Beim ersten Jucken. Sean Schnipowitz

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Название Beim ersten Jucken
Автор произведения Sean Schnipowitz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738020441



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Male beschwert, treibt mir beinahe die Bräune aus dem Leib. Als ich mich in dem Chaos, das zu allen Seiten herrscht, ein wenig aufzurappeln versuche, zischt mir ein älterer, leicht faltiger Zeitgenosse mit starkem Haarbewuchs ein scharfes ’nicht bewegen‘ zu. Im Handumdrehen herrscht Totenstille. Doch da ist ein leises Hintergrundsurren, kaum wahrnehmbar, und doch nicht wegzuleugnen. Ich blicke noch sichtlich benommen zur Seite und bemerke, wie sich mit langsamer Drehung ein gläserner Tubus aus dem Boden schraubt und mich mit dem behaarten Kollegen und dutzenden Anderen in seinem Inneren einschließt. „Das ich das noch erleben darf!“ Einem Miteingeschlossenen kommen jäh die Tränen. Und in dem Moment, als ich ein ängstliches ‚was meinen sie damit‘ ausstoßen will, schließt sich in schwindelerregender Höhe über uns der Tubus mit einem inhalierenden Schmatzen. „Ich werde noch einmal auf Reisen gehen!“ Und zuletzt alle in ekstatischem Unisono:“Es geht los!“

       <<FLUPP>>.

       Kein Boden mehr.

       Wir fallen.

      Schwärze.

      ‚…Raissa, wo sind wir nur…? Wir brauchen Meinungsfreiheit, der Mensch ist es, der zählt. Und wir müssen den Schatten entfliehen, Raissa, den Schatten…‘ „Wachen sie auf, Kamerad!“ ,…und weg von den Gläsern, Raissa, meine Liebe, die Genossen vernichten das geistige Potenzial der Union…‘ „Meine Güte, wachen sie schon endlich auf!“ ‚Ach Fjodor, Dein Raskolnikow ging in die Irre!‘ Und endlich wieder Schwärze.

      ***

      „Mein Güte, Kamerad, ich dachte schon ich hätte sie verloren. Aber sorgen sie sich nicht, ich werde mich um sie kümmern, sie werden schon sehen.“ Das Haar beugte sich fürsorglich über mich, richtete sich aber sogleich wieder auf und nahm stramme Haltung an. „Auch wenn ich nach wie vor fassungslos aufgrund der Handlung unseres Kameraden Michel bin, welch fatale Anbiederung gegenüber dem Kapitalismus, bar jeden Geschmacks, für wahr! Jedes Haar ist GLEICHWERTIG! Aber dazu später, wenn ich mich kurz vorstellen dürfte? Mein Name ist Napoleon, Haupthaar, Plattform eins, linke Flanke, es ist mir wahrlich eine Freude sie kennenzulernen!“ Ich war von dem eben Geträumten noch so benommen, dass ich nur langsam zu mir fand, was durch das uns umgebende Halbdunkel der Nacht noch verstärkt wurde. Der dadurch entstandene Augenblick der Stille gab Napoleon hinreichend Zeit, zu einem weiteren Schwall einleitender Worte auszuholen. „Ich korrigiere, ehemaliges Haupthaar! Sie werden nach diesem stressbehafteten Introitus wahrscheinlich dutzende Fragen haben, Kamerad und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um sie ins Bild zu setzen. Außerdem schläft Michel noch tief und fest, wir haben insofern etwas Zeit.“ Mein Mund wollte die Worte ‚wer bin ich‘ formen, er blieb aber stumm, was sogleich einen weiteren schwülstigen Monolog seitens Napoleons heraufbeschwor, während dessen er sich mehrfach bedeutungsvoll verneigte. „Sie, Kamerad, sind ein neugeborenes Muttermal. Bei Lichte besehen werden sie feststellen, dass sie vom Scheitel bis zur Sohle schwächlich braun gefärbt sind, was auf ihre bis dato noch recht kurze Lebenszeit hindeutet. Darüber hinaus sind auch ihre Ausmaße noch ein wenig übersichtlich, aber gut Ding will bekanntlich Weile haben. Entgegen der Meinung vieler Wirte sind sie keine Anhäufung nutzloser, verhaltensentgleister Zellen, die man am besten chirurgisch entfernen ließe, nein, ganz im Gegenteil! Sie sind ein selbstständig denkendes Wesen, jedoch in ihren Entscheidungen noch etwas unbedarft, meine Güte, ihre Aktion hat uns fundamental sabotiert, sie Teufelskerl! Aber das ist der Geist, denn wir hier brauchen, Entscheidungskraft, jawohl, Kamerad, Entscheidungskraft! Und der unstillbare Durst nach großen Tagen! Mit ihnen werden wir uns zurück an die Spitze kämpfen!“ Er setzte noch ein strammes ‚jedes Haar ist gleichwertig‘ hinterher. „Aber was mache ich hier?“ Diese Frage schien mir neben der Existenzfrage die allerdringlichste. „Nun, Kamerad, der Sinn meines Daseins, der mit dem ihren schicksalsschwer verwoben scheint, ist schnell und prägnant erläutert. Der explizite Befehl der Zentrale lautete, Plattform eins so lange wie möglich zu halten und unserem Wirt somit keinerlei Blöße vor unserem Kontrahenten zu geben, wenn sie verstehen. Die Order von oben verlangte weiters, die Unterschrift des Wirts um jeden Preis zu verhindern. Ich und meine Kameraden hatten unsere Stellung seit Jahren wacker gehalten und ich kann ihnen sagen, die russischen Winter hatten fortwährend bestialische Opfer unter meinesgleichen gefordert. Trockene Haut, Spliss, Talgdrüsentrauma, Keratinapokalypse! Aber wir hielten aus, das Ziel fest vor Augen.“ Er skandierte lauthals ein ‚Jedes Haar ist gleichwertig‘. „Und dann war es schließlich soweit! Der Kapitalist hatte unweit von uns Position bezogen und sein dauergewelltes Bataillon blickte uns säbelrasselnd entgegen, um alles in der Welt dazu entschlossen, diesen Vertrag zur Unterzeichnung zu bringen. Im Moment höchster Anspannung, kurz bevor wir unsere Feinde durch einen überraschenden Ausfall zur Aufgabe gezwungen hätten, sind jedoch plötzlich sie erschienen und haben mich zuerst etwas unglücklich im Boden verankert und danach in diese Tiefenlage zu Fall gebracht. Dadurch ist die Mission leider auf das unerfreulichste gescheitert und befänden wir uns nach wie vor auf Plattform eins, man hätte mich gewiss aller Kriegswürden enthoben und im Rang weit nach unten verbannt.“ Napoleon hielt kurz betroffen inne, was mir die Möglichkeit bot, die Frage nach dem Sinn meiner Existenz noch einmal explizit zu wiederholen. Er grübelte einen Moment und antwortete schließlich strahlend. „Sie sind unser Hoffnungsschimmer, Kamerad! Für den Moment scheinen wir geschlagen und der Feind ist ungewollt erstarkt, aber mit ihnen an der Spitze, ich sage ihnen! Wir werden dem Wirt Michel das Geflirrte mit der Marktwirtschaft ein für allemal austreiben. Wir werden ihm die Werte der Vergangenheit einimpfen und wer weiß, vielleicht werden in naher Zukunft wieder die strahlenden Ringe alkoholischer Intoxikation die Schäfte der Kameraden zieren. Denn jedes Haar ist schließlich GLEICHWERTIG‘!“ Ich konnte den Ausruf jetzt schon nicht mehr ertragen. Als Napoleon sich einigermaßen beruhigt hatte, fuhr er in seinen Erläuterungen fort. „Lassen sie mich noch eine Handvoll Dinge erwähnen, bevor wir mit der Planung unserer glorreichen Rückkehr beginnen. Sie müssen wissen, die seit Jahrtausenden erprobte Nachbarschaft aus Haut und Haar hat meine Schar einen beträchtlichen Wissensfundus über Muttermale anhäufen lassen, mittels dem ich ihrer Erinnerung, Kamerad, nun noch ein wenig auf die Sprünge helfen möchte. So dies nicht ausgerechnet ihre erste Runde ist, sollten sie innerhalb der nächsten Wochen eine Art, nun, wir nennen es Reinkarnationsgedächtnis wiedererlangen, das ihnen stückweise ihre vorangegangenen Erfahrungen vor Augen führen wird. Dies sollte wesentlich zur Klärung ihrer Daseinsfrage beitragen. Außerdem müssen sie noch zwei Dinge wissen: Je tiefer sie in den Wirt wurzeln, desto stärker werden sie sich ihm verbunden fühlen. Sie werden ihn nicht nur bei seinen Handlungen beobachten, sondern auch seine Gedanken hören können, eine Fähigkeit, die uns Haaren bislang leider versagt blieb. Dies ist zu Beginn sicher verwirrend, aber mit der Zeit sollten sie lernen, damit umzugehen. Der Volksmund berichtet darüber hinaus von Muttermalen, die es durch die Anlegung von Pfahlwurzeln anscheinend sogar dazu gebracht haben sollen, ihren Wirt gedanklich zu beeinflussen. Eine interessante Vorstellung, Kamerad, dazu jedoch später. Der letzte Punkt ist womöglich der wichtigste!“ Napoleon hielt wieder einen Augenblick inne und beugte sich schließlich tief zu mir herab. „Das Jucken, Kamerad!“ Diese eigenartige Wendung des Monologs machte mich kurzfristig noch stutziger. „Es setzt plötzlich ein, sie werden überrascht sein! Doch sie sollten wissen, wenn das Jucken beginnt, ist der Sprung nicht mehr weit!“ Die Aussicht auf einen erneuten Sprung erfüllte mich mit sichtlichem Unbehagen. „Keine Sorge, so schnell werden sie mich nicht los. Aber irgendwann wird sie auf diesem Wirt das Jucken ereilen und sie werden springen müssen. Seien sie dazu bereit! Und nun ruhen sie sich aus, uns erwartet morgen einiges an Arbeit! Außerdem sollten wir darüber hinaus erwägen, unsere strategisch ungünstige Position zu verändern; die degoutante Last des feindlichen Fingers hallt mir immer noch durchs Gebälk!“ Mit diesen Worten verstummte er, kräuselte sich und ließ seine Spitze schließlich ein Stück über meinem Kopf baumeln. Er benahm sich, als hätte er den Raum verlassen, so als wäre er außer Reichweite, während seine untere Hälfte weiterhin unverändert in mir steckte. Dieses absurde Finale einer Geburt war etwas zu viel für mich. Ich konnte einfach nicht fassen, was binnen weniger Augenblicke passiert war. War es denn meine erste Runde? Reinkarnationsgedächtnis? Plattform eins? Eins war sicher, ich konnte mich an nichts außer dem Traum mit dem Kessel erinnern. Das angenehme Summen der Trommel. Den Glaszylinder. Doch