Название | Ganz für sich allein |
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Автор произведения | Werner Koschan |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738097450 |
Wieso wollen mir plötzlich wildfremde Menschen helfen? Das ist doch geradezu widersinnig. Ich stütze den Kopf in die auf der Theke verschränkten Arme.
»Sind Se valetzt? Kann ick Ihnen helfen?«
Ich schüttele den Kopf. »Mir kann niemand mehr helfen.«
»Sind alle umgekommen?«
Ich schaue ihn an. »Wer?«
»Na ja, als ick vorhin sah, wie Se hier rinjeloofen sind, dachte ick erst, Se wärn een Plünderer, denn ha’ck de SS jesehn und mir hinten nich jerührt vor Schiss. Aber wejen Ihrm Stern denk ick nu, det alle Ihre Leute hin sind, deswejen frage ick. Tschulljung.«
»Nein, nein. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich bei Ihnen so eingedrungen bin. Wir dürfen ja nachts nicht draußen sein. Sonst hätte ich Sie gar nicht belästigt. Meine Frau habe ich zu Beginn des Angriffs vorhin verloren, dann schien es, als ob ich selbst mein eigenes Leben ... und Sie helfen mir einfach so. Das muss ich erst verkraften, verzeihen Sie.« Ich stütze den Kopf in die Hand. Es ist zum Heulen.
»Hat se sehr jelitten?«, fragt er teilnahmsvoll.
»Wer?«
»Nu, Ihre arme Frau.«
»Keine Ahnung. Ich hoffe nicht. Wie kommen Sie darauf?«
»Na, weil Se saren, Se hätten se vorhin varlorn. Da dachte ick...«
»Nein, nein. Um Himmels willen. Ich habe sie nur aus den Augen verloren. Ich hoffe, sie ist in Sicherheit in einem Arierkeller.«
Er tritt einen Schritt zurück. »Dusslije Bezeichnung. Arier. Wat for ’n Quatsch. Wir sin doch alle Deutsche, eener wie der andre.«
»Kann ich vielleicht was dafür, dass diese Kerle damit angefangen haben? Trotzdem sollten wir nicht so reden. Sowieso sollte ich besser den Mund halten.«
»Ham Se irjendwat ausjefressen?«
»Eine Menge: Ich darf nicht hier drinnen sein und dort draußen auch nicht. Und mit Ihrer Klinge werde ich gleich ziemlich viel ausfressen. Ich danke Ihnen nochmals recht herzlich. Bringen Sie sich in Sicherheit, in ein paar Minuten bin ich weg. Ich werde den Koffer auf die Theke legen. Wenn Sie ihn darauf nachher nicht mehr sehen, bin ich ebenfalls verschwunden. Danke.«
»Nüscht zu danken. Wiedasehn. Wat heeßt Wiedasehn auf Jüdisch?«
»Wir sagen Schalom.«
»Na denn, schalomm.«
Er beobachtet kurz die Lage draußen und ist mit einem Sprung verschwunden. Recht behände für solch ein Moppelchen, finde ich. Aber vor allen Dingen hat der Mann Chuzpe, obwohl ihm die Hilfeleistung nichts einbringt. Erinnert mich an den Bettler des ukrainischen Dorfes Anatevka im gleichnamigen Musical. Dort bittet der Bettler den Rabbi um eine milde Gabe. Der Rabbi gibt ihm eine Kopeke und der Bettler beschwert sich, weil er vorige Woche zwei Kopeken erhalten habe. Der Rabbi erwidert, dass er eine schlechte Woche gehabt hätte. Da braust der Bettler auf: ›Wie, wenn du eine schlechte Woche hast, soll ich leiden?‹ Wahre Chuzpe.
Wann waren Carola und ich das letzte Mal in einem Musical gewesen? Vergessen.
Ich ziehe den Mantel aus, wickele die Klinge aus dem Papier und beginne vorsichtig die Naht um den Stern zu zertrennen. Mit einer sehr strammen Doppelnaht ist das Mistding am Mantel befestigt. Schon nach wenigen Schnitten habe ich den Mantel um den Stern derart beschädigt, dass die Schnitte ebenso auffällig sind, wie der Stern selbst. Mein Zeitgefühl lässt mich wie so oft im Stich. Ich schätze von der halben Stunde sind bestimmt erst zehn Minuten verstrichen. Ich will den Besitzer des Cafés nicht enttäuschen. Also weg mit dem Mantel und an dem Jackett versucht, den Stern abzutrennen. Das funktioniert einwandfrei und recht schnell.
Und dann habe ich Angst. Hundserbärmliche Angst. Bisher war alles - na ja nicht gerade alles - irgendwie geregelt gewesen. Hunger, Sorge, Not, ja schon. Und nun, den abgetrennten Stern in der einen Hand, das nackte Jackett in der anderen spüre ich - Gott wie kitschig - den Hauch des Schicksals. Den Atem der vergangenen zweitausend Jahre. So muss es einem Fallschirmspringer beim ersten Absprung gehen. Bis dahin kann man beinahe alles rückgängig machen oder zumindest den letzten Schritt nicht tun. Nun kann ich nichts mehr rückgängig machen. In diesem Café habe ich mit ein paar Schnitten mein Leben aufs Spiel gesetzt. Und jetzt muss ich da durch, egal, was geschieht! Auf jeden Fall erst mal weg hier.
Ich verpacke die Klinge im Fettpapier, lege das Briefchen unter die Einlegesohle und schlüpfe in den Schuh. Den Mantel werde ich nicht liegen lassen. Das wäre ein schlechter Dank für die Freundlichkeit dieses Menschen. Tja, Chuzpe, wird dringend Zeit, dass ich selbst wieder etwas von meiner längst verschütteten Dreistigkeit zurückgewinne. Mir fällt unvermittelt meine Studentenzeit ein. Wieso gerade in diesem Augenblick? Beeilen sollte ich mich, statt in Gedanken herumzutrödeln. Aber es denkt sich ganz von allein. Dagegen kann ich nichts machen.
Wir mussten juristische Probleme lösen. Meine Aufgabe bestand darin, einen Fall aus dem Jahre 1925 zu beurteilen, in dem ein Sohn beide Eltern erschlagen hatte und nun um mildernde Umstände bat. Wie ich nach Recht und Gesetz hätte urteilen müssen, war mir bewusst. Andererseits wollte ich mal sehen, was geschieht, und zum Erstaunen meiner Kommilitonen und des Prüfungskomitees schlug ich vor, mildernde Umstände zu gewähren, da es sich bei dem Mörder nun ja schließlich um einen Vollwaisen handelte. Meine Kommilitonen lachten lauthals und die Prüfer schmunzelten über die Idee. Und wenn ich aus diesem ganzen Schlamassel herauskommen will, muss ich meine Unverfrorenheit, zumindest Stück für Stück davon, wirklich schnellstens wiederfinden.
Ich lege den Rucksack an. Dann wickele ich den Mantel auf links und hänge ihn mir dergestalt über die linke Schulter, dass er die Stelle verdeckt, an welcher vormals der Stern auf meinem Jackett befestigt war. Das erscheint mir doppelt sicher - na also, geht doch. Frechheit steh mir bei! Ein absurdes Gefühl, zwölf Jahre lang hatte ich den Kopf eingezogen und jederzeit den ... hm ... eingekniffen. Wenn es mir verboten worden wäre zu atmen, hätte ich vermutlich selbst dann zu gehorchen versucht; und nun, heute, durch unbegreifliche Verstrickungen getrieben, stolpere ich von einer Ungehorsamkeit in die nächste. Vor Furcht und Sorge sollte ich vergehen und was ist? Ich mache mir nur Sorgen um Carola. Wenn ihr nur nichts geschieht. Mir selbst bin ich beinahe völlig wurscht, mir macht diese ganze Geschichte sogar irgendwie Spaß. Mir graut vor mir selbst. Rund um mich herum geht die Welt zum Teufel, wegen dieser Teufel in Uniform, die mit der Teufelei begonnen haben und mir kommt es vor, als ob mich das nichts mehr angeht. Mir und mich - ulkigerweise hat der Berliner das gerade so wundervoll dialektisch definiert: Mir kann keiner, aber mich können sie alle!
»So. Und nun nix wie nach Hause. Vielleicht ist Carola ja schon da.« Ich rede zu mir selbst. Genau, vielleicht erwartet sie mich ja längst ungeduldig mit einer Tasse Tee. Gott, wäre das schön!
Da fällt mir ein, dass ich meine Kennkarte mit dem deutlich eingestempelten ›J‹ in der Manteltasche trage. Muss man ja stets mit sich tragen. Andererseits kann ich, falls ich kontrolliert werden sollte, nicht ohne Stern und mit J-Karte dastehen. Der Ausweis muss weg! Aber wenn etwas in der Forststraße schiefgeht, soll ich die Karte als Identitätsbeweis zeigen. Wieso eigentlich? Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Nur weil jemand eine J-Karte hat, bedeutet das nicht, dass er nicht doch von der Gestapo geschickt ist. Was nun?
Am besten stecke ich das Ding in die Unterhose - wird ja wohl niemand drin suchen wollen.
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