Verlaufsänderungen. Wilhelm Koch-Bode

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Название Verlaufsänderungen
Автор произведения Wilhelm Koch-Bode
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738010633



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auf beiden Seiten. Es blieb allerdings nur bei diesem einen Mal. Auch in ihren Urlaubsaktivitäten stimmten sie sich nicht ab, sondern verfolgten konsequent das eigene Programm: Schulte lief exzessiv; abseits touristischer Routen hatte er dabei ein paar einheimische Basketballkumpel gefunden. Regina lag meist lesend am Pool. Es kam nur zu zwei, drei Verabredungen, bei denen sie tagsüber etwas unternahmen: mit einem Leihwagen das gebirgige Landesinnere erkunden, durch Fischerdörfer und über Bauernmärkte schlendern, Basiliken besichtigen. Eingespielt hatten sich aber die Abende, die sie zusammen in einer Tapas-Bar oder Bodega verbrachten; letzte Station war anschließend die Hotel-Lounge, in der sie die traurigen jungen Eheleute aus Kiel vorfanden. Diesen, die sich über nichts freuen konnten, schien der Kontakt recht oder wenigstens nicht ungelegen zu sein. Vor ihren Apartments angekommen, verabschiedeten sie sich dann stets eilig voneinander - mit knappen Wünschen für eine erholsame Nachtruhe, dabei strikt jeden Körperkontakt vermeidend. Stillschweigend schienen sie darin übereinzustimmen, dass einmal = keinmal bedeutet und dass es wohl klüger ist, über das Erlebte kein Wort mehr zu verlieren - aus vielerlei Gründen. Zwar spielte gegenseitige Anziehung eine Rolle, aber es fehlte das Quäntchen Besessenheit, um nicht voneinander lassen zu können. In seiner Habilitationsschrift, Staat, Sozialräume und individuelle Netzwerke als politische Interaktions- und Konfliktfelder und subjektive Reflexivität, hatte Schulte den Bürger mit einem knäuelartigen Gebilde aus ineinander verwobenen Einzelfädchen verglichen, von denen jedes ein bestimmtes Existenzmerkmal repräsentiert. Neben den Schnüren, die so zu einer komplexen Einheit zusammengeballt sind, gibt es zahllose Stränge nach außen, an denen das Gebilde (= Individuum) hängt und die es mit der Gemeinschaft, das heißt letztlich auch mit dem Staat, verbinden - einschätzbar auf einer von ihm erarbeiteten Intensitätsskala von 1 bis 10: 1 = lose, 2 = distanziert, 3 = angenähert, 4 = locker, 5 = verstärkt, 6 = eng, 7 = stabil, 8 = intensiv, 9 = fixiert, 10 = unlösbar. Ferner baumeln aus dem Knäuel unendlich viele Bänder, deren lose Enden sich mit denen fremder Exemplare verbinden können - so wie es beispielsweise Heiligabend mit den beiden geschah. Und Schulte - er hatte einfach Angst davor, dass sich die Fäden mit den losen Enden, an denen ihrer beider Existenzen hingen und die im Kontakt kurzfristig Stufe 4 erreicht hatten, durch fortgesetzten engen Umgang miteinander allzu fest verknoten könnten, was wiederum einige Folgeprobleme aufwerfen würde. Regina wünschte sich eigentlich, dass die gerade erfahrene Nähe anhalten, womöglich noch mehr ausgelebt werden möge; aber gleichzeitig rationalisierte sie ganz stark: zu jung der Mann, anderweitig gebunden, Perspektiven fraglich, keine emotionalen Verstrickungen gewollt, politisch kontroverse Einstellungen (sie im bürgerlich-konservativen, er im linken Spektrum beheimatet). Für Schulte war die Begegnung eine zwar inspirierende, aber unaufgeregte, nicht lange nachwirkende Urlaubsfreundschaft (zunächst auf Stufe 3 zurückgefallen, nach etwa einem Jahr auf 1). Die junge Frau aus Kiel hatte einmal geäußert, wie sehr ihr die starke innere Verbundenheit und reife Abgeklärtheit bei Schulte und Regina auffalle. Sie bewundere die ruhevolle Harmonie, die von ihnen als Paar ausgehe. Regina und Schulte hatten diese Beschreibung lächelnd hingenommen. Warum die Leute enttäuschen? Warum ihnen erklären, dass es nicht genug Schnittmengen zwischen ihnen gab, um dauerhaft Nähe zu schaffen (etwa wie auf Stufe 6, 7 oder 8)?

      Nach dem Urlaub schickte Regina ihm noch ein paar Fotos und er rief sie an, um sich dafür zu bedanken. Das war ‘s dann. In den fast dreißig Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte es keine weiteren Signale gegeben. Aber jetzt war Schulte doch neugierig geworden.

      Nach dem ersten Klingelton nahm sie ab. Schulte hier - Frau Freytag, Sie haben mich angerufen -, was kann ich für Sie tun - aber sagen Sie, wie geht es Ihrer Mutter? Regina war, so erfuhr er nun, vor vier Wochen 74jährig gestorben (nach längerem, voller Gelasenheit hingenommenem Krebsleiden). Sie, Friederike, sei ihre Tochter, das einzige Kind. Und Ihr Herr Vater? wollte Schulte wissen, er lebt doch hoffentlich noch? Ja, Herr Schulte, er lebt noch. Mein Vater nämlich, also mein leiblicher Vater, das … ja, das sind Sie, Herr Schulte. Diese Worte lösten bei ihm einen Moment des Stockens der Vitalfunktionen aus, gefolgt von einer Stoßwelle, die machtvoll durch seinen Körper rollte: vom Solarplexus aus zuerst in den Unterleib fallend, von dort in den Oberbauch aufsteigend und weiter in den Brustkorb hochquellend, wo sie die Atmung beengte und ihn nach Luft schnappen ließ. Unmittelbar danach konnte er befreit ausatmen, denn die Wellenfront sackte schlagartig zurück in den Unterleib, um dort sachte abzuebben. Unterdessen pulsten warme Ströme bis in seine Fuß- und Fingerspitzen, durchzogen seine Kopfhaut und brachten sie zum Kribbeln. Aber noch während der Aufruhr im Körper langsam abklang, begann schon die mentale Bearbeitung des Gehörten, dessen Wahrheitsgehalt Schulte nicht eine Sekunde lang bezweifelte: das Begreifen, sich reproduziert zu haben; Reflexionen, welche neuartigen lebensbedeutsamen Aspekte jetzt eine Rolle spielen mochten; Fragen nach möglichen Auswirkungen; Gedanken über rechtliche Konsequenzen. Vor allem aber musste er den Gefühlssturm bewältigen, der jetzt durch ihn hindurchfegte. Verschiedenartigste Affekte brachen blitzlichtartig auf, wurden durcheinandergerüttelt, kollidierten, mischten sich breiig, versiegten oder gewannen schließlich die Oberhand: Nach ein paar Sekunden des Erschreckens folgten Momente fassungslosen Staunens, in die sich Aufregung und Erwartung mischten und zu einem Bogen spannten. Dieser wurde stramm und strammer, bis er urplötzlich in Freude, Heiterkeit und Stolz auseinanderschnellte, dabei gleichzeitig Enttäuschung, Unmut, und Trauer - ja, auch Wut - aufwirbelte. Immerhin war ihm die Existenz dieses ihm biologisch doch so nahestehenden Geschöpfes so unendlich lange vorenthalten worden! Innerhalb einer Minute hatte sich das in seiner Innenwelt tobende Knäuel allerdings schon wieder entwirrt. Mit zurückgewonnener Fassung, aber in Hochspannung versetzt, hörte er dem zu, was die junge Frau nun im Telegrammstil von sich gab:

      Letzte Worte Reginas waren: Grüß‘ bei Gelegenheit dein‘ Vate‘ von mir … als nicht mehr ganz junge ledige Mutter hatte sie seinerzeit für Verblüffung im kleinstädtischen Establishment gesorgt … aber unbeirrt und selbstsicher ihren Weg als Single-Mom (bei dieser Wortklanggestalt zuckte Schulte innerlich kurz zusammen) gemeistert … immer Einzelkämpferin gewesen … jedem die Zähne gezeigt … Schuldirektorin geworden … Stadträtin … langjährige Liaison mit dem Bürgermeister … französische Au-pair-Mädchen für Friederike … praktisch bilingual erzogen … Regina hatte von Schulte erzählt … so viel es eben gab … drei, vier Bücher von ihm zu Hause … Bitte Reginas, ihn nicht zu kontaktieren … anderweitige Bindungen nicht stören. Und sie, Friederike? Reiten, Fechten, Volleyball … Ökotrophologie studiert … Diplom JLU Gießen … Master of Science AgroParisTech … in der Versuchsküche eines Tiernahrungsherstellers beschäftigt … Katzenmenüs und Katzensnacks … Ambitionen auf Wissenschaftsjournalismus … (oh, das find‘ ich toll, warf Schulte ein) … Billard als Hobby … Reginas Haus vermietet … wohnhaft Frankfurt … Freund Franzose … Thierry … Co-Pilot Air France … persönliches Kennenlernen?

      Schulte war von dem neuen Thema, das da so unvermittelt in sein Leben getreten war, ziemlich gefangen; er spürte die zunehmende freudige Erregung und antwortete emphatisch: Kennenlernen? Ja, klar doch, unbedingt, unverzüglich! Und teilnahmsvoll: Traurig, das mit Reginas Krankheit - schade, sie nun nicht wiedersehen zu können. Und entrüstet fortfahrend: Aber wie konnte sie mir Ihre, nein, deine Existenz vorenthalten(!) - ich hätte doch in die Geburtsurkunde gehört - schon um der Dokumentation Ihrer … äh … deiner vollständigen Identität willen … gegenüber dem Staat und so, meine ich … zum Beispiel … wäre gern irgendwie beteiligt gewesen. Und klagend endend: Bande hätten geknüpft und irgendwie aufrechterhalten werden müssen - wenn Regina zum Beispiel etwas passiert wäre - und was war mit männlichen Bezugspersonen - spielten wenigstens irgendwelche Vorbilder eine Rolle? Friederike konnte ihn beruhigen: Ja, ja doch, der eine oder andere Sporttrainer, ein wenig auch der Bürgermeister, ja, auch der. Und was sei mit ihm, Schulte, wie lebe er so? Nun ja, seit drei Jahren allein … mit Cordula damals Schluss gemacht … so zehn Jahre bei der UNO: New York, Genf, Mexiko-Stadt, Manila, Jakarta … danach Bonn: Referent in einem Bundesministerium … dann London: Berater für politische Kommunikation bei einem Lebensmittelkonzern … dann Berlin: Zwischenspiel in politischer Redaktion eines TV-Nachrichtensenders … endlich zurück an die Uni … Professur. Familie? Nein. Beziehungen? Ja, schon, aber - wie schon gesagt - seit drei Jahren allein. Einzig Forschung und Lehre bestimme momentan sein Dasein. Kinder? Nein … äh … das heißt ja … ja doch.

      Der Dialog ging