Hilmer. Jörg Olbrich

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Название Hilmer
Автор произведения Jörg Olbrich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847645283



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mir nicht helfen wollen. Die wissen es nicht besser und sehnen sich nach ihrem gelobten Land. Von dir hatte ich etwas mehr erwartet.“

      „Das ist nicht fair.“

      „Nein, Agnes. Das ist es nicht.“

      „Ich denke, du solltest jetzt verschwinden“, sagte Fred, der die ganze Zeit über im Flur gestanden und das Gespräch verfolgt hatte.

      Hilmer drehte sich zu seinem Nachfolger um. Jede Zelle seines Körpers sehnte sich danach, ihm das dämliche Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln. Der Mistkerl hatte aber mit einem Recht: Hilmer musste verschwinden. Auch wenn er nicht wusste, wohin.

      „Was willst du jetzt machen?“, wollte Agnes wissen.

      „Das weiß ich noch nicht. Ich werde aber nicht hierher zurückkommen.“

      Fred schien etwas sagen zu wollen, verstummte aber sofort, als er in Hilmers Gesicht sah. Den hielt jetzt nichts mehr. Irgendwo in den Vororten der Stadt würde er schon jemanden finden, der ihm half. Er musste ja nicht erwähnen, dass er den fünfzehnten Lebensmonat bereits überschritten hatte. Wortlos drehte er sich um, ließ Agnes einfach in der Badezimmertür stehen und ging an Fred vorbei in Richtung Ausgang. Die beiden Frischverliebten sollten die Tränen in seinen Augen nicht sehen.

      6

      Als Hilmer auf die Straße trat, lief er direkt in die Arme seiner engstirnig Vettern, die sich grinsend vor ihm aufbauten.

      Die haben mir gerade noch gefehlt, dachte der Lemming, wusste aber, dass er den Brüdern dieses Mal nicht so leicht entkommen konnte.

      „Ja, wen haben wir denn da?“, fragte Turgi mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.

      „Es freut uns außerordentlich, dich zu sehen“, rief Targi.

      „Wir dachten schon, wir hätten dich für immer verloren“, flachste Torgi.

      „Was wollt ihr von mir?“

      „Das ist jetzt aber eine wirklich dumme Frage“, stellte Turgi fest. „Hast du denn gedacht, du kannst deinem Schicksal so einfach entkommen?“

      „Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe und springt von den Klippen?“, fragte Hilmer, dem seine drei Vettern tierisch auf die Nerven gingen. Es wäre aber auch zu schön gewesen, wenn er sie niemals wieder gesehen hätte.

      „Der König hat gesagt, dass wir nicht ins gelobte Land kommen, wenn wir über den Schicksalsberg gehen, bevor du tot bist. Du siehst also, dass wir keine andere Wahl haben.“

      „Turgi, das ist Unsinn“, erklärte Hilmer. „Wie soll Helmut denn den Weg eurer Seelen bestimmen?“

      „Das muss er nicht“, antwortete Turgi.

      „Wonibalt selbst wird sehen, ob wir unseren Befehl befolgen“, erklärte Targi.

      „Er wacht über sein Volk“, belehrte Torgi seinen Vetter.

      „Ihr seid noch dümmer, als ich gedacht habe“, sagte Hilmer resignierend. Er wusste nicht, wie er den dreien erklären sollte, dass Helmut sie alle hinterging und es keinesfalls nötig war, dass so viele Artgenossen freiwillig in den Tod gingen. Er selbst war mittlerweile fest davon überzeugt, dass Helmut die heiligen Schriften des furchtlosen Wonibalts falsch deutete.

      Wenn diese überhaupt existierten.

      Er glaubte nicht mehr an das gelobte Land und ärgerte sich darüber, wie leicht er sich so lange von diesem Unsinn hatte blenden lassen.

      „Es ist vorbei“, sagte Turgi und klopfte Hilmer auf die Schulter. „Du hast alles versucht, du kannst aber deinem Schicksal nicht entrinnen.“

      „Dein Tod ist so sicher wie die Tatsache, dass Fred Agnes schwängern wird“, lachte Targi und traf Hilmer damit an seinem wundesten Punkt.

      „Sie wird die nächsten Wochen noch einmal genießen können“, trat Torgi nach.

      „Lasst mein Weib aus dem Spiel!“, schimpfte Hilmer zornig und überlegte einen Moment lang, auf welchen seiner drei Vettern er sich zuerst stürzen wollte. Waren sie ihm bisher mit ihrem Gefasel über das gelobte Land einfach nur auf die Nerven gegangen, begann er jetzt langsam, aber sicher die drei Brüder zu hassen.

      „Agnes ist nicht mehr dein Weib“, sagte Targi noch immer grinsend. „Du wirst heute sterben. Diesmal werfen wir dich persönlich vom Todesfelsen hinunter. Und genau da gehen wir jetzt hin.“

      Hilmer lief schweigend zwischen Turgi, Targi und Torgi her. Der Blamage, von den Brüdern den Hang hinaufgeschleppt zu werden, wollte er sich nicht noch einmal aussetzen. Seine Angst hielt sich zu seiner eigenen Überraschung in Grenzen. Immerhin hatte er den Todesfelsen bereits einmal bezwungen. Warum sollte ihm das nicht noch einmal gelingen? Mit unterschiedlichen Zielen erreichten die vier Lemminge so zum dritten Mal an diesem Tag den Wachposten am Fuße des Schicksalsberges.

      „Ich seid ja schon wieder hier“, stellte der Wächter überrascht fest. „Was treibt ihr hier für ein eigenartiges Spiel?“

      „Der da hat den Sprung überlebt“, sagte Targi und deutete auf Hilmer.

      „Er hat was?“

      „Er konnte sich an einem Busch festhalten und den Rest des Berges hinunterklettern“, antwortete Turgi.

      „Das hat vor ihm noch keiner geschafft“, sagte der Wächter. Der Blick, den er Hilmer zuwarf, zeigte eine Mischung aus Anerkennung und Überraschung.

      „Normalerweise versucht das ja auch niemand“, sagte Turgi verächtlich.

      „Das ist keine Tat, auf die man stolz sein kann“, behauptete Targi.

      „So verhält sich ein Lemming nicht“, stellte Torgi fest.

      „Passt auf, dass euch der Kerl nicht wieder entwischt“, sagte der Wächter zum Abschied und sah Turgi, Targi, Torgi und Hilmer kopfschüttelnd nach. Beim abendlichen Bier in der Taverne, würde er seinen Kollegen etwas zu erzählen haben. Die Kunde, vom Lemming der nicht sterben wollte, würde die Runde machen und weitere Zweifler auf den Plan rufen, die Hilmers Ansichten vielleicht teilten. König Helmut konnten die Entwicklungen nicht gefallen. Ganz und gar nicht.

      Diesmal machten die Lemminge den Brüdern keinen Platz. Inzwischen hatte jeder von ihnen Angst, es vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr nach oben zu schaffen. Zu lange schon standen sie selbst am Hang und warteten darauf, den Todesfelsen endlich zu erreichen. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand schon lange überschritten, als die vier die Kante erreichten, von der aus sie in die Tiefe springen konnten.

      Hilmer hatte sich den ganzen Weg über nicht mehr gewehrt und seine Vettern so in Sicherheit gewiegt. Das änderte er nun. Ehe einer der Brüder überhaupt reagieren konnte, stürmte der vermeintliche Volksverräter zwischen Turgi, Targi und Torgi hindurch und ließ sich einfach in den Abgrund fallen. Die genaue Lage des Busches hatte er sich gemerkt und baute darauf, dass er ihn auch diesmal auffangen würde.

      „Du bist ein verdammter Drecksack“, brüllte Turgi seinem Vetter nach, konnte ihn aber nicht aufhalten.

      Hilmer ließ sich nicht beirren. Wie bereits am Vormittag schaffte er es, den Busch als Halt zu nutzen. Er schaute nach oben, um seinen Vettern ein paar hämische Worte zuzurufen und erschrak, als er sah, dass ihm Turgi hinterhergesprungen war.

      „Diesmal entkommst du uns nicht“, schrie Targi und folgte seinem Bruder.

      Auch Torgi schien zu allem entschlossen zu sein. Er ließ sich fallen, um die Jagd auf den Verräter aufzunehmen. Hilmer musste sich jetzt beeilen, wenn er nicht doch noch erwischt werden wollte, und begann mit dem Abstieg.

      „Ich kriege dich“, zischte Turgi, der sich an einem Ast festhielt, und nur noch wenige Meter von Hilmer entfernt war.

      Der Flüchtling hetzte den steilen Hang hinunter und musste dabei aufpassen, nicht den Halt zu verlieren. Gegenüber seinen Verfolgern hatte er