Название | Verlaufsänderungen |
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Автор произведения | Wilhelm Koch-Bode |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738010633 |
Sein Blick fiel auf ein weißes rohrartiges Gebilde - ein angewinkelter Arm, von der Mitte des Oberarmes bis zum Handgelenk von Gips ummantelt und von einem schwarzen Dreieckstuch gehalten -, folgte der Schlinge aufwärts, wo diese in einem beigefarbenen, sich locker um eine Halspartie windenden Hermès-Seidenschal verschwand. Vor der Tür stand eine Frau, die langen, fast schwarzen Haaren straff zum Pferdeschwanz zurückgesteckt. Vielleicht zwanzig Zentimeter kleiner als er, also so um die 1,75 Meter. Eine elegante Erscheinung in lässig geschnittenem rohseidenem Hosenanzug. Er registrierte eine weiche, reife Figur - ausgewogen proportioniert mit sanft gerundeten Hüften und betonter Oberweite, der Grundtyp - die Sanduhrform - ansatzweise definiert. Die Gesichtshaut hatte nicht mehr die samtene Straffheit der Schale eines frisch geernteten Pfirsichs, wohl aber die zarte Ledrigkeit der sich fast unmerklich kräuselnden Pelle eines schon länger gelagerten Apfels. Stahlblaue Augen über ausgeprägten Wangenknochen fixierten ihn streng. Der Mund war blass, schmallippig, etwas herb wirkend. Von dort war eine dunkle, volltönende Stimme zu vernehmen, mit der das Anliegen der Frau vorgetragen wurde: ¡Perdona! ¡Señor, buenas noches! Tengo un problema con … äh … do you speak English? Oder kann ich deutsch mit Ihne‘ rede‘ … ja? Ah, gut … also, entschuldigen S‘ die Störung … ich hätt‘ da mal 'n technisches Problem … natürlich is‘ an de‘ Rezeption niemand … na ja, Heiligabend halt … und wissen S‘, ich komm nich‘ in mei‘ Apartment … war gerad‘ spaziere‘ … wohn’ gleich da nebe‘an … der Schlüssel hier … tut sich im Schloss einfach nich‘ drehe‘, dem vermaledeite‘ … und schauen S‘ … mei‘ Handicap … kann momentan einfach nur einhändig agiere‘ … zu allem Überfluss auch noch mit de‘ linke‘ Hand … Unfall … wissen S‘ … Unterarmbruch … Sturz bei Glatteis … ja, wären S‘ denn vielleicht ei‘mal so lieb, es kurz zu probiere‘? … wenn’s denn nich‘ gehe‘ will, helfe‘ S‘ mir halt einfach über ‘n Balkon … also von dem Ihrige‘ aus … in mei‘ Apartment … ja? … hab‘ die Tür … glaub‘ ich … hoff‘ ich … nur ang‘lehnt. Schulte gab sich hilfsbereit. Na klar, versuch ich ‘s doch gleich mal. Mit Hilfe eines rauen Geschirrtuches, das er um den ergonomisch ungünstigen, viel zu kleinen Schlüsselkopf legte, hatte er Erfolg - die Tür sprang auf. Er kippte etwas Olivenöl auf den Schlüsselbart und wiederholte den Vorgang mehrmals, damit sich der Widerstand im Schließzylinder noch etwas lockerte. Problem gelöst. Die Frau reichte ihm ihre Linke: ¡Muy bien! ¡Muchas gracias! Wunderbar geschickt sind S‘, der Herr Landsmann - aus dem hohe‘ Norde‘ wie man höre‘ tut -, und äußerst effizient haben S‘ mir g‘holfe‘! Übrigens: Freytag, heiß’ ich, Regina, - Freytag mit 'e-y', komm‘ aus der Frankfurte‘ Gegend. Nachdem Schulte auch gesagt hatte, wer er sei und woher er käme, wünschte er Frau Freytag einen harmonischen Abend und weil sich das vielleicht etwas zu profan anhören mochte - besonders für den Fall, dass die Freytag fromm wäre -, ergänzte er noch: gesegnete Stille Nacht auch! Ein kurzes Nicken ihrerseits - mit einem knappen ¡Feliz Navidad! zog sie die Tür hinter sich zu. Typisch Lehrerin, Freytag mit 'e-y', dachte Schulte, … könnte mir vorstellen, dass die ‘n ziemlicher Drache ist … und wie die mit ihren paar spanischen Brocken weltmännisch rüberzukommen versucht … irgendwie 'ne dämliche bildungsbürgerliche Attitüde … oh, nein, weltmännisch? … geht gar nicht … bar jeder Political Correctness … aber wie sagt man das bei Frauen? … weltweibisch? … dann lieber gleich weltläufig … wie die wohl den Abend verbringt? Korrigiert bestimmt Klassenarbeiten oder so. Das tat jetzt auch Schulte, der im Handgepäck einen Stapel studentischer Klausuren mitgebracht hatte.
Am nächsten Tag, ziellos und unkonzentriert auf der Flaniermeile entlang des Strandes schlendernd, hörte er plötzlich seinen Namen: ¡Hola, Señor Schulte! War er gemeint? Ein anderer Schulte vielleicht (allzu selten war der Name ja nicht). Eine weibliche Stimme. Suchend sah er sich um, - die Freytag winkte von ihrem Platz in einem überfüllten Straßencafé, die Augen mit einer großen Ray-Ban-Sonnenbrille bedeckt, dem Modell Wayfarer mit der breitrandigen schwarzen Kunststofffassung. Heute trug sie ein leichtes roséfarbenes Leinenkleid. Um den Hals war diesmal ein roter Hermès-Seidenschal gelegt, der krass mit dem weißen Gipsarm kontrastierte, sodass man im ersten Moment an Blut dachte. Buenos dias. ¿Qué tal? rief sie ihm entgegen. Nun, das konnte er auch: Todo bien, gracias. ¿Cómo está usted? antwortete er nähertretend. ¡De acuerdo! Alles klar. Sie bot ihm einen Platz an ihrem Tisch an, kommen S‘, Señor Schulte, ich lad‘ Sie zu einem Carajillo ein … kennen S‘ den … nein? Espresso mit Brandy, abe‘ die serviere‘ ihn hier auch mit Whisky oder Anislikör, wie Sie wolle‘, und - das ist das Tolle - ganz auf die authentische Art, also mit dem karamellisierte‘ Zucker. Nun, nachdem der gegenseitigen Demonstration von Weltläufigkeit und fremdsprachlicher Kompetenz Genüge getan war, gleichzeitig Kommunikation auf Augenhöhe möglich erschien, entwickelte sich ein angeregter, jetzt weniger gekünstelter persönlicher Austausch. Schulte erfuhr, dass Frau Freytag, also Regina (nach dem zweiten Carajillo waren sie zum Hamburger Sie übergegangen), Oberstudienrätin an einem Gymnasium in ihrem Heimatstädtchen war, das sie, außer zum Studium an der Frankfurter Goethe-Universität, nicht verlassen hatte. Sie bewohnte allein ihr im historischen Stadtkern gelegenes Elternhaus, einen Fachwerkbau unter Denkmalschutz. Dort hatte sie bis zu dessen Tod vor einem halben Jahr mit ihrem früh verwitweten Vater zusammengelebt. Eine Amour fou war vor sieben Jahren unspektakulär zuende gegangen; der junge Dachdeckergeselle hatte unbedingt nach Kanada auswandern wollen. Beziehungen seitdem? Absolutamente nada … nichts … alles nicht so einfach. Sie war nach Gran Canaria gereist, um der festtäglich aufgeladenen Stimmung in ihrer Umgebung zu entfliehen, das heißt ‘entfliehen’ war wohl ein etwas zu starkes Wort dafür - ’ausweichen‘ passte besser. Von Schulte erfuhr Regina, dass er Politikwissenschaftler an der Uni sei, Mittelbauer, habilitiert, Mitte 30, in fester, momentan etwas kriselnder Lebensgemeinschaft mit einer karriereorientierten gleichaltrigen Medizinerin. So schritt die Unterhaltung rege voran. Es ging um Urlaubsziele, beide waren frankophil (Schulte liebte die raue Bretagne, Regina das idyllische Loiretal), Auslandssemester (Regina Anfang der 1960er Jahre in Poitiers, Schulte in den 1970er Jahren in Strasbourg), Jazz (sie kannten sich beide etwas aus), Oper (Schulte hatte keine Ahnung) und so weiter. Regina wollte dann noch am Pool der Apartmentanlage etwas ruhen, Schulte ein wenig durch die Dünen stapfen. Für den Abend hatten sie sich verabredet, - eine Tapas-Bar sollte angesteuert werden.
Auf dem Rückweg vom Lokal machten sie Halt in der Lounge eines Hotels und platzierten sich neben einem Paar aus Kiel. Die jungen Leute schienen in gedrückter Stimmung zu sein, aber Regina schaffte es, sie mit ihrer Themenwahl ins Gespräch zu ziehen: Kritik an Architektur und Städtebau auf dem kanarischen Archipel (der Mann war Architekt und hatte gerade die Baufirma seines Vaters übernommen), zeitgenössische Kunst (die Frau hatte Kunstgeschichte, Schulte ein paar Semester Malerei studiert) und - natürlich - die spanische Küche. Die Kieler sagten es nicht unumwunden, aber zwischen den Zeilen klang an, dass sie wegen eines tragischen Ereignisses die Weihnachtszeit nicht wie gewohnt in der heimischen Umgebung verbringen wollten. Es gab nur Andeutungen: kleiner Junge … Straße … Auto.
Bei der späten Rückkehr fragte sie ihn, ob er auf dem Balkon noch ein Glas Rotwein mit ihr trinken möchte. Sie habe einen jungen, fruchtigen Tinto aus tenerifischem Anbau. Sie sprachen über verpasste Chancen im Leben: Regina bedauerte, ihre Dissertation in Romanistik aufgegeben und weitere wissenschaftliche Ambitionen zugunsten des Eintritts in den Schuldienst aufgegeben zu haben, - ein Schritt, der erfolgt war, um in den Heimatort zurückkehren zu können. Sie hatte sich in der Pflicht gesehen, ihrem Vater nach dem Tod der Mutter emotional und lebenspraktisch zur Seite zu stehen; diese Entscheidung bereute sie zwar nicht grundsätzlich, aber irgendwie waren dabei bestimmte Daseinsziele - eigene Familie, berufliche Selbstverwirklichung - auf der Strecke geblieben. Schulte trauerte seinem voreilig (?) hingeworfenen Kunststudium nach; er hatte damals das Gefühl gehabt, für ein Leben einzig für die Malerei und von der Malerei zu wenig Biss zu haben.
In einer Gesprächspause sahen sie sich über den Tisch hinweg an. Schulte legte seine Hand auf Reginas Linke. Die Fühlungnahme danach verlief nicht