Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



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Die Flugzeuge sind davongeflogen. »Vielleicht sammeln sie sich bereits zum nächsten Schlag«, befürchtet eine Männerstimme. »Wir müssen zur Elbe hinunter. Wenn wir bis dorthin durchkommen, sind wir gerettet.«

      Als wenn dieser Ruf eine göttliche Erleuchtung wäre, stürmen die anderen Menschen los. Sogar Blumenthal läuft mit dem Kind auf dem Arm vorwärts. Die verängstigten Leute folgen dem Rufer automatisch. Ebenso der einzelne Tscheche - mein Glücksbringer - folgt der Menge.

      Ich sehe ihnen hinterher, spüre ein seltsames Gefühl im Bauch und glaube, verrückt zu werden. Ich höre ganz deutlich Carolas Stimme, sie ruft eindringlich: »Jakob, du darfst nicht wieder weglaufen! Du darfst nicht den Kopf in den Sand stecken! Nimm endlich dein Leben in die eigene Hand. Lass dich nicht länger drangsalieren! Zeig hier und jetzt, dass du ein wertvollerer Mensch bist als dieses Volk von Mitläufern und willigen Mördern. Jakob ... Jakob ... Jakob!« Es kommt mir so vor, als würde sich Carolas Stimme in Richtung Eingangshalle des Bankgebäudes bewegen. Da muss ich hinterher.

      Obwohl mir der Zutritt zu diesem Gebäude strengstens untersagt ist, folge ich nun Carolas Ruf. Ich betrete die Halle, welche den gleichen soignierten Eindruck auf mich macht wie seinerzeit, als ich selbst Kunde hier war. Seltsamerweise riecht es nicht so nach Brand und Katastrophe, wundere ich mich, sondern nach Wohlstand und Sicherheit. Ach, wie lange habe ich diesen Geruch nicht mehr gekostet.

      Erneut glaube ich Carolas Stimme zu hören. »Wenn du nicht fortläufst, wird alles gut werden und wir werden uns wiedersehen! Du musst nur mutig sein!«

      Ich bin fest überzeugt, dass ich in diesem Moment absurd wirken muss. Ich schaue mich mehrmals um. Wie soll ich denn Carolas Worte in die Tat umsetzen? Mutig. Ausgerechnet ich. Ein Jurist, ein jüdischer dazu; in einem Land, das aus der ganzen Welt einen blutigen Schlachthof gemacht hat. Ich soll mit einem Mal mutig sein? In einer reichlich zerstörten Stadt, daselbst allerdings in einem scheinbar intakten Bankhaus. Grotesk. Was soll ich hier? Soll ich vielleicht Rache nehmen? Vor allem, wie soll ich Rache nehmen? Womit? Gegen wen? Nun gut, ich könnte die Akten anzünden. Brand legen. Aber der würde ja vermutlich sowieso bald von selbst entstehen. Außerdem bin ich kein Brandstifter!

      Moment mal, denke ich. Momentchen bitte mal! Wer hat denn etwas von Rache gesagt? Carola hat darum gebeten, dass ich nicht einfach abhaue. Vielleicht ist ja durch den Luftdruck, der die Türen eingedrückt hatte, irgendetwas geschehen, auf das sie mich mit der Nase stoßen will. Wenn ich schon ihre Stimme höre, hat das sicherlich was zu bedeuten!

      Ich schaue mich in der Halle der Bank um. Es besteht kaum ein Zweifel, ich bin allein. Ist bestimmt Schicksal, dass die Glastüren zerbrochen sind. Normalerweise wäre ich ja gar nicht in den Kasten hineingekommen. Nun schaue ich mich bewusst aufmerksam um. Es hat sich seit früher kaum etwas verändert. Versteht sich ja eigentlich von selbst, eine Bank ist traditionsbewusst.

      Im Schalterraum brennt kein elektrisches Licht, jedoch durch die Feuer in der Umgebung fällt genügend Helligkeit ins Gebäude, um ausreichend zu sehen. Ich kann mich nahezu mühelos zurechtfinden. Zögernd betrete ich den Schalterraum, verharre eine Weile vor dem Informationsschalter, an welchem ich mich damals immer angemeldet hatte, wenn ich etwas in meinem Schließfach deponieren wollte oder daraus etwas zu entnehmen gedachte. Im Schalterraum war nur recht wenig durcheinandergewirbelt. Ich schaue mich suchend um. Niemand ist zu entdecken. Die breite Treppe, welche ich früher hinabgegangen war, um zum Schließfach zu kommen, scheint mich wiederzuerkennen und lädt zum Betreten ein. Ich steige Stufe für Stufe vorsichtig hinab. Der Schimmer der Brände beleuchtet sogar noch den Keller.

      »Hallo!«, rufe ich. »Hallo, ist hier jemand? Wenn jemand da ist, geben Sie ein Zeichen, damit ich Ihnen helfen kann.«

      Niemand antwortet, und vorsichtig erreiche ich den Platz vor dem Tresorraum. Dessen schwere Stahltüren sind geschlossen.

      Es gibt niemanden, dem ich hätte etwas erklären müssen. Umso besser, so kann ich ein wenig zur Ruhe kommen und nachdenken. Zunächst würde ich eine ganze Weile im Keller der Bank bleiben. Weiß der Himmel, ob der Bombenterror noch mal von vorne losgeht. Das ganze Ausmaß der Katastrophe kann man sowieso erst bei Tageslicht ermessen. Vielleicht wäre es sinnvoll, bis zum Morgen zu warten? Aber was sollte dann Carolas Rufen? Wieso sollte sie mich ausgerechnet an diesem Ort vermuten? Was, wenn sie unterdessen durch ganz Dresden läuft, um mich zu suchen? Wenn sie überhaupt herumlaufen kann. Bloß nicht dran denken. Schon allein die Vorstellung, Carola läuft in Todesgefahr durch das brennende Chaos und ich hocke hier gemütlich in zeitweiser Sicherheit. Ich habe Angst und Hunger. Nun gut, dieses Gefühl kenne ich seit Jahren. Zusätzlich habe ich einen Mordsdurst. Wasser hatte bisher wenigstens immer genügend zur Verfügung gestanden. Woher soll ich wissen, wo es in diesem Gebäude was zu trinken gibt? Vielleicht sind ja die Leitungen in den Toiletten intakt? Will ich doch sofort mal nachschauen.

      Also steige ich die Treppen wieder hinauf und gehe vorsichtig zu den Toilettenräumen für die werte Kundschaft. Bin ich ja auch - nun ja, war ich zumindest mal. Nichts hat sich verändert, außer dass es nun ein wenig unordentlich wirkt. Ich drehe einen Wasserhahn auf, nichts. Ebenso der zweite und dritte Hahn bleiben trocken. Die Fensterscheiben hat’s zerrissen und Papierrollen liegen wüst am Boden verstreut. Ich halte den Atem an; eine schwelende Stabbrandbombe ist wohl durch ein Fenster in den Raum gelangt und hat die Papierrollen in einer Ecke des Toilettenraumes angekokelt. Wenn das Ding jetzt zündet, brennt es lichterloh und ich gleich mit. Löschen, unbedingt löschen ist mein erster Gedanke. Die Frage ist, wie, da die Wasserleitungen trocken sind.

      Unwillkürlich denke ich an Bruno Bierlos während der Silvesternacht; ob ich auf die gleiche Art hier löschen soll, wie wir damals die Eiche gewässert hatten? Nein danke, wozu soll ich denn etwas riskieren? Selbst wenn Toilettenpapier Mangelware ist, diese wohlhabende Hausbank des Führers wird diesen Verlust sicher verkraften - haben schließlich genügend von uns enteignet! Ist das jetzt ausgleichende Gerechtigkeit? Was geht es mich an? Schwere Einschläge ganz in der Nähe lassen das Gebäude zittern und prompt fällt mir wieder ein, was um mich herum in Dresden geschieht und wie lächerlich mein Durst eigentlich ist. Wenn schon eine Brandbombe durchs Fenster ins Haus gefallen ist, kann ohne Weiteres durchaus ein Wohnblockknacker durchs Dach einschlagen, dann ist hier Schluss. Wohin, mein Gott, wohin kann ich nur verschwinden?

      Ich höre ein metallisches Geräusch aus dem Keller. Oh Gott, hoffentlich kracht nicht gleich das Haus ein. In neugieriger Panik eile ich zur Kellertreppe und sehe gerade noch, wie die Stahltür zum Tresorraum geschlossen wird. Eine junge Frau steigt rasch die Treppen empor und bleibt unvermittelt stehen, als sie mich entdeckt. Sie blickt mich zweifelnd an. »Wo kommen Sie denn her?«

      »Aus der Toilette«, antworte ich beinahe wahrheitsgemäß.

      »Was wollen Sie denn dort?«

      »Fragen Sie mich das jetzt im Ernst?«

      Sie lächelt tatsächlich kurz, wirkt dennoch gehetzt. »Nein, natürlich nicht. Das kann ich mir denken. Wie kommen Sie denn in die Bank? Wir haben geschlossen.«

      Sie hat den oberen Absatz der Treppe erreicht und steht mir nun gegenüber. Ihr Blick fällt auf den Stern an meiner Brust. Ihre Augen weiten sich. »Mann, sind Sie irre?«

      »Halten Sie Juden für Irre?«

      Sie schaut die Treppenstufen hinab. »Nein, Irre sind die anderen und davon sitzen ein paar als Luftschutzwache unten bei meinen Kollegen im Tresorraum. Wir sind 16 Leute zum Nachtdienst und zur Luftschutzwache. Die andern 15 sind dort unten und wenn einer auf die Idee kommt, oben nach dem Rechten zu sehen und findet Sie, knallt man Sie ab wie einen tollen Hund. Sie dürfen doch gar nicht hier sein.«

      »Das weiß ich selbst. Danke. Ich hatte nur den inneren Drang eventuell helfen zu wollen.«

      »Denen ist nicht mehr zu helfen.« Sie weist mit dem Kopf zum Keller. »Mich wollten sie auch zunächst nicht gehen lassen, aber ich lass mich nicht in einem Stahlofen einsperren. Wenn das hier anfängt zu brennen, werden die elend gebacken. Da möchte ich lieber mit meiner Familie zusammen einen Volltreffer abkriegen. Ist sowieso alles egal. Wie sieht es denn draußen aus? Ist viel kaputt?«

      »Beinahe alles, ein einziges Inferno. Wo wollen Sie denn hin?«

      »Blumenstraße.