Название | Im Land der drei Zypressen |
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Автор произведения | Ute Christoph |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847606192 |
Mir war, als würde ich Geschichte atmen.
Ich gelangte an ein Backhaus, ein kleines, rundes Bruchsteingebäude ohne Fenster. Die Tür war verschlossen. Ob irgendwer im Dorf es heute noch benutzte?
Über einen Platz schlendernd stieß ich auf die Überreste eines Hauses, das einmal sehr groß gewesen sein musste. Was war das gewesen? Eine Kirche? Warum hatte man sie verfallen lassen? Oder war sie abgebrannt?
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und sah aus wie geschmolzenes Gold. Es sollte warm werden, hatte Angele gesagt, nicht heiß. Mir war heiß. Als Deutsche und Südfranzösin maßen wir augenscheinlich mit unterschiedlichen Maßstäben. Ich zog den leichten Pulli aus, den ich über meinem T-Shirt getragen hatte, und knotete die Ärmel um die Hüften. Ein warmer Wind liebkoste meine nackte Haut. Ich schloss die Augen und genoss mit den verbleibenden Sinnen.
Als ich wieder aufsah, ließ ich meinen Blick über die Hügelkette jenseits der Landstraße schweifen. An einer Ansammlung von Ruinen hielt ich inne – es waren zu wenige für ein ganzes Dorf, aber doch zu viele für ein einzelnes Haus. Das könnte ein Weiler gewesen sein. Ich kniff die Augen feste zusammen, um besser sehen zu können. Inmitten der Steinansammlung zählte ich drei nebeneinander stehende, hoch gewachsene Zypressen. Ich musste da hin.
Der rote Golf holperte den steinigen Weg des Hangs hoch, den ich vor wenigen Minuten von Olargues aus entdeckt hatte. Von der Landstraße aus waren nur die drei Zypressen zu sehen gewesen, und so hatte ich den nächstmöglichen Pfad genommen, von dem ich glaubte, er könnte zu den Ruinen führen.
Ganz plötzlich endete die Straße vor einer Mauer aus wild wuchernden Hecken. Ich nahm den Rucksack mit dem Lunchpaket, schloss den Wagen ab und orientierte mich. Ich fand eine Lücke in den Hecken, durch die ich mich mühsam hindurchzwängte, und stieß auf einen schmalen Trampelpfad, der mich um die Zypressen und Ruinen herumzuführen schien.
Ließ mich meine Orientierung im Stich? Hatte ich wirklich die richtige Richtung eingeschlagen?
Ich wollte bereits umkehren, als ich glaubte, das Ende des Pfades zu sehen. Ich begann zu laufen. Und dann blieb ich wie angewurzelt stehen und schluckte. Zwei wie mit dem Lineal gezogene Reihen Schatten spendender Rotbuchen säumten eine Allee üppig wachsender Wildkräuter, die sich auch zwischen den Bäumen angesiedelt hatten. Ein unglaublicher Anblick!
Das muss eine Zufahrt gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf, eine Zufahrt zu einem herrschaftlichen Hof. Nur Eigentümer großer Anwesen bepflanzten Zufahrten mit großen Bäumen.
Durch Wildkräuter und Dornen kämpfte ich mich über den scheinbar endlosen, unsichtbaren Weg zwischen den Rotbuchen.
Meine Augen kletterten an den Stämmen der Bäume empor bis in die Kronen, während ich mit den Händen die hüfthohen Gräser und Dornen vor mir auseinander schob. Ich atmete angestrengt und stöhnte vor Schmerz kurz auf, wenn die spitzen Dornen kleine blutige Striemen in meine Handflächen ritzten.
Am Ende der Allee streckten sich die drei Zypressen machtvoll vor den Resten einer Häuserfassade in den Himmel. Langsam ging ich auf sie zu. Das Blut pulsierte in meinen Adern.
Plötzlich stieß mein Fuß gegen ein Hindernis. Ich ging in die Knie und strich mit der Hand durch das hohe Gras. Eine Stufe, dann eine Zweite. Unter all den wuchernden Gräsern befand sich eine Treppe.
Vorsichtig bewegte ich mich weiter.
Ich ertastete die verborgenen Stufen mit Händen und Füßen und erreichte eine Öffnung in der Fassade, wo einst die Eingangstür gewesen sein mochte.
Andächtig verharrte ich auf der Stelle. Mein Herz schlug vor Aufregung so laut, dass ich es in den Ohren hörte. Meine Hände schwitzten.
Das musste einmal ein sehr großes Haus gewesen sein. Jetzt waren seine Wände bis auf die Überreste eingestürzt. Mehrere Steinhaufen lagen verstreut zwischen unkultiviert wachsenden Bäumen, Pflanzen und Gräsern.
Ich betrat die Ruine und drehte mich nach links. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich erneut gegen etwas stieß. Konnte das eine Wand gewesen sein? Ich kletterte auf das Hindernis und balancierte vorwärts. Ja, das schien eine Wand gewesen zu sein. Plötzlich war die Mauer zu Ende. Ich kletterte vorsichtig ins Gras. Etwa zwei Meter weiter setzten sich die Mauerreste fort. Zwei Meter! Hatte sich hier eine Tür befunden? Eine große Doppeltür vielleicht? Eine Flügeltür? Etwa drei Meter weiter bog die Mauer unter mir unvermittelt in einem spitzen 90-Grad-Winkel nach links.
Zwei weitere Male stieg ich ab und wieder auf.
Hinter dem ersten Zimmer lag ein zweiter Raum, mit einer Verbindungstür. Ich überlegte, welchen Zweck das zweite Loch in der Mauer gehabt haben könnte. Vielleicht hatte sich dort ein Kamin befunden? Waren dies ein Speiseraum und eine dahinter liegende Küche gewesen?
Weitere Zimmer konnte es auf dieser Seite nicht geben, die hintere Hauswand lag dafür zu nah.
Ich ging zur rechten Seite des Hauses. Es dauerte, bevor ich wieder auf kniehohe Überreste einer Wand stieß.
Warum war zwischen der linken Wand mit der großen Schwingtür, wie ich vermutete, und der rechten Wand so viel Platz?
Ich grübelte. Um in ein Obergeschoss zu kommen, musste es eine Treppe gegeben haben. Ja, das war es, eine breite, geschwungene Holztreppe, die viel Platz benötigte.
Ich schritt zwei weitere Räume ab.
Das Haupthaus eines großen, herrschaftlichen Anwesens, dachte ich. Dazu passend die Zufahrt mit den Rotbuchen.
Durch eine Öffnung in der hinteren, bis auf Hüfthöhe zerbröckelten Mauer verließ ich das Haupthaus und lief zwischen gelben Ginsterbüschen und blauen Bodendeckern über Bruchsteine und feuchtes Moos, bis ich auf die Überreste eines Brunnens stieß. Ich nahm einen Stein, ließ ihn in die Tiefe fallen und lauschte seinem harten Aufprall. Kein Wasser, der Brunnen war trocken.
Es gab weitere Ruinen, kleiner als das hinter mir liegende Haus. Waren das Ställe gewesen? Oder Wohnhäuser? Oder beides?
Gedankenverloren schlenderte ich zurück, vorbei an dem ausgetrockneten Brunnen im Garten, durch das Haupthaus und setzte mich in den Schatten der drei Zypressen.
Angele hatte belegte Brote, Obst und eine kleine Flasche Wasser in den Rucksack gepackt. Während ich genüsslich aß, betrachtete ich die Fassade oder das, was davon übrig geblieben war.
Ich wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können, um ungesehen zu beobachten, was hier passiert war. Welche Menschen hatten hier gelebt und was hatten sie getan? Waren sie glücklich gewesen? Und warum waren sie gegangen? Warum hatten sie das Gut ihrem Schicksal überlassen? – dem Schicksal unaufhörlichen Verfalls und kalten Vergessens.
Ich massierte meinen schmerzenden Nacken und trank einen Schluck Wasser. Den Wunsch, als Beobachter in die Vergangenheit zu reisen, hatte ich schon als Kind gehabt. Einfach unbemerkt auf einer Stelle zu sitzen und zu betrachten, wie sich das hundert Jahre alte Haus, in dem ich aufwuchs, in einer rückwärtigen Zeitraffer veränderte: Wie waren die Menschen, die hier gelebt hatten? Welche Kleidung hatten sie getragen? Wie viele Kinder waren in diesem Haus geboren worden? Wie viele Menschen gestorben? Wie hatten sie sich gefühlt, nach einem Tag voller harter Arbeit? In ihren Küchen, in denen sie aßen, während über ihren Köpfen die Wäsche trocknete. Waren sie beim Abendbrot gesprächig oder müde und schweigsam gewesen? Was hatten sie nach dem Essen getan, in der Zeit, als es noch keine Fernseher gab und Radios und Bücher teuer waren? Hatten die Männer überlieferte Geschichten erzählt, während die Frauen Löcher in fadenscheinigen Strümpfen stopften? Welche baulichen Veränderungen hatte das Haus im Laufe des Jahrhunderts erlebt? Hatte es eine Einfahrt zum Hof gegeben, aus dem später der Garten wurde,