Название | Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel |
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Автор произведения | Iris Weitkamp |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738055764 |
Folgsam begann die Band mit einer rockigen Version von ‚Against The Grain’. Garth Brooks stellte glücklicherweise ein unverfängliches Thema dar.
Zu ihrem fünften Krankengymnastiktermin erschien Inga eine halbe Stunde zu früh. Es war ein heißer Maitag, und sie setzte sich auf die Bank im grünen Innenhof. Der Springbrunnen plätscherte, eine Amsel sang. Im Haus knarrten Holzdielen. Inga stellte sich vor, wie Michael Levin den kleinen Flur durchquerte und mit dem nächsten Patienten hinter der Tür mit der Aufschrift ‚Sanitätsbaracke’ verschwand. Sie kramte ihre Unterlagen für die Anti-Atom-Gruppe aus der Tasche. Eigentlich hatte sie sich viel mehr ehrenamtlich engagieren wollen, solange sie ohne feste Arbeit war. Doch die Zeit verflog nur so. Ihre Tage waren ausgefüllt mit verschiedenen Aushilfsjobs, mit spontanen Einladungen und Besuchen, Fahrradtouren und Arbeiten im Garten ... Nun aber! Inga begann, einige Ideen für die nächste Anti-Atom-Aktion zu notieren.
Nach wenigen Stichworten jedoch schweiften ihre Gedanken wieder ab zu dem Mann, den sie liebte wie nie einen Menschen zuvor, und den sie gleich wiedersehen würde. Sabije versuchte beharrlich, ihn ihr auszureden. ‚Denke doch logisch, seine Wirkung auf dich kommt nur daher, dass er deinem Körper etwas Gutes tut’, argumentierte sie immer wieder. ‚Sei vernünftig, der Mann lebt in einer festen Beziehung’. Und Inga bemühte sich, logisch zu denken und vernünftig zu sein.
Aber schien es denn vernünftig, diese Liebe einfach abzuschütteln wie ein paar Regentropfen? War es nicht ein Glück, ein Geschenk, jemandem begegnet zu sein, der sie so sehr begeisterte? Selbst wenn er bereits eine Frau hatte, Inga würde sich auch mit einer Nebenrolle in seinem Leben zufrieden geben. Nur eine einzige Nacht, einen Kuss, jeden Krümel, den sie bekommen konnte, würde sie nehmen und nicht nach dem Morgen fragen. Der Gedanke, für ihn nichts als eine typische schwärmende Patientin zu sein, nagte an ihr. So stimmte es ja nicht. Schließlich hatte sie sich in ihn verliebt, bevor er mit Ihrer Behandlung begann. Sie wollte, dass er das wusste. Dass sie nicht eine von vielen war. Dass es anders war.
„Tut mir leid, Sie zu stören.“ In der offenen Haustür stand Michael Levin und lächelte sein gewinnendes Lächeln.
Inga lächelte zurück, versank in seinen graublauen Augen. Er stand einfach nur da und sah sie an, wartete geduldig, dass sie ihre Sachen zusammenpackte und ihm ins Haus folgte. Sie betrachtete sein Gesicht, seine entspannte Haltung. Diese lebendigen Augen ... In der linken Wange hatte der Mann sogar ein Grübchen, das war einfach nicht fair. Heute würde sie es tun.
Seit einer Woche hatte sie die Worte wieder und wieder geübt, im Kopf hin und her gewälzt. Wenn sie heute nichts sagte, würde sie es niemals wagen. Und es womöglich ihr ganzes Leben lang bereuen. Aber ach - wie anfangen? Wie sollte sie einen passenden Moment und den richtigen Ton finden? Eine Sitzung beim Physiotherapeuten lieferte wenig geeignete Stichwörter. ‚Dehnen Sie nicht über den Schmerz hinaus, Ihre Gesundheit ist das Wichtigste.’ - ‚Aber noch wichtiger als meine Gesundheit sind Sie’ ...? Himmel, das klang ja geradezu unterirdisch schlecht.
Was mach ich nur, was mach ich nur ... Aufgeregt und furchtsam wie vor dem ersten Sprung ins tiefe Becken irrten Ingas Gedanken hin und her. Schließlich gab sie sich selbst einen kräftigen Schubs und stürzte sich kopfüber hinein.
„Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen.“ Jetzt gab es kein Zurück, keinen festen Boden mehr unter den Füßen. „Ich habe mich in Sie verliebt. Auf den allerersten Blick.“
Du lieber Himmel, ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich gesagt habe, dachte Inga, während sie sich eine ganze Menge unsortiertes Zeug reden hörte über seine Augen und ihre Gefühle und den Blumenkübel im Hof. Wie im Nichtschwimmerbecken strampelte sie wild herum, um sich irgendwie über Wasser zu halten. Endlich schaffte sie es mit Mühe, ihren Redefluss zu stoppen. Für einen Moment bekam sie Angst, nie wieder normal atmen zu können. Vorsichtig blinzelte sie zu ihm herüber.
Ohne eine Spur von Verlegenheit erwiderte er ihren Blick, antwortete mit seiner normalen, freundlichen Stimme: „Das muss ich erstmal eine Weile sacken lassen.“
Auf einmal fühlte Inga sich überhaupt nicht mehr ängstlich und verlegen. Er war nicht zurückgeprallt, nicht peinlich berührt, sondern begegnete dem unerwarteten Liebeskuddelmuddel ganz entspannt und offen. So, wie er anscheinend allem im Leben begegnete, in einer aufgeschlossenen, ruhigen, ja: demütigen Weise.
Das Wort ‚Demut’ klang für Inga bisher eher negativ geprägt, nach Unterwerfung oder blindem Gehorsam. Nun fiel ihr der Begriff wieder ein, als sie versuchte, seine Haltung in Worte zu fassen. Demut, das schien die passende Bezeichnung für Michael Levins ruhige Akzeptanz dem Leben gegenüber und seine seltene Fähigkeit, sich selbst zurücknehmen zu können, ohne sich aufzugeben.
„Sind Sie okay?“ fragte er behutsam, „Kann ich Ihnen etwas dazu sagen?“
Inga nickte stumm. Sie wagte nicht, ihn dabei anzusehen und senkte den Blick auf seine Hände. Am rechten Handgelenk trug er zwei Lederbänder, ein geflochtenes und eines mit silberfarbenen Perlen und Knoten. Sie fragte sich, ob es wohl von demselben Silberschmied wie sein Amulett stammte, und ob die Anordnung der Perlen etwas bedeutete.
„Mit einer Frau, die ich als Patientin kennen gelernt habe, würde ich grundsätzlich nichts anfangen. Zwischen Therapeut und Patient besteht nun einmal eine einseitige Abhängigkeit. Ich weiß ziemlich viel von Ihnen, Sie können mir ganz offen alle Ihre Krankheits- und Lebensgeschichten erzählen. Aber ich selber gebe in der Praxis nichts von dem Michael preis, der ich privat bin.“
Das ist nicht wahr, begehrte Inga innerlich auf. Du hast mir so viel von dir erzählt, was dir wichtig ist und was du nicht magst. Allein die Bemerkungen, die du in unseren Gesprächen machst, die Art, wie diese Räume eingerichtet sind und wie du aus dem Fenster siehst ... Spontan wollte sie widersprechen, doch es gelang ihr, sich zu bremsen. Sie würde lediglich erreichen, dass er ihr gegenüber künftig weniger mitteilsam wäre.
„Wir werden ausprobieren, ob Ihre Behandlung noch funktioniert. Einen Menschen, der mir zu nahe steht, könnte ich nicht behandeln. Bei meinem Bruder zum Beispiel fand ich es ziemlich schwierig. Aber ich glaube, dass es klappen wird. Und Sie müssen sehen, ob es für Sie in Ordnung ist, sich weiter von mir behandeln zu lassen.“
Die Übungen liefen dann genau wie immer ab. Sanft und umsichtig beugte und dehnte er ihre Hand, gab die Anweisungen mit leiser Stimme, erwiderte ihr Lächeln. Als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten, fragte er:
„Und? War es schwierig für Sie?“
Inga fand die Frage abwegig, war ihre Situation doch seit dem ersten Termin unverändert. Aber dann fiel ihr ein, dass es für ihn Neuland darstellte, was er da betreten musste.
„Nein, ist in Ordnung.“
„Ja, den Eindruck hab ich auch. Bis zum nächsten Mal dann.“ Er öffnete ihr die Tür und begleitete sie in den Hof.
Neben dem Springbrunnen drehte sie sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. „Sie müssen mich nicht retten, wissen Sie.“
Michael Levin lächelte und zeigte dabei sein Grübchen.
Während sie durch das Tor auf die Straße ging, fühlte sie sich froh und traurig zugleich. In dem Moment, als sie ihm ihre Liebe erklärte, war das wie ein Abschied gewesen. Ein Abschied wovon, überlegte Inga. Von einem Traum.
Indem sie den Mund aufmachte, war sie von ihren Träumen, in denen alles möglich schien, in die Realität gewechselt. Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er sie in seine Arme reißen und küssen würde. Womit dann? Mit einer Reaktion, die ihr einen Vorwand geboten hätte, ihn zu hassen? Die souveräne Art, wie er mit der Situation umgegangen war, ließ ihn nur noch liebenswerter erscheinen. Und gleichzeitig unerreichbarer.
Inga fuhr geradewegs zum Aussichtsturm an der Elbe. Egal, in welcher Stimmung sie die Stufen empor stieg, stets schienen mit jedem Schritt die Probleme, die Wut und die Angst und die Traurigkeit weiter zurück zu bleiben, kleiner zu werden wie Steine auf dem Waldboden. Unzählige Male war sie schon hier gewesen, und nie verfehlte die weite Landschaft ihre beruhigende