Violet - Verletzt / Versprochen / Erinnert - Buch 1-3. Sophie Lang

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Название Violet - Verletzt / Versprochen / Erinnert - Buch 1-3
Автор произведения Sophie Lang
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742744364



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sollst die Bestien morden.

      6. Gebot: Du sollst nichts Falsches gegen einen Gesandten sagen.

      7. Gebot: Du sollst keine Schwäche zeigen.

      Denk immer daran: Wie ich, der Oberste Gesandte, euch in den Krieg gegen die Bestien mit starker Hand und hoch erhobenem Schwert geführt habe und wie siegreich wir zurückgekehrt sind.«

      »Amen«, sage ich.

      Ich habe diese Gebote noch nie gemocht. Sie kommen mir nicht richtig vor, auch wenn sie uns immer und immer wieder von den Gesandten eingetrichtert werden und sie bei jeder bisherigen Prüfung abgefragt wurden. Will ich bestehen, werde ich sie lernen müssen. Jesse hat recht. Es ist gut, dass er mich daran erinnert. Ich höre ihm zu, was er mir zu sagen hat und gemeinsam gehen wir die Themen durch, die ich, in den mir verbleibenden sechs Tagen, lernen werde. Die Sieben Gebote und wie sie entstanden sind, gehören selbstverständlich dazu. Auch die Geschichte der Gesandten werde ich lernen und dann das, was mir noch völlig fremd ist: Die neuesten Studien über die Bestien. Das ist etwas, das mich sogar irgendwie interessiert, weil es mir im Kampf nützen kann, mehr über die Bestien zu wissen.

      »Du wirst das schon schaffen, du wirst schon sehen«, sagt Jesse, nachdem wir alle Bücher zu einem erschreckend großen Turm aufgestapelt haben. Und das ist nur ein kleiner Anteil dessen, was die Gesandten in den Prüfungen abfragen können.

      »Mut zur Lücke«, sage ich, weil mir gar nichts anderes übrig bleibt.

      »Wenn sie dich exsektionieren, dann gehe ich mit dir!«, sagt er plötzlich.

      »Das ist totaler Quatsch!«

      »Ich lasse dich nicht allein da draußen…«, er bringt den Satz nicht zu Ende.

      »Sterben? Toll, dann geh mit und wir sterben beide! Das ist echt eine super Idee.« Jesse schweigt.

      »Wenn du mir wirklich helfen willst, dann bleib hier. Bleib hier bei Asha und kümmere dich um sie. Sie hat Probleme damit, sich an das 4. Gebot zu halten«, sage ich und denke, dass sie auch Probleme mit dem 7. Gebot und wer weiß, mit welchem sonst noch hat.

      »Sie vermisst ihre Eltern?«, fragt Jesse. »Sie kennt sie doch gar nicht.«

      »Sie weiß so wenig wie du und ich oder jeder andere, aber sie vermisst etwas.« Etwas, das ich auch vermisse, füge ich in Gedanken hinzu. »Sie vermisst Geborgenheit und Liebe. Mein Gott, sie ist noch ein Kind.«

      Jesse schaut mich an, dann nickt er als Zeichen, dass er mich verstanden hat.

      »Versprichst du mir, dass du auf sie aufpasst?«, frage ich. Wieder ein Versprechen. Heute schon das Zweite, aber dieses Mal denke ich, dass es tatsächlich eingelöst werden kann. Jesse nickt, küsst seine Faust und streckt sie mir entgegen. Das ist unser stilles Zeichen. Wir verständigen uns damit auf der Jagd. Es bedeutet, ich bin bereit zu kämpfen und zu sterben, wenn es sein muss.

      »Und du versprichst mir, alles Erdenkliche zu tun, dass es nicht so weit kommt«, sagt er. Ich nicke, küsse meine Faust und strecke sie seiner entgegen, bis sie sich berühren. Der einzige Kuss, zu dem wir uns trauen. Ich lächle.

      Kapitel 8

      Den ledernen Ohrensessel habe ich an die große Glasfront geschoben. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne krallen sich an der Skyline von Zone eins fest, doch schließlich zieht der Sog der bevorstehenden Nacht auch sie hinfort.

      Zurück bleibt der atemberaubende Ausblick auf das Lichtermeer der unter mir liegenden City. Das künstliche Licht macht auf seine Art die Nacht zum Tag. Es wird mich diese Nacht nicht alleine lassen. In dieser Nacht, in der ich nicht vorhabe, eine Sekunde zu schlafen.

      Ich nehme mir das oberste Buch vom Stapel.

      »Kampf um New York.«

      Ich habe den Wälzer einmal gelesen, vor zwei Jahren. Der Inhalt ist mir noch einigermaßen gegenwärtig. New York war eine der Städte, in der alles begann. Die Bestien haben sie überrannt und innerhalb weniger Tage eingenommen. In diesem Buch wird auf mehr als dreihundert Seiten in allen Einzelheiten beschrieben, wie grausam und unbarmherzig sie dabei vorgegangen sind. Straße für Straße, Häuserblock für Häuserblock, bis sie alle Menschen getötet hatten. Alle Menschen?

      Natürlich nicht! Nicht alle, nur die jungen und die, die wie ich sind. Die Sehenden.

      Die Nunbones hatten keine Ahnung, warum so viele Kinder und Jugendliche an Herzversagen sterben konnten. Sie hatten es auf irgendeinen Virus geschoben. Aber es war kein Virus. Es waren die Bestien. Die Bestien, die für alle Nunbones unsichtbar sind, genauso wie die Wunden, die sie hinterlassen, unsichtbar sind.

      Ich lese nur die ersten beiden Kapitel komplett durch und dann konzentriere ich mich auf Abschnitte, in denen beschrieben wird, was der Unterschied zwischen den Nunbones und uns ist. Denn das war der Anfang.

      Es gab Menschen, denen bewusst wurde, dass sie anders waren, weil sie wussten, dass es kein Virus war. Weil sie die Bestien sehen konnten. Und die Bestien hatten ihre Vorlieben. Sie pickten die Sehenden aus der Menge der Menschen, wie Tauben, die das beste Korn unter tausenden aufpicken und runterschlucken.

      In den ersten beiden Kapiteln wird beschrieben, wie sie uns aufspüren und erledigen. Wie schrecklich muss das gewesen sein. Kinder und Jugendliche wurden getötet. Niemand von ihnen war älter als 18. Als sie die Bestien kommen sahen, hatten manche nicht einmal mehr die Zeit zu schreien. Alle tot, das Leben ausgesaugt, vor 47 Jahren, als alles begann.

      Ich schlage das Buch zu und hebe meinen Kopf, schaue auf die Skyline von New York, auf Zone 1. Die sichere Zone. Wie viele gibt es dort unten, die so sind wie ich, Asha und die anderen. Sie wissen von allem nichts, haben nie so ein Buch gelesen. Manche von ihnen verlassen diese Zone ein ganzes Leben nicht. Gut so. Andere schon. Betritt jemand Zone vier oder sogar fünf, dann kann er sie sehen. Vorher wäre es schon ein totaler Zufall.

      Ich erinnere mich daran, als ich zum ersten Mal eine Bestie gesehen habe. Es war auf der Schultoilette. Heute weiß ich, dass es kein Zufall war, die Bestien riechen uns über sehr große Entfernungen.

      Riechen?

      Ich mache mir eine Notiz auf meinem Flexscreen, unter der Überschrift: Themen, die ich noch nachlesen muss. Ich schreibe: Können Bestien riechen? Ich weiß, sie riechen nicht. Aber es funktioniert so ähnlich. So ähnlich, wie bei einem Haifisch, der über hunderte Meter Blut im Meer wittern kann und so seine Beute aufspürt.

      Blut!?

      Meine Erinnerung setzt sich wieder fort. Ich stehe wieder vor dem Spiegel, in der Mädchentoilette. Ich habe keine Erinnerungen, wie ich dorthin gelangt bin. Es kommt mir heute so vor, als hätte mich dort jemand von einer auf die andere Sekunde ausgesetzt. Ohne jegliche Vergangenheit.

      Ich war die Beute und wusch mir gerade die Hände, als ich die Kälte spüren konnte, die den Raum plötzlich überschwemmte, als ob jemand eine gewaltige Klimaanlage eingeschaltet hätte. Und dann sah ich sie. Wie ein Bluthund, nur viermal größer. Nackt, kein Fell. Anstatt Ohren sah ich nur dunkle schmierige Öffnungen in ihrem Schädel. Ihre gelben ekelhaften Augen gierten nach mir und sie fletschte ihre Zähne und dann vergrub sie die Zähne in meinen Rücken. Ich stand da und sah mir selbst beim Sterben zu.

      Für den Bruchteil einer Sekunde bewegte sich niemand. Und im nächsten Augenblick alle außer mir. Zwei Jungs standen plötzlich in der Damentoilette. Teenager.

      Der eine hatte blonde, kurz geschorene Haare, grüne Augen und eine riesenhafte Armbrust in der Hand, aus der er im nächsten Moment drei Bolzen abfeuerte, direkt in das Genick der Bestie. Der andere hatte braune Haare, die wild unter einer Baseballmütze hervorlugten. Er hatte einen riesigen Dolch in der Hand und trieb ihn der Bestie in die Seite. Überall sah ich das Blut der Bestie, es verteilte sich in der ganzen Toilette, mischte sich mit meinem eigenen Blut. Die Bestie verschwand, war nicht mehr zu sehen und dann verließ mich mein Bewusstsein. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.

      Ein Polizeihelikopter trägt mich zurück in die Gegenwart. Er fliegt keine