Einer von Zweien. E. K. Busch

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Название Einer von Zweien
Автор произведения E. K. Busch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847681939



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Doktor Eichinger mir Dinge beizubringen vermochte, die mich sonst niemand hätte lehren können. Und wie Mutter zu sagen pflegte: „Lerne so viel du nur kannst, Konrad. Wissen ist niemals von Schaden.“

      Doktor Eichingers größter Verdienst war es dabei, dass er mir sozusagen die Zunge gerade bog. Er trieb mir den Dialekt aus und lehrte mich in Rhetorik. Zum einen lernte ich dabei durch das bloße Zuhören, denn der Doktor war ein ziemlich respektabler Sprecher, zum andren korrigierte mich der Mann zumindest zu Beginn unserer Bekanntschaft fortwährend, ließ kaum einen meiner Sätze bestehen. Zudem wurde ich durch Doktor Eichingers Unterricht in eine Disziplin eingeführt, die ich in einigen Jahren in Perfektion beherrschen würde. Noch war ich zwar ein wenig unbeholfen, doch später würde es mir gelingen, nahezu mühelos von einer Rolle in die andre zu schlüpfen. Unter des Hasens wachsamen Blick übte ich mich zum ersten Mal im Spiel, auch wenn ich mich noch nicht ganz und gar von mir lösen konnte. Denn war ich dem alten Mann gegenüber auch skeptisch, bisweilen herausfordernd und stets um Wortgewandtheit bemüht, so gelang es mir doch nicht, meine schlichte Bodenständigkeit loszuwerden. Und gab ich mich Zuhause und in der Schule brav, friedliebend und zurückhaltend, so fiel es mir doch schwer, meinen kritischen Geist einfach auszuschalten und das Erlernte bis zum nächsten Mittwoch zu vergraben. - Wie mich Mutter angesehen hatte, als ich eines Mittags am Tisch erklärt hatte, Frau Meier wäre der jovialste Mensch, den es wohl auf diesem Planeten gäbe. Ihre Züge waren hart geworden und sie hatte bemerkt: „Du sollst nicht so über andre Menschen sprechen, Konrad.“

      Ich hatte sie irritiert angesehen, dann beschämt in meiner Kartoffelsuppe gelöffelt. Widerspruch war von Mutter noch nie toleriert worden.

      Nach einer ziemlich langen Pause hatte Fred schließlich bemerkt: „Konrad sagt doch nur, was ohnehin alle denken. Die Alte ist komplett irre. Karl hat sie neulich mit seinem Vater verwechselt. Mit hundertundfünfzig ist man vermutlich nicht mehr ganz klar im Kopf.“

      Er hatte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe getippt, ihn dann mitsamt seinem Kopf kreisen lassen. Das breite Grinsen entblößte Petersilie zwischen seinen Zähnen. Die saß bei ihm immer am gleichen Eckzahn.

      Mutter sah nun auch ihn tadelnd an. Nach einigen Minuten der Stille kam dann noch ein zweites Thema auf den Tisch. Vater solle endlich den Schuppen aufräumen - Ihren stechenden Blick nahm Vater jedoch überhaupt nicht war, fragte stattdessen: „Was bedeutet jovial?“

      „Das wird dir Konrad erklären können!“

      Den Löffel hielt sie fest in der Hand.

      „Jovial bedeutet fröhlich. Weil Frau Meier… Sie freut sich über alles und jeden und…“

      „Ist ja auch völlig nebensächlich“, unterbrach Mutter mich jäh. „Ich möchte, dass du nachher den Schuppen aufräumst, Josef. Man kann sich da drinnen ja kaum noch um sich selber drehen.“

      Und wo ich mich gerade alter Tage besinne, sind wohl auch einige Sätze über die Schule angebracht. Irriger Weise könnte man meinen, für einen strebsamen, wissensdurstigen Jungen, oder einen, der sich die größte Mühe gab, solch ein Junge zu sein, könnte es keinen schöneren Ort auf der Welt geben als eine öffentliche Lehranstalt. Tatsächlich jedoch empfand ich den Unterricht in diesem heruntergekommenen Bau, den auch die künstlerischen Meisterwerke der nicht einmal mittelmäßig begabten Dorfjugend nicht aufzuwerten vermochten, als fortwährende Qual.

      Es ist wohl bereits zu erahnen, dass ich nicht viel Neues lernte im sogenannten Unterricht. Trotzdem immer aufmerksam zu sein, war eine bisweilen zu große Herausforderung selbst für meine Selbstbeherrschung. Ich tuschelte nicht mit meinem Nachbarn. - Ohnehin hatte ich bald eine Bank für mich allein oder teilte sie mir mit dem größten Trottel. Diesen freilich hatte mir dann die Lehrerin zur Seite verpflanzt, damit ich ihm ein bisschen behilflich wäre – oder ihr. Ich schrieb auch keine Zettelchen oder kritzelte auf meinen Tisch und las erst recht nicht in Comicheften. Nicht einmal meine Stifte wagte ich zu sortieren, um ehrlich zu sein. - Stattdessen träumte ich, oder besser gesagt: Ich dachte nach, denn ich gab nie viel auf Luftschlösser.

      Über die Gespräche mit Doktor Eichinger ließ sich Stunden grübeln oder über die Texte, die ich kürzlich gelesen hatte. Blickte man aus dem Fenster konnte man zudem das große Haus auf dem Hügel sehen. Wahrscheinlich hätte man diesem Haus einen schwülstigen Namen geben müssen: Geistervilla zum Beispiel. Aber für uns Kinder war es schon immer das große Haus auf dem Hügel gewesen.

      Solange ich denken konnte, hatte das Gebäude leer gestanden. Dabei war es wohl einst das herrschaftlichste Bauwerk im Ort gewesen. Mittlerweile aber war es ziemlich heruntergekommen. Einige Dachziegel hatten sich gelöst und entblößten ein morsches hölzernes Gerippe, die Fensterscheiben waren größtenteils zerbrochen und in den Dachrinnen spross das Unkraut. Da oben auf dem Hügel, etwas abseits vom Dorf, verfaulte das Gebäude langsam aber doch irgendwie ehrerbietend. Eine etwa fünfzig Meter lange Zufahrt rückte es in die gebührende Entfernung zu den schäbigen Häusern, die das Dorfbild prägten.

      Das große Haus auf dem Hügel, das wohl Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet worden war - angeblich von einem reichen Fabrikanten aus der Stadt, der sich eine Art Landgut in mitten der Wälder hatte errichten wollen -, verlieh dem ganzen Dorf einen morbiden Anstrich. Düster und herrisch thronte es über den kleinen und schiefen Fachwerkhäusern. Uns Kindern freilich diente es hervorragend zum Versteckspiel; das rostige Schloss am Dienstboteneingang war längst einem Stein erlegen.

      Wenn ich nun im Klassenzimmer meine Zeit absaß und das große Haus auf dem Hügel betrachtete, dann träumte ich nicht davon, später einmal in ihm zu leben – wie es Fred manchmal tat - und ich stellte mir auch nicht vor, wie die Bewohner dort einst ihre Tage zugebracht hatten.

      In der ersten Klasse, da zählte ich: Türen, Fenster, Dachziegel, Holzlatten, Gitterstäbe. Bis ich selbst die Anzahl der Zaunpfosten auswendig kannte: 43. Dann - in der zweiten Klasse – multiplizierte ich die Zahlen miteinander, teilte sie durcheinander. Mutter hatte mir dies beigebracht, damit ich sie im Laden recht gut vertreten konnte, war sie gerade am Bügel oder Nähen im oberen Stock. - Vater war nicht gut im Rechnen, weshalb sie ihn nur ungern an die Kasse ließ.

      Ich war nicht gut im Kopfrechnen, hätte gerne Stift und Papier genutzt. Aber ich wollte keine der albernen Klassenregeln verletzen, die auf dem großem gelben Plakat aufgelistet waren. Drohend und mahnend starrte es mir entgegen. Mit vielen Klebestreifen hatte Frau Tann das Papier an der Wand befestigt und trotzdem löste sich dessen obere linke Ecke fortwährend vom Putz. Sehr zur Erheiterung der Schüler wohlgemerkt. Ich rang mir zumindest ein Lächeln ab, vergrub das Plakat Gunni zum wiederholten Male unter sich. Der Rest der Klasse johlte.

      In der vierten Klasse machte ich mich daran, die Geometrie zu erkunden. Ich kannte die platonischen Körper und wusste, welches der vier Elemente dem Ikosaeder und welches dem Hexaeder zugeordnet war und dass der Dodekaeder für den Äther stand. Auch wenn mir die Logik der alten Griechen nicht recht einleuchten wollte und ich nicht wusste, wie die chemischen Elemente aus dem Periodensystem ins Bild passen wollten.

      Jedenfalls kannte ich schon lange den Unterschied zwischen Raute, Parallelogramm und Trapez. Wenn Frau Tann von Vierecken sprach und damit Quadrate meinte, dann deprimierte mich das. Ich wartete auf etwas, das einfach nicht eintreffen wollte: Dass Frau Tann oder ein anderer Lehrer mich beiseite nahm und erklärte: „Für dich ist es jetzt genug hier – du bist zu gut für die anderen.“

      Wie gesagt blieb eine solche Bemerkung jedoch aus und so saß ich, wenn ich meine Aufgaben erledigt hatte, weiterhin still auf meinem Stuhl und dachte nach. Auch wenn ich die Mathematik am liebsten hatte, so ließen sich bei Betrachtung des großen Hauses auf dem Hügel noch gänzlich andere Überlegungen anstellen. Es gab zum Beispiel drei Fenster im dritten Stock. Drei. Drei griechische Götterbrüder: Zeus, Poseidon, Hades, die sich die Welt hatten teilen müssen. Auch wenn Hades den kürzeren gezogen hatte und Poseidon, obwohl er als erster hatte wählen dürfen, doch nicht Göttervater war. Drei nordische Nornen gab es dann, die das Schicksal regierten: Urd, Verdandi, Skuld. Die eine für das Gewordene, die andre für das Werdende und die dritte schließlich für das Werdensollende. Und natürlich die drei Formen meines Gottes: Die Dreifaltigkeit. Der Vater, der