Jenseits der Todesschwelle. Hubertus Mynarek

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Название Jenseits der Todesschwelle
Автор произведения Hubertus Mynarek
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783742710857



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Theaterstück“, das aus unzähligen Bildern bestand und alle wichtigen Szenen seines Lebens wiedergab. Das Lichtwesen bezeichnet er dabei als Regisseur. „Der ,Regisseur‘ hat seltsamerweise dieses ganze Theaterstück so zusammengestellt, dass ich die letzte Szene meines Lebens, d. h. meinen Tod auf der Straße bei Bellinzona, zuerst sah, während die letzte Szene dieser Vorstellung mein erstes Erlebnis war, nämlich meine Geburt.“85

      Eine Sterbende, die reanimiert wurde, berichtet: „Als das Licht erschien, sagte es als erstes zu mir: ,Was hast du in deinem Leben getan, das du mir jetzt vorweisen kannst?‘ oder so ähnlich. Im selben Augenblick fingen die Rückblenden an. ,Nanu, was ist denn jetzt?' dachte ich, als ich mich plötzlich in meine Kindheit zurückversetzt sah. Von da ab durchschritt ich dann praktisch jedes einzelne Jahr meines Lebens, von meiner frühen Kinderzeit bis zur Gegenwart … Die vergangenen Ereignisse, die ich jetzt noch einmal vor mir sah, rollten in derselben Reihenfolge wie im Leben ab, und sie waren vollkommen lebensecht. Die Bilder wirkten so, als ob man sie draußen in Wirklichkeit vor sich sähe; sie waren ungemein plastisch und in Farbe – und sie waren bewegt. Bei der Szene, als ich mein Spielzeug zerbrach, konnte ich zum Beispiel alle meine Bewegungen sehen. Es war nicht so, dass ich alles aus meiner damaligen Perspektive beobachtet hätte, beileibe nicht. Das kleine Mädchen, das ich sah, schien jemand anderes zu sein, eine Gestalt aus einem Film, irgendeine Kleine unter all den anderen Kindern, die sich da auf dem Spielplatz tummelten. Und doch war ich es selbst. Ich sah mich selbst als Kind in all diesen Situationen, in genau denselben Situationen, die ich erlebt hatte und an die ich mich erinnern kann. Ich hatte das Licht nicht mehr gesehen, während ich mit der Rückblende beschäftigt war. Sobald es mich nach meinem Leben gefragt hatte, war es verschwunden und die Rückschau hatte begonnen. Dennoch wusste ich, dass es die ganze Zeit über bei mir war und mich durch die Rückblenden aus meinem Leben führte, weil ich seine Gegenwart spürte und weil es ab und zu Bemerkungen machte. Es wollte mir mit jedem dieser Rückblicke etwas zeigen. Es ging ihm nicht darum, zu erfahren, was ich in meinem Leben getan hatte – das wusste es bereits –, sondern es suchte ganz bestimmte Ereignisse aus und führte sie mir vor, damit ich sie wieder frisch im Gedächtnis hätte. Es betonte immer wieder, wie wichtig die Liebe sei. Am deutlichsten zeigte es mir das an den Stellen, an denen meine Schwester vorkam, zu der ich immer ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Erst führte mir das Wesen einige Beispiele vor, wo ich mich ihr gegenüber selbstsüchtig verhalten hatte, dann jedoch auch genauso viele Male, wo ich liebevoll und freigebig gewesen war. Es erklärte mir, ich solle versuchen, auch an andere zu denken und mich dabei nach Kräften bemühen. All das enthielt jedoch nicht den geringsten Vorwurf. Zu den Vorfällen, bei denen ich egoistisch gehandelt hatte, meinte das Wesen nur, dass ich auch aus ihnen gelernt hätte. An Wissensfragen schien ihm ebenfalls sehr zu liegen. Wiederholt machte es mich auf Dinge aufmerksam, die mit dem Lernen zu tun hatten, und es erklärte ausdrücklich, dass ich auch in Zukunft weiterlernen würde. Selbst wenn es mich das nächste Mal riefe (zu diesem Zeitpunkt hatte es mir schon gesagt, dass ich zurückkehren würde), ginge die Suche nach Wissen doch immer weiter. Es sprach davon als von einem kontinuierlichen Prozess; deshalb nehme ich an, dass sie auch nach dem Tode andauern wird. Ich glaube, dass das Lichtwesen die Rückblenden mit mir durchging, um mich zu belehren.

      Es war alles überaus seltsam: dass ich dort war, tatsächlich diese Rückblenden sah und mich in so raschem Tempo durch die ganzen Szenen hindurchbewegte. Dennoch waren sie nicht so schnell, dass ich sie nicht mehr hätte aufnehmen können. Das Ganze hat trotzdem nicht lange gedauert, glaube ich. Anscheinend erschien zuerst das Licht, dann verfolgte ich die Rückblenden, und danach kam das Licht zurück. Ich nehme an, dass es auf jeden Fall weniger als fünf Minuten, wahrscheinlich aber mehr als dreißig Sekunden waren; aber genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Angst überkam mich nur an einer einzigen Stelle, nämlich als es schien, als ob ich mein Leben hier nicht zu Ende führen könnte. Trotzdem habe ich mir diese Rückschau gerne angesehen. Sie hat mir Spaß gemacht. Ich habe es genossen, in meine Kindheit zurückzukehren, sie gewissermaßen beinahe noch einmal zu erleben. Ich wurde in die Vergangenheit zurückversetzt und überschaute sie in einer Weise, wie man es eben normalerweise nicht kann.“

      Ein weiterer Bericht eines Wiederbelebten: „Nach dem ganzen Krachen und dem Durchgang durch diesen langen dunklen Tunnel fand ich an seinem Ende alle meine Kindheitsgedanken vor mir ausgebreitet, und mein ganzes Leben blitzte noch einmal vor meinen Augen auf. Es ging eigentlich nicht in Bildern vor sich, mehr auf Gedankenebene, glaube ich. Ich kann es Ihnen nicht genau beschreiben. Es war wirklich alles darin enthalten, ich meine, alle Ereignisse meines Lebens kamen zugleich darin vor. Es war nicht so, dass immer nur eine Sache für sich so ein bisschen aufgeflackert wäre, nein – ich sah mein ganzes Leben auf einmal, alle Erlebnisse gleichzeitig. Meine Gedanken verweilten bei meiner Mutter, bei all den Gelegenheiten, wo ich Unrechtes getan hatte. Nachdem ich die Bosheiten, die ich als Kind begangen hatte, noch einmal vor mir gesehen und mir dann meine Eltern ins Gedächtnis gerufen hatte, da wünschte ich bloß, ich hätte das alles damals nicht getan, und nichts wäre mir lieber gewesen als hingehen und alles ungeschehen machen zu können.“86

      In den folgenden zwei Berichten trat das Erlebnis nicht nach dem klinischen Tod auf, sondern aufgrund von akutem physiologischem Stress oder bei Verletzung.

      „Die ganze Situation hatte sich überraschend entwickelt. Ich hatte mich schon seit etwa vierzehn Tagen nicht wohl gefühlt und leichtes Fieber gehabt, doch in dieser Nacht verschlechterte sich mein Zustand rapide. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich im Bett lag und meine Frau aufwecken wollte, um ihr zu sagen, dass es mir schlechter gehe, aber ich konnte mich auf einmal überhaupt nicht mehr rühren. Mehr noch: ich fand mich mit einem Mal in absoluter Finsternis, im Leeren, wieder, und mein ganzes Leben rollte blitzartig vor mir ab. Es begann in der Zeit, als ich sechs oder sieben war … Es war mir bewusst, dass ich sterben würde, und ich weiß noch, dass ich dachte: Aber ich muss doch meine Familie ernähren! Um keinen Preis wollte ich jetzt sterben, wo ich manches, was ich in meinem Leben getan hatte, bereute und bei einigen anderen Dingen bedauerte, sie unterlassen zu haben. Diese Rückblende lief in Form von >geistigen Bildern< ab, würde ich sagen, die jedoch verglichen mit gewöhnlichen Bildern ungleich lebendiger waren. Ich erlebte nur die Höhepunkte, und zwar so rasend schnell, dass es mir vorkam, als durchblätterte ich im Lauf von Sekunden mühelos das ganze Buch meines Lebens. Es zog wie ein ungeheuer rasch ablaufender Film an mir vorüber, und doch war ich in der Lage, alles richtig aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Bilder riefen jedoch nicht die Gefühle der Vergangenheit noch einmal in mir wach, weil es dafür viel zu schnell ging. Während dieses Erlebnisses sah ich sonst nichts weiter. Abgesehen von den Bildern befand ich mich in äußerster Finsternis. Doch fühlte ich die ganze Zeit über ganz deutlich die Gegenwart eines sehr machtvollen, schrankenlos liebenden Wesens in meiner Nähe. Es ist wirklich faszinierend: dank diesem Erlebnis hätte ich in der Zeit meiner Genesung jedem ausführlich und gründlich über jede kleine Einzelheit in meinem Leben Auskunft geben können. Es war eine beeindruckende Erfahrung. Sie ist schwer in Worte zu fassen, weil alles so blitzschnell abläuft, doch ist sie von außerordentlicher Klarheit.“

      Es junger Kriegsteilnehmer schildert seine Lebensrückschau: „Als ich in Vietnam diente, wurde ich verwundet, was dazu führte, dass ich >starb<. Die ganze Zeit über erlebte ich jedoch ganz genau alles mit, was mit mir vorging. Als es passierte und ich von sechs Maschinengewehrkugeln getroffen wurde, geriet ich überhaupt nicht außer Fassung. Im Herzen fühlte ich mich nach der Verwundung tatsächlich erleichtert. Ich empfand Wohlbehagen. Das Ganze hatte nichts Beängstigendes für mich. In dem Augenblick, als ich getroffen wurde, erschien auf einmal mein ganzes Leben als Bilderbogen vor mir. Ich sah mich in die Zeit zurückversetzt, als ich noch ein kleines Kind war, und von da ab bewegten sich die Bilder weiter durch mein ganzes Leben. Ich konnte mich wirklich an alles erinnern. Alles stand so klar und lebendig vor mir. Von den frühesten Ereignissen, an die ich mich gerade noch eben erinnern kann, bis herauf zur Gegenwart war alles genauestens aufgezeichnet, und es lief in Windeseile vor mir ab. Das Ganze war überhaupt nicht unangenehm; ich empfand dabei weder Bedauern noch irgendwelche herabsetzenden Gefühle mir selbst gegenüber. Der treffendste Vergleich, der mir dazu einfallt, wäre der mit einer Bilderserie, einer Dia-Reihe vielleicht. Es war etwa so, als ob jemand Dias vor mir projiziert hätte, in außerordentlich raschem Tempo.“87

      Es ist in einigen Berichten