Y. null DERHANK

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Название Y
Автор произведения null DERHANK
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847616757



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Die Straße mit ihren Hecken, Bäumen, Autos? Der Deich? Der süße Duft der Emscher? Nein, das meinte er sicher nicht. Was aber war das Zuhause, wenn die Kindheit um war? Die Arbeit, in der sein Vater lebte? Oder der Himmel, von dem seine Mutter immer gesprochen hatte? Oder nur ein Ort, um Yosy zu schlachten? Nein, der Mann hatte gesagt, schlachten würde man ihn nicht.

      »Rooostfluuuch!«, raunte Schatt übertrieben geheimnisvoll und dann lachten die Männer.

      Yosy schaute sehnsüchtig zu den Leitplanken, ließ seinen Blick über das pelzige Gewebe der Ähren gleiten.

      Zuhause ...

      Er verfing sich an einer Vogelscheuche mit einem Hut und einem grinsenden Kürbiskopf, löste sich wieder, trieb weiter und weiter und schwebte bald wie ein geflügeltes weißes Ross über einen mondbeschienenen Teppich. Die Schmerzen in den Gelenken waren verschwunden, sein Körper nicht mehr sperrig und steif. Im Gegenteil, in einer einzigen fließenden Bewegung tauchte er ein in das Getreide, landete sicher auf den Vorderfüßen, die Hinterläufe nachschwingend, aufstützend, anspannend, und ohne Anstrengung stieß er sich vom Boden ab und jagte den ganzen schweren Körper in die Höhe. Seine Hände hatten wieder diese eigenartig gekrümmte Form, wie schon im Hänger beobachtet, aber so war er unempfindlicher, hatte zusätzliche Kraft in jedem Sprung, konnte sich abfedern und mit himmelwärts gerecktem Kopf in die Sterne schießen. Wie der fette Brummer, mit dem er gespielt und den der Fahrer totgebissen hatte, wie vom Wesen des Brummers durchdrungen sauste er den Männern, dem Wagen und sogar den Kornfeldern davon. Ich bin ein Käfer in der Nacht, dachte Yosy, wieherte vor Glück und bekam prompt einen Ellenbogen vor die Rippen gestoßen.

      »Is' man gut!«, sagte Schatt.

      Nun kroch die Müdigkeit wieder in ihm hoch. Die Glied-maßen schmerzten und Yosy fiel in einen unbequemen Schlaf - sitzend, vom Gurt gehalten, und jedes Mal von seinen Begleitern weggedrückt, wenn er zu sehr nach der einen oder anderen Seite abrutschte. Er träumte, konnte sich aber später nicht mehr an die Träume erinnern; nur noch an gewisse Gefühle, in denen sich Leichtigkeit, vielmehr Flüchtigkeit und eine gleichzeitige elende Schwere zu einem die Kehle einschnürenden Potpourri vermengten.

      Es war schon Tag, als er wieder bewusst etwas wahrnahm. Die weiße Sonne brannte in den Augen, im Radio lief ein Interview, vielleicht auch ein Quiz, ein schrilles, unduldsames Gerede über Politik. Sie fuhren eine staubige Asphaltstraße entlang, gesäumt von hohen, undurchsichtigen Wellblechzäunen und grauen Mauern. Dazwischen vereinzelte Hausfronten mit bröckelndem Fassadenputz und zum Teil verbretterten Fenstern. Grau. Südländisch wirkende Frauen in dunkelgrau gemusterten Röcken und Blusen standen vor den lange nicht mehr gestrichenen Sockelmauern eines schief stehenden Gebäudes, das schwarze Haar von grauweißen Tüchern gehalten. Sie sahen auf, als der Wagen sich näherte, riefen etwas ins Haus, und gleich erschienen haufenweise Kinder in einfacher, zerschlissener Kleidung, die dem Fahrzeug einige Meter hinterher rannten und es mit Steinen bewarfen.

      Die Straße war ansonsten leer. Nur wenige Autos meist älterer Bauart parkten am Rand vor dem schmalen Gehweg, und nur einmal kam ihnen ein schmutziger Wagen entgehen, dessen Marke Yosy lediglich als osteuropäisch identifizieren konnte.

      »Sin' gleich da!«, murmelte Schatt heiser, »Kann man den jetzt beschlagen!«

      »Solln'wa hier ...? Bevor'wa ...?«

      »Scheiß drauf!«, brummte Schatt, schien sich aber selbst nicht sicher zu sein.

      Der andere lenkte den Wagen durch eine breite Öffnung in einer endlos langen Reihe aus Trapezblechen und parkte vor einer großen Garage, in deren Schatten man zwei oder drei aufgebockte Autos, ölverschmierte Schläuche und einige Männer sehen konnte. Grau.

      Schatt sprang hinaus, winkte den Männern und ergriff sofort den Bambusstab von der Pritsche. Damit schlug er, aggressiver als nötig, mehrmals vor die Rückscheibe der Fahrerkabine und brüllte laut: »Raus! Raus! Raus!«

      Der Andere, der bis hier gefahren war, sah Yosy mit beinahe ängstlichen Augen an. Yosy ließ sich ebenfalls hinausfallen, landete auf allen Vieren und watschelte, obwohl der heiße Asphalt an seinen Händen und Füßen brannte, nach hinten, wobei er die Hiebe des Stabs eher als Geste der Verbundenheit denn als Feindseligkeit empfand. Dies umso mehr, als plötzlich die Männer aus der Werkstatt den Platz betraten. Sie waren alle, Yosy zählte in den Augenwinkeln vier oder fünf, gut genährt, geradezu fett und zugleich ziemlich muskulös. Der größte von ihnen, wahrscheinlich der Werkstattleiter, trug eine ärmellose Lederweste und hatte ein mit einer Art Fahrradkette zusammengebundenes schwarzes Haarbüschel auf dem ansonsten kahlen Kopf. Kahl waren auch die anderen Köpfe, und die Gesichter besaßen bizarre Tätowierungen. Jeder der Männer hielt noch das Werkzeug, mit dem er gerade gearbeitet hatte, in den Händen, Schraubschlüssel, Metallsäge oder Stahlrohr, lässig hin und her schwenkend. Fast im Gleichschritt kamen sie näher. Schatt schlug nun mit dem Stab vor den Hänger und rief: »Fahrer, komm raus!«

      Er huschte an Yosy vorbei, entriegelte mit hektischem Schlagen die Klappe und ließ sie so laut hinunter knallen, dass die fremden Männer zurückschraken. Dann erschien der Fahrer. Er blinzelte, noch im Hänger stehend, um die Ecke, die Augen fürchterlich gequollen und der Schnurrbart beschmiert. Er versuchte, gleichzeitig wach zu werden und die Situation zu überblicken. Yosy fiel auf, wie bleich, wie grau sein von Dutzenden Einstichen übersätes Gesicht war. Und jetzt roch man auch den Gestank, der mit einer Wolke Fliegen aus dem Anhänger kam und um die Ecke wehte.

      Der Fahrer sprang hinaus, torkelte, knickte ein, hielt sich an der Hängerwand fest und versuchte, zum Stehen zu kommen. Dann spuckte er aus, zog seinen Schnodder mit einem schnarrenden Geräusch die Nase hoch und spuckte und spuckte, ließ dicke Rotzfladen auf den Boden klatschen, die dort ein Mosaik aus dampfenden Placken bildeten. Dann nahm er einen Kamm aus seiner Brusttasche, zog noch einmal die Nase hoch, rotzte erneut, doch diesmal in seine Handfläche, und verteilte alles mit geübten Bewegungen in seiner zerzausten Frisur, bis sie wieder ordentlich lag und glänzte.

      Die Männer aus der Werkstatt näherten sich und umringten Yosy, Schatt und den schwankenden Fahrer. Einer zerrte an Yosys Hemd und war damit offenbar im Einverständnis mit Schatt, der Yosy sofort einen festen Schlag verpasste und »Ausziehen!« schrie. Das musste Yosy gar nicht selbst machen, die fünf Kerle und Schatt zerrten und zogen an ihm, bis er das Gleichgewicht verlor und zur Seite plumpste. Sie wuchteten ihn hin und her und hatten ihm bald Hemd und Hose entrissen. Der mit dem Haarbüschel schnalzte zufrieden und tätschelte Yosy mit seinem riesigen Schraubschlüssel auf den Rücken, wollte ihn nun offensichtlich dazu bewegen, sich wieder aufzurichten. Aber für den Moment war es Yosy ganz recht, einfach so, mit gestreckten Armen und gekrümmten Beinen auf dem heißen Asphalt zu liegen, obwohl ihm davon die Seite brannte.

      Der Fahrer beobachtete alles mit melancholischen Augen, sagte aber nichts, zwirbelte nur an seinem Walrossschnurbart und schien überhaupt mehr mit sich selbst zu tun zu haben. Am Tuscheln und Kichern erkannte Yosy, dass nun auch einige Kinder gekommen waren. Er spürte, wie ihn Fingerchen betatschten, ihn streichelten oder auch zwickten.

      »Hoch!«, brummte Schatt und piekste ihm so oft ins Fleisch, bis Yosy sich mühsam, schwerfällig auf seine vier Füße stellte. Die Kinder sprangen zurück - gespielt verängstigt kreischten sie um die Wette.

      Die Männer bildeten einen engen Kreis um Yosy. Dann packte der mit dem Zopf Yosys linke Fußhand und bog den ganzen Arm rücksichtslos nach hinten, fast bis über den Rücken, klemmte ihn sich unter seine linke Schulter und drehte sich mit dem Rücken zu Yosys Gesicht.

      Und dann sah Yosy aus den Augenwinkeln ein Hufeisen. Einer der Gehilfen reichte es dem Kerl und hielt noch drei weitere fest, außerdem Nägel und einen Hammer.

      Ein Schlag folgte, ein grauenhafter Schmerz in der Hand, Yosy wollte sie wegziehen, aber es ging nicht, mit brutaler Gewalt hielt der Riese den Arm eingeklemmt. Yosy spürte erst kaltes Metall, dann heißes Blut. Schon wurde der Arm, der sein Vorderbein war, fallen gelassen, Yosy musste sich unwillkürlich darauf stützen, so weh es auch tat, er stand für einen Moment wieder auf allen Vieren, »Klack!«, machte der behufte Vorderfuß, »Klack!«, jedes »Klack!« ein stechender Schmerz, und trotzdem stützte Yosy sich auf das Eisen, es war letztlich auszuhalten, er