Название | Blutige Fäden |
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Автор произведения | Fabian Holting |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738039313 |
»Das weiß keiner. Der hat sich hier seit zwei oder drei Wochen nicht mehr blicken lassen. Heute Morgen war sogar seine Mutter hier und hat nach ihm gefragt.«
»Ist es das erste Mal, dass er mehrere Wochen lang nicht auftaucht?«
Ihre Füße schwebten wieder zurück zum Boden. Sie erhob sich und unter ihrem T-Shirt wackelten ihre festen Brüste. Zum Kühlschrank gewandt antwortete sie mir auf meine Frage. »Ich glaube nicht, aber ich wohne hier erst seit einem halben Jahr. Übrigens hätte dein Bekannter heute Putzdienst gehabt. Dieses Mal habe ich es für ihn erledigt.« Während sie den Kühlschrank öffnete, betrachtete ich ihre Pobacken. Sie drehte sich wieder zu mir um und fuhr sich durch ihre stufig geschnittenen, strohblonden Haare. Erst jetzt schien sie den Schnellhefter in meiner Hand zu bemerken.
»Studierst du auch in Hamburg?«, fragte sie mich.
»Ich habe mein Jurastudium vor einiger Zeit abgebrochen«, gab ich ehrlich zur Antwort.
Sie betrachtete mich einen Augenblick und entdeckte meine Narbe über dem Auge. »Wo bist du denn gegengelaufen?«
»Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung«, antwortete ich eher beiläufig. »Was studierst du eigentlich?«, fragte ich sie gleich darauf.
»Im zweiten Semester Biologie und Deutsch auf Lehramt.« Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand. Die gleiche Uhr hatte ich in meinem Büro hängen.
»Ich muss gleich noch los. Also, wie gesagt, Sascha ist nicht hier.« Sie sah an mir vorbei. »Hallo Thomas.«
Ich drehte mich um und blickte in ein misstrauisches Gesicht.
»Ein Freund von dir?«, fragte Thomas.
»Nein, von Sascha«, antwortete sie.
»Ach, schau an, dann weißt du vielleicht, wo er steckt?«
Ich verzog die Mundwinkel und zuckte mit den Achseln. Thomas war anscheinend ein richtiger Kotzbrocken. Er musste einige Semester mehr auf dem Buckel haben, als seine Mitbewohnerin, sofern er überhaupt hier wohnte. Sein Blick war seltsam. Vielleicht hatte er gekifft. Mit seinen kurzen, an der Seite gescheitelten Haaren, die von Gel oder Haarwasser feucht glänzten, sah er aus, wie ein typischer BWL-Student. Er blickte mich böse an. Miss Hotpants versuchte zu schlichten. »Er möchte selbst gerne wissen, wo Sascha ist.«
»Schuldet er dir auch Geld?« Seine Stimme klang aggressiv.
»Nein«, antwortete ich. Vielleicht hatte Thomas auch gekokst. Eine Alkoholfahne hätte ich sicher bemerkt, trotz des Geruchs nach Mülleimer und Lauchzwiebeln, der nach wie vor in der Küche hing.
»Ich muss los«, sagte Miss Hotpants.
»Wie heißt du überhaupt«, fragte ich.
»Melanie«, antwortete sie mit einem Lächeln und wirkte geschmeichelt.
»Vielleicht hast du Lust, mit mir mal einen Kaffee trinken zu gehen?«
»Warum nicht, aber jetzt muss ich los.«
Thomas starrte mich an, als hätte ich Melanie gefragt, ob sie mit mir gelegentlich mal ins Bett gehen wolle. Vielleicht hatte er ein Auge auf sie geworfen. Ich fischte den Zimmerschlüssel aus meiner Hosentasche. Dabei hielt ich den Schnellhefter so, dass Melanie das Foto von Sascha sehen konnte.
»Hey, du hast ja ein Foto von Sascha dabei. Bist du von der Polizei?«, fragte mich Melanie entgeistert. Thomas wartete meine Antwort nicht mehr ab und verschwand klammheimlich durch die Küchentür.
»Warte doch mal«, rief ich ihm nach, doch da hörte ich schon die Tür zum Treppenhaus klappen und weg war er. Natürlich hätte ich ihn gerne gefragt, warum Sascha sich bei ihm Geld geliehen hatte. Aber das musste jetzt warten. Ich sah wieder Melanie an, die mit den Achseln zuckte und noch immer auf eine Antwort von mir wartete.
»Nein, ich bin kein Bulle, aber Saschas Mutter hat mich darum gebeten, herauszufinden, wo ihr Sohn abgeblieben ist. Sie macht sich große Sorgen um ihn.«
»Hey, dann bist du also ein Privatdetektiv.« Sie warf noch einmal einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand.
»Tschüss«, zwitscherte sie und huschte an mir vorbei. Im Türrahmen blieb sie plötzlich stehen und drehte sich zu mir um. »Aber komm‘ doch morgen vorbei, sagen wir so gegen vier Uhr, dann können wir einen Kaffee trinken gehen.«
Ich widersprach nicht. Sie verließ die Küche und zwei Sekunden später folgte ich ihr in den Flur. Ich sah gerade noch, wie sie in ihrem Zimmer verschwand. Jetzt musste ich mir Saschas Bude vornehmen. Ich betrachtete den Schlüssel in meiner Hand und dann die ganzen anderen geschlossenen Türen, das heißt, die Badezimmertür war nur angelehnt. Wo war denn nur Saschas Zimmer? Ich klopfte bei Melanie an. Sie öffnete mir umgehend. In der Hand hielt sie ein frisches Unterhemd. Sonst war sie nackt. Nicht einmal einen Slip hatte sie am Leib.
»Was denn jetzt noch?«, sagte sie, ohne sich die geringste Mühe zu geben, etwas von ihrem attraktiven Körper zu verbergen.
»Wo ist Saschas Zimmer?«
Sie streckte den Arm aus. »Zweite Tür rechts.«
Ich sah woanders hin und vernahm nur ihre Worte. »Danke«, sagte ich geistesabwesend. Ihre Tür schloss sich wieder. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und bemerkte, dass die Tür zu Saschas Zimmer gar nicht abgeschlossen war. Seltsam, dachte ich, aber wahrscheinlich hatte seine Mutter es heute Morgen vergessen. Ich trat ein. Ein Studentenzimmer wie jedes andere auch, allerdings war das Bett gemacht und es war aufgeräumter als bei mir zu Hause. Direkt neben dem Bett stand der Schreibtisch, der aus zwei Rollcontainern und einer stabverleimten Buchenholzplatte bestand. Marke Eigenbau also. Daneben ein halbhohes Billy-Regal, der Studentenklassiker seit mehr als dreißig Jahren. In der anderen Ecke, am Fußende des so schön gemachten Betts, ein platzsparender Sessel, in dem Bud Spencer nicht hätte Platz nehmen können, ohne hinterher von der Feuerwehr befreit werden zu müssen. Und natürlich ein Kleiderschrank mit Schiebetüren, der vermutlich noch aus Saschas Kinderzimmer stammte. Ich nahm mir den Schreibtisch vor, der genauso gut aufgeräumt war, wie das ganze Zimmer. Vielleicht hatte auch seine Mutter Hand angelegt, um sich und ihrem Sohn eine Peinlichkeit zu ersparen. Ich musste sie unbedingt danach fragen. Selbstverständlich hätte ich gerne gewusst, wie Sascha sein Zimmer hinterlassen hatte. So etwas sagt manchmal mehr über den Gemütszustand eines Menschen aus, als tausend Worte. Aufgeräumt, wie alles war, musste ich zum ersten Mal daran denken, dass Sascha sich auch das Leben genommen haben könnte. Eine Stiftschale mit Kugelschreibern und Druckbleistiften war genau mittig auf der Tischplatte angeordnet. Dann war da noch ein schicker Briefbeschwerer aus poliertem Marmor in der Form eines überdimensionierten Springers. Die häufig spielentscheidende Figur eines versierten Schachspielers also. Darunter klemmten ein paar Bons. Ich nahm sie mir. Auf dem ersten Bon wurden ein USB-Ladegerät und ein MP3-Player abgerechnet. Der zweite Bon listete zwei Badeshorts und ein Handtuch auf. Diese beiden Bons waren auf den gleichen Tag datiert. Ich rechnete schnell nach. Er hatte sich diese Sachen zwei Tage bevor seine Mutter das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte gekauft. Wahrscheinlich lag ich mit meiner ersten Annahme doch goldrichtig. Sascha hatte die Schnauze voll gehabt und war in den Süden aufgebrochen, um sich die Sonne auf den Bauch knallen zu lassen und dabei vernünftige Musik zu hören. Ich suchte nach einer weiteren Bestätigung für meine Theorie. Ich nahm mir zwei unbeschriftete Leitz-Ordner aus dem Billy-Regal vor. Zu meiner Enttäuschung hatte er dort nur Skripte und Arbeitsblätter zu diversen Vorlesungen und Seminaren