Название | Hilmer |
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Автор произведения | Jörg Olbrich |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847645283 |
8
„Ich glaube er wacht auf.“
„Das wurde ja auch Zeit. Der Typ pennt schon einen halben Tag lang.“
„Er hat aber auch mächtig eins auf die Rübe bekommen.“
„Das stimmt. Die Beule ist beachtlich. Es wird einige Zeit dauern, bis die Schwellung weg ist.“
„Wenn er das überhaupt noch erlebt.“
„Eher nicht.“
„Vermutlich hast du recht.“
Hilmers Stöhnen unterbrach den Dialog. Der Lemming schlug die Augen auf und blickte auf zwei ihm unbekannte Gesichter. Sie mussten zu den Stimmen gehören, die er nach seinem Erwachen vernommen hatte.
„Wo bin ich?“, fragte Hilmer benommen. Die Schmerzen in seinem Kopf waren unerträglich und er musste den Brechreiz unterdrücken. So schlecht hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Dankbar nahm er einen Becher mit Wasser entgegen und trank vorsichtig einen Schluck.
„Du bist im Kerker des königlichen Palasts“, sagte der Mitgefangene, der Hilmer zu trinken gegeben hatte. Diesem fiel auf, dass der Fremde für einen Lemming sehr ungewöhnliche Ohren hatte.
„Du musst Helmut mächtig geärgert haben“, sagte der Zweite. „Ich habe noch nie erlebt, dass er außer meinem Bruder und mir jemand anderen in den Kerker werfen ließ.“
„Wer seid ihr?“
„Ich bin Hörg“, sagte der Lemming mit den abstehenden Ohren.
„Mein Name ist Henni“, sagte der andere. „Wir sind Erfinder und arbeiten für Helmut. Zumindest dann, wenn er einmal gerade nicht sauer auf uns ist. Wie heißt du?“
„Hilmer. Ich habe mich geweigert vom Todesfelsen zu springen und die heiligen Schriften des furchtlosen Wonibalts infrage gestellt. Das hat Helmut nicht gefallen.“
„Das kann ich mir vorstellen“, lachte Henni. „Der König mag es nicht, wenn jemand von seinen Gesetzen abweicht.“
„Wir teilen seine Ansichten ebenfalls nicht“, sagte Hörg.
„Dann habt ihr euch ebenfalls geweigert, über den Schicksalsberg zu gehen?“, wollte Hilmer wissen.
„Nein“, antwortete Hörg. „Wir sind erst 14 Monate alt.“
„Warum seid ihr dann im Kerker?“
„Helmut war mit unserer Erfindung nicht zufrieden“, antwortete Hörg.
„Dabei haben wir die Lösung für alle Probleme“, erklärte Henni.
„Wie das?“ Hilmer trank noch einen Schluck Wasser und spürte, wie es ihm langsam etwas besser ging. Lediglich die Kopfschmerzen drohten, ihn in den Wahnsinn zu treiben.
„Wir haben ein Kaubonbon erfunden, das verhindert, dass unsere Weibchen trächtig werden.“
„Damit könnten wir unsere Bevölkerung regulieren“, ergänzte Henni die Erklärung seines Bruders.
„Damit wären die Selbstmorde nicht mehr notwendig“, erkannte Hilmer. „Das ist brillant.“
„Leider sieht das Helmut ein bisschen anders“, klagte Henni.
„Der kann mit Weibchen nichts anfangen und versteht nicht, wie wunderbar die Kaubonbons für uns Männer wären. Wir könnten uns so oft paaren, wie wir wollten, ohne hinterher Windeln wechseln zu müssen.“ Hörg blickte verträumt in die Luft und auch Hennis Blick verriet, dass er die Vorzüge dieser Kaubonbons durchaus zu schätzen wusste.
„Ihr seht nicht wie Brüder aus“, sagte Hilmer nach einer Weile.
„Wie kommst du darauf?“, entgegnete Hörg.
„Ich habe noch nie solche Ohren gesehen wie deine.“ Hilmer wollte seinen Leidensgenossen keinesfalls beleidigen, konnte seine Neugierde aber nicht mehr im Zaum halten.
„Meine Mutter war eine Spitzmaus“, erklärte Hörg mit leicht beleidigtem Unterton in der Stimme. „Sie hat die Gegend verlassen, nachdem ihr vierter Ehemann über den Todesfelsen gegangen war. Jetzt lebt sie irgendwo weit weg und will nichts mehr mit uns Lemmingen zu tun haben.“
„Das ist traurig“, sagte Hilmer.
„Ja, das ist es. Ich bin aus Mutters zweiter Ehe hervorgegangen. Ihr dritter Gatte brachte dann Henni mit. So wurden wir Brüder und nach anfänglichen Streitigkeiten auch Freunde.“
„Jetzt verstehe ich, warum ihr nach einer Alternative für die Massenselbstmorde sucht.“
„Dumm ist nur, dass wir drei die Einzigen sind, die das so sehen“, sagte Henni. „Wir müssen einen Weg finden, wie wir unserem Volk die Augen öffnen können.“
„Das wird Helmut niemals zulassen“, warf Hilmer ein.
„Er verweist auf die heiligen Schriften, die er über alles stellt. Damit ist er über jeden Zweifel erhaben. Zumindest sieht er das so. Wir müssen Wonibalts Aufzeichnungen finden, die außer dem König niemand zu sehen bekommt.“
„Henni hat recht“, bekräftige Hörg die Aussage seines Bruders. „Die Frage ist nur, wie wir das anstellen wollen.“
„Ich will euch ja nicht den Mut nehmen“, sagte Hilmer niedergeschlagen. „Aber wir können gar nichts tun. Wir sitzen im Kerker und zumindest ich werde innerhalb der nächsten Tage hingerichtet.“
„Helmut will dich hinrichten?“, fragte Henni überrascht. „Wie denn?“
„Dieter soll einen Galgen bauen.“
„Dies wird dem fetten Hamster nicht so schnell gelingen“, sagte Hörg.
„Trotzdem ist meine Chance vertan.“
„Das ist sie nicht“, sagte Henni entschieden.
„Aber wir sitzen im Kerker“, schimpfte Hilmer. „Was willst du denn dagegen tun?“
„Wir sind nicht wirklich gefangen“, antwortete Henni grinsend.
„Wie meinst du das?“
„Ganz einfach, Hilmer. Das Schloss ist kaputt.“
„Das ist nicht dein Ernst.“
„Doch“, sagte Henni. „Ich sagte dir doch, dass der König sehr selten auf den Kerker zurückgreift. Kaum ein Lemming wagt es, gegen seine Gesetze zu verstoßen. Die meisten sehen dafür ja nicht einmal einen Grund. Warum sollte Helmut dann Geld für die Instandhaltung des Kellers verwenden?“
„Willst du damit sagen, dass wir einfach so hier herausspazieren könnten?“
„Genau das“, antwortete Henni grinsend.
„Warum tut ihr es dann nicht?“
„Was würde uns das bringen?“, stellte Hörg die Gegenfrage. „Wir sind schon ein Dutzend Mal von Helmut in den Kerker gesteckt worden. Bisher hat er uns immer nach ein oder zwei Tagen wieder freigelassen. Die meisten unserer Erfindungen findet der König hilfreich. Er hofft, dass wir ihm noch einige Dinge bauen, die ihm das Leben erleichtern. Der Tag unseres Selbstmordes liegt noch einen Monat entfernt. Wir haben nicht die Not aus dem Palast zu fliehen.“
„Weiß Helmut, dass das Schloss kaputt ist?“, fragte Hilmer. Er konnte kaum glauben, was die beiden Brüder ihm hier erzählten. Konnte die Flucht wirklich so einfach sein? Obwohl – Wächter hatte er hier unten noch keine gesehen. Nicht einmal die Fliegen, die sich sonst überall im Palast ausbreiteten, verirrten sich in den Kerker. Was hielt ihn also hier?