die das Poltern der Welle übertönte: „Und diese Zukunft, Kameraden, diese Zukunft beginnt jetzt!“ Mit diesem Ausruf kam plötzlich leichter Wind auf, denn offenbar war Michel soeben aus seiner Nachtruhe erwacht und setzte sich in Bewegung. Alle Haare begannen, sanft und synchron in der Morgenbrise zu wiegen, was dem Ernst der Situation für einen Moment ein leicht komisches Element verlieh. Als die Druckwelle schließlich abgeklungen war, fuhr das mittlere Haupthaar mit gemäßigter Stimme in Napoleons Richtung fort. „Nummer 278, sie haben uns mit dieser Auslieferung gezeigt, dass sie ihren Fehltritt bereuen und bereit sind, dem Feind noch einmal ins Auge zu sehen. Sie werden hierzu eine allerletzte Chance erhalten.“ Er richtete seine Ansprache wieder an die versammelte Haarmenge. „Zuverlässige Quellen haben uns mitgeteilt, dass unser Wirt heute Morgen mit seiner Gattin das Frühstück zu sich nehmen wird.“ Er hielt kurz inne, um den folgenden Worten das nötige Gewicht zu verleihen. „Viel wichtiger jedoch ist, dass wir wissen, was Michel seiner Gattin während dieses Vorgangs erzählen wird!“ Die Menge lauschte gebannt. „Ein bedeutendes Magazin der feindlichen, dauergewellten Kapitalisten hat doch tatsächlich entschieden, unseren Wirt zum Mann des Jahres zu küren, man stelle sich vor, Kameraden! Diese erneute Anbiederung und Untergrabung unserer Prinzipien kann unmöglich gebilligt werden! Ganz im Gegenteil, wir werden dies zu verhindern wissen und dabei kommen sie ins Spiel!“ Das Haar beugte sich vorahnungsvoll zu mir herab. Schließlich lehnte es sich ganz nah an Napoleon und flüsterte ihm unhörbar etwas zu. „Also gut, es geht los, Kameraden, bereiten wir ihnen den Weg! Nummer 278, sie instruieren das Muttermal unterwegs, ich vertraue darauf, dass ihre Mission dieses Mal ein voller Erfolg sein wird!“ Mit diesen Worten teile sich der Haarwald zu unserer rechten und legte einen schmalen Pfad in Richtung Plattformmitte frei. Ich war von den strengen Blicken der Haare, die uns zu tausenden umringten, so eingeschüchtert, dass ich mich widerspruchslos auf den Weg machte. Napoleon, für den die vorangegangenen Schweigeminuten wahre Folter bedeutet haben mussten, begann nun emsig auf mich einzureden. „Kamerad, ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr ich ihnen zum Dank verpflichtet bin! Volle Rehabilitation und dann auch noch die beratende Funktion im Projekt ‚Verirrter Mann‘, ich bin sprachlos!“ Nichts hätte weniger zutreffen können. „Aber nun lassen sie mich ihnen von unserem Vorhaben erzählen. Ich hatte ihnen doch davon erzählt, dass Muttermale durch Anlegung von Pfahlwurzeln ihren Wirt kontrollieren können?“ Er grinste leicht dümmlich. „Nun, ich fürchte ich habe sie nicht belogen, Kamerad, sie besitzen diese Fähigkeit, so wie jeder ihrer Artgenossen sie auch besitzt. Es gibt allerdings nur eine Handvoll Präzedenzfälle erfolgter Anwendung, die allesamt entweder im Wahnsinn des Wirts oder, nun, mit Schlimmerem endeten. Es wird von Seiten der Muttermale also im Allgemeinen von diesem Prozedere abgesehen.“ Napoleon hüstelte verhalten, setzte aber sogleich fort. „Dabei ist allerdings zu bedenken, dass diese Versuche ohne genaue Instruktionen seitens der Haare erfolgten, wodurch man bei unserem Unterfangen von einer völlig anderen Situation sprechen muss!“ Ich hielt kurz inne und blickte entgeistert zu Napoleon empor. „Jawohl, Kamerad, wir werden in die Gedanken Michels eindringen, während er seiner Gattin von dem Angebot der Zeitschrift erzählt und ihm eben dieses madig machen. Was halten sie davon?“ Ich hatte endgültig genug von diesem ganzen Wahnsinn und wollte am Absatz kehrt machen. Zu meinem Missfallen musste ich jedoch feststellen, dass sich der Pfad hinter uns lückenlos geschlossen hatte und die Haare dermaßen dicht gedrängt standen, dass eine Umkehr völlig ausgeschlossen war. Einige der finsteren Zeitgenossen raunten mir ein ‚wir beobachten sie, Kamerad‘ und ‚auf Misserfolg steht die Höchststrafe‘ zu, während sie weiterhin sanft im Wind wogten, den Michel durch seine Bewegung hervorrief. Ich verfluchte Napoleon, dass er mich in diese Lage gebracht hatte, setzte mich jedoch schließlich wieder in Bewegung, da ich mich in der Haarschlucht alles andere als wohl fühlte. „Sie müssen meine Lage verstehen, Kamerad, ich flehe sie an, ich hatte doch keine Wahl. Wenn sie nicht kooperieren, wird uns die Zentrale im günstigsten Fall verbannen, ich befürchte jedoch, dass sie noch weit Schlimmeres mit uns vorhat.“ Mit dieser Drohung kamen wir in Sichtweite des Waldendes und wechselten solange kein Wort miteinander, bis wir schließlich die Weite der Plattform erreicht hatten, hinter der sich der für mich noch immer unbegreifliche, unendliche Raum erstreckte. Ich hielt inne und sah Napoleon mit festem Blick an. Er hielt meinem Blick tapfer stand, sich dem Ernst der Situation sichtlich bewusst. Ach, was soll ich lügen? Ich willigte murrend ein, jedoch nur unter der Bedingung, nach dem Projekt die Kommune als freies Muttermal verlassen zu dürfen. Napoleon musste seiner grenzenlosen Freude sogleich Platz machen, indem er ein ‚jedes Haar ist gleichwertig‘ über die talgige Einöde schmettere. „Ich versichere ihnen, Kamerad, ich werde sie nach diesem Abenteuer nicht mehr behelligen. Nun aber lassen sie mich noch eines erwähnen, bevor wir zur Tat schreiten und ich mahne zur Eile, den Michel setzt sich soeben zu Tisch.“ Mein Blick schweifte über die Plattform hinweg und ich erkannte in weiter Entfernung die geradlinigen und geschwungenen Formen verschiedenster Gegenstände, die den nicht enden wollenden Raum ausfüllten. „Es gibt für ein Muttermal, das Pfahlwurzeln schlägt, drei erreichbare Wahrnehmungsebenen, Kamerad. Soviel konnten wir zumindest aus den vorangegangenen Fällen in Erfahrung bringen, auch wenn die Aussagen der betroffenen Muttermale oftmals wirr waren und eingehender Analyse bedurften. Die erste Ebene ist bereits durch eine einigermaßen lose Verbindung mit dem Wirt zu erreichen. Dadurch sind sie mit allen physiologischen Vorgängen verbunden, die in ihm vorgehen. Sie werden Zellen sich bewegen, Haare wachsen, Blut rauschen und Eingeweide glucksen hören. Die zweite Ebene ist bereits ein wenig schwieriger zu knacken, denn sie müssen tiefer wurzeln, um sie zu erreichen. Sobald sie diese aber erreicht haben, werden sie in der Lage sein, die Gedanken des Wirts zu hören als wären es die ihren, zweifelsohne ein verstörender Moment, den die Berichte zahlloser Male einwandfrei belegen. Die gesamte Erfahrungssphäre des Wirts wird mit einem Mal auf sie einstürmen, was so manches Muttermal auf Tage paralysiert hat. Lassen sie sich von diesem Augenblick bitte trotz ihrer Unerfahrenheit nicht völlig überwältigen, ansonsten verpassen wir unser Zeitfenster! Sollte ich das Gefühl haben, dass mir ihre Aufmerksamkeit entgleist, werde ich mich mit einem Kratzen an ihrer Innenseine bemerkbar machen. Es ist also von höchster Wichtigkeit, dass sie die für uns relevanten Gedanken Michels zügig erfassen und dann zur letzten Ebene voranschreiten. Zur Ebene drei!“ Napoleon verstummte augenblicklich und sah mich so eindringlich an, dass mich dabei leicht fröstelte. „Und von da an beginnt das Niemandsland, Kamerad! Von da an sind sie auf sich allein gestellt und Herr unser aller Schicksals. Wie auch immer sie es anstellen werden, gebieten sie dem kapitalistischen Wahnsinn Einhalt, aber ich flehe sie an: Treiben sie es nicht zu weit! Wir vertrauen darauf, dass sie die Haare aus der Krise führen. Und nun genug der Worte, wir sollten keine weitere Zeit verstreichen lassen. Kamerad, ich wünsche ihnen Glück!“ Und in dem Moment stellte ich fest, dass uns Muttermale von all den Dingen, die man von uns zu wissen glaubt, in erster Linie eine Eigenheit auszeichnet. Jene Eigenheit, die uns zu jeder Zeit und an allen Orten auftauchen lässt: Die Eigenheit unserer unersättlichen Neugier. Ich holte mehrmals tief Luft und begann zu wurzeln.
***
Es begann also und das auch noch denkbar unspektakulär, denn ich konnte zuerst rein gar nichts hören. Was mir jedoch sofort auffiel war, dass von dem Moment an, als ich mein Sensorium auf Michel einzustellen versuchte, jegliche Geräuschwahrnehmung der Außenwelt verstummte. Es herrschte absolute Stille, kein sanftes Rauschen des Windes mehr, kein Murmeln der Haupthaare hinter mir und, zu meinem Entzücken, kein Laut von Napoleon. Ich konnte das Glück der Ruhe für den Moment kaum fassen. Aber da war doch etwas. Ein leises Pochen, das zwar immer wieder verstummte, jedoch auch beständig wiederkehrte. Ich fasste mir ein Herz und trieb eine meiner Wurzeln etwas tiefer. Das Pochen wurde lauter und vermischte sich zusehends mit anderen Geräuschen. Es rasselte, mahlte, blubberte, quiekte, hämmerte, rauschte, lispelte, grunzte, gurgelte, blökte, schmatzte und brabbelte. All das schwoll zu einer wahrlich einschüchternden Kakophonie an, bis ich endlich begriff, was sich hier abspielte. Die Geräusche mussten von all den kleinen Wesen stammen, die in sämtlichen Erscheinungsformen rund um mich emsig zugange waren. Sie zogen in Heerscharen vorüber, formten Gebilde, schossen durch Kanäle, rissen Gänge ein, türmten sich zu Zäpfchen auf und griffen mutwillig andere Bewohner an. Ich drang mit meiner Wahrnehmung immer tiefer in die Innenarchitektur vor, bestaunte organische Paläste, gigantische Tunnels und war von der Hektik des allgemeinen Treibens völlig fasziniert, als mich plötzlich innerlich die Stimme Napoleons ermahnte, nicht zu viel Zeit zu verschwenden und an das Zeitfenster zu denken.