem Wurst gebracht ...«

      »Weil's 'xandra dir gesagt hat ...«

      Schweigen.

      »Ja ja, die 'xandra ...«, sagte der Fahrer.

      »die is' gutt, ganz gutt ...«, meinte Schatt, »je'nfalls besser allsse Clara!«

      »Die Frauen sin' all wat ...«

      »Wat?«

      »Ham uns in Griff!«

      »Mhh ... der Dicke do' ... der is' schlimmer!«

      »Ach der Dicke ...«

      »Prügelt immer nur ...«

      »Wängstens nit die Tier'!«

      »Aber mich!«

      Da musste der Fahrer lachen.

      »Dich! Na und, bis' au'n Pasemackel!«

      Schatt schwieg.

      »Schatt, die Tier' gehör'n den Frau'n! Kanner nich' prügeln.«

      »Aber die Frau'n prügeln die Tier' ...«

      »Sach'ich do'! Pass vor die Frau'n auf ...«

      Schweigen, Flaschenklirren, Schlucken.

      »Ob die den gutt zureit'?«, fragte Schatt.

      »Is' do' 'n Lieber!«

      »Aber obsse den reiten kanns'?«

      Der Fahrer brummte.

      »In' Kriech?«, hakte Schatt nach.

      Eine Weile sprach niemand ein Wort. Die Männer tranken langsam. Von irgendwo, weit weg, kam ein kaum wahrnehmbares Raunen, hörte wieder auf, begann erneut, hörte wieder auf. Stille. Über lange Minuten Stille; nur der schnaufende Atem der Männer und ihr gleichmäßiges Schlucken.

      Bis Schatt plötzlich sagte: »Hörsse datt?«

      »Mh...«

      Schweigen. Yosy hörte es auch. Diesmal war es eher ein leises Donnern, wie das Grummeln aus einem hungrigen Bauch. Ein gleichmäßiges Geräusch, unterbrochen von dumpfen Schlägen.

      »So nah wadat no' nie ...«, hörte er Schatt sagen.

      »Bald sin' die hier ...«, flüsterte der Fahrer, dann lachte er, aber es klang trocken, fast wie Husten.

      Wieder Schweigen.

      »Hasse Schiss?«, fragte der Fahrer, und Yosy konnte ihn förmlich grinsen sehen. Aber auch das Grinsen war erzwungen.

      Schatt brummte.

      »Sin' Türken!«, sagte der Fahrer.

      »Weisse dattenn?«

      »Ich hör dat. Hamam-Haubitzen ... Türkisch Dampfbad.«

      Jetzt lachte auch Schatt.

      Das ferne Gewitter wurde manchmal lauter, manchmal leiser. Yosy öffnete vorsichtig das dem Fenster zugewandte Auge. Die Silhouetten der Männer waren nicht mehr zu sehen. Sie saßen oder standen aber immer noch da draußen. In dem dunkelgrauen Nachthimmel schwelte ein diffuses Licht unregelmäßig auf und ab.

      »Is' ne richtig Schlacht ...«, flüsterte Schatt.

      »Hnng... BOAH!«

      Für eine kurze Sekunde war der Himmel taghell, und sofort begann der Fahrer leise zu zählen: »Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig ...«

      Yosy kannte das. Bei Gewitter hatte seine Mutter immer die Entfernung abgezählt, um ihn oder sich selbst zu beruhigen. Drei Zahlen waren tausend Meter. Je weiter sie kam, desto leiser würde der Knall werden, so war die Regel. Yosy hatte mit jeder dritten Zahl einen Finger aus seiner Kinderfaust öffnen müssen, und jeder zusätzliche Finger hatte seine Mutter ein wenig mehr lächeln lassen.

      »vierunddreißig, fünfu...« Ein Donner unterbrach den Fahrer, die Wände zitterten, ein tiefes Dröhnen, das Yosy mehr fühlte als hörte.

      Die Männer schwiegen.

      »Vier Kilometer!«, flüsterte der Fahrer.

      »Heilig' Scheiß' ...«, Schatt lachte; es klang, als hätte man ihn zum Tode verurteilt.

      »SCHEISSE! Genau! Hahaha!«, rief der Fahrer und lachte ebenfalls; laut und hässlich.

      »Bald sin'wer dran ...«, Schatt.

      Wieder Schweigen. Wieder ein Flackern