Название | Die Blödheit der Anderen |
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Автор произведения | Ben Worthmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847684015 |
Das Einzige, was ich immer fand war, dass man den Sozialismus überwinden müsse, natürlich war auch das ein Satz, den ich als Kind von meinem Vater mal aufgeschnappt hatte. Jedenfalls glaube ich, mochte ich den Zöllner außerdem, weil er ein sehr schöner Lehrer gewesen war, er sah ein bisschen aus wie Alain Delon und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass die Lehrerinnen in den Hofpausen in seiner Nähe miteinander lauter kicherten als wenn beispielsweise der herrschsüchtige Herr Hirsig, der olle, stets unfreundliche Dickwanst, zur Pausenaufsicht eingeteilt gewesen war. Und der Zöllner hat auch nie beim Fahnenappell stramm gestanden. Einmal kam er sogar zu spät, weil er am Schulhoftor noch lässig eine bis zum Ende durchgeblasen hatte, während der Direktor bereits die Fahne hisste.
Auch mein Vater fand den Zöllner cool und ich erinnere mich, dass er einmal am Mittagstisch erwähnte, dass er den Zöllner im Friedenseck getroffen habe. Mein Vater war früher oft im Friedenseck zum Frühschoppen, damals, als er noch lebte und noch gesoffen hat.
Als Vater vor einiger Zeit starb – ich finde es in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass das Bestattungsinstitut, das sich um seine Beerdigung kümmerte, direkt neben dem Friedenseck ist und "Friedensruh" heißt – und wir das irgendwie passend für ihn fanden, jedenfalls, zurück zu Vaters Tod: als er gestorben war, überlegte Mutter, was sie mit Vaters guten neuen Klamotten anfangen solle. Sie wollte sie weder wegwerfen, noch in die Altkleidersammlung geben, denn sie waren ja, wie gesagt, neu. Sie überlegte ein bisschen hin und her und sagte dann: "Du, wir schenken die Sachen einfach dem Zöllner".
"Der Zöllner", fragte ich ungläubig, denn ich hatte schließlich seit Jahren weder an ihn gedacht, noch konnte ich mich entsinnen, dass seit damals sein Name in meiner Gegenwart gefallen war. Mutter erzählte, dass der Zöllner sogar gleich um die Ecke wohne, aber schwerer Alki und "depri" sei, seit er 1990 mal was mit einer Schülerin gehabt haben soll und sie ihn gleich nach der Wende daraufhin von seinem Amt als Lehrer entbunden haben.
"Der Zöllner sitzt immer auf der Assi-Platte vor Aldi", hat Mutter gesagt, "hast du ihn noch nie dort gesehen"? Nein, natürlich hatte ich ihn nicht gesehen, war ich mir sicher. Also begannen wir, die Schränke meines Vaters auszuräumen, Mutter heulte beim Entsorgen des weißen Pullovers mit dem Matrosenkragen und ich sagte; "Mensch, den werfen wir doch nicht weg, für Vater wäre es bestimmt okay, dass der Zöllner seine Klamotten aufträgt". Mutter sagte nichts, sie lächelte nur. Als wir einen ganzen Sack voll mit Vaters Klamotten gefüllt hatten, liefen wir vor bis zur Straße, in der der Aldi-Discounter ist und wo der Zöllner "immer mit einer Dose Bier auf der Bank in dem kleinen, kargen Rondell" sitzen soll, das jeder im Viertel, in dem meine Eltern wohnen, wie gesagt nur "Assi-Platte" nennt, weil dort die "Loser" sitzen, die "Alkis und "Vergessenen".
Der Zöllner erblickte meine Mutter. Sofort huschte ein Lächeln über sein aufgeplatztes, adriges Gesicht. Er sah schlimm aus, mein alter, wunderschöner Lehrer. Nichts von Alain Delon war geblieben, nichts vom Zöllner war geblieben. Ich sah einen gebrochenen Mann mit gelben Augen. Wir schenkten ihm den Sack mit den Sachen und der Zöllner fragte nicht nach, sondern bedankte sich in einer Art wie sie ihm möglich war.
Als wir uns verabschiedeten, sah er mich an und nickte. Fast so als würde er sich an mich erinnern, ja, als würde er sich daran erinnern, dass er in meine Beurteilung geschrieben hatte, dass ich "stets die Zusammenhänge erkenne, auch dort, wo keine sind", was Vater damals unheimlich witzig fand, wie er dem Zöllner, so Mutter, bei einem Bierchen mal gesagt haben soll.
Wenn ich Mutter jetzt besuche und wir zusammen einkaufen gehen, sehe ich im Rondell vor der Kaufhalle manchmal einen Mann im Matrosenpullover sitzen. Der Anblick erfüllt mich keineswegs mit Traurigkeit. Wenn der Zöllner uns dann von seiner Bank aus sieht, winkt er. Für einen Moment sieht er wieder so aus, als ob er sich freuen würde. Und ich denke, als ich ihm aus der Ferne dabei zuschaue, wie er seine Bierdose in den Müll wirft, dass man ihn fast für Vater halten könnte – diesen alten, traurigen, gebrochenen Matrosen, der nie zur See fuhr und dessen Herz in den tiefen Fluten des Lebens irgendwann ersoffen ist.
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Hallo Greta,
meine Schulzeit vollzog sich in einer etwas verschnarchten kleinen westdeutschen Wirtschaftswunder-Wohlstands-Stadt, an einem recht ehrwürdigen altsprachlichen Jungengymnasium. Wenn ich heute so an diese wirklich lange zurückliegenden Tage denke, meine ich eher einen Hauch von "Feuerzangenbowle"-Romantik zu riechen, als dass mir durch Schnaps gescheiterte Pädagogenexistenzen in Erinnerung kämen. Wir Pennäler, wie man das damals bei uns nannte, haben selbstverständlich allerlei Mist verzapft, um den Lehrkörper zu ärgern, aber das hielt sich doch alles irgendwie in, wie soll ich sagen, sehr bürgerlichen Grenzen, auch wenn die wilden 60er Jahre gerade dabei waren, so richtig Fahrt aufzunehmen.
Außerdem muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich ein ziemlich guter Schüler war. Es gab Zeiten, da habe ich mir regelrecht Mühe gegeben, gegen ein drohendes Klassenprimus-Image anzukämpfen, indem ich mich zum Schulhof-Raufbold stilisierte, gelegentlich den Unterricht schwänzte und demonstrativ andere bei Lateinarbeiten abschreiben ließ. Doch viel genützt hat das nicht. So etwas wurde schnell durchschaut. Denn wenn es etwas gab, über das das Lehrpersonal mehrheitlich in reichem Maß verfügte, dann war es Lebenserfahrung. Um es etwas weniger schmeichelhaft zu sagen: Die meisten waren ziemlich alte Säcke.
Aus jetziger Sicht würde ich allerdings hinzufügen, dass viele von ihnen auch arme Säcke waren. Wenn ich heute Berichte über kriegstraumatisierte Afghanistan-Heimkehrer sehe oder lese, fällt mir sofort der eine oder andere Studienrat aus dieser meiner Vätergeneration ein. Einer hatte ein schlimmes Nervenleiden, sodass er unentwegt zitterte und kaum einen klar verständlichen Satz artikulieren konnte (nebenbei: er war ein toller Deutschlehrer), ein anderer versank manchmal mitten im Unterricht plötzlich in Schweigen und blickte dann ganz traurig. Einem fehlte der rechte Arm, weswegen er etwas unbeholfen mit Links die Kreide über die Tafel kratzen ließ, und dann hatten wir einen, der hatte keine Beine mehr - beide amputiert in Kniehöhe. Dennoch verzichtete er auf den Gebrauch eines Stocks oder gar von Krücken. Ihm reichten seine Prothesen. Die machten solch ein leicht knackendes Geräusch, wenn er ging, mit kaum wahrnehmbarem Hinken, was viele kaum fassen konnten. Man hörte ihn immer schon von Weitem, wenn er über den Flur kam.
In den letzten Stunden vor den großen Ferien ging es traditionell etwas lockerer zu, da gerieten die Lehrer in Erzähllaune. Aber um das, was wirklich berichtenswert gewesen wäre - der Krieg, die Nazi-Zeit, die nicht einmal zwei Jahrzehnte zurücklag - machten die meisten einen großen Bogen. Nur der Mann ohne Beine war da anders. Er nahm so wenig ein Blatt vor den Mund, dass es uns manchmal zu viel wurde und wir heimlich seufzten: "Jetzt geht das wieder los".
Der beinlose Mann berichtete über das, was er in der Schlacht von Stalingrad (heute Wolgograd) erlebt hatte. Schon das Zuhören tat oft weh. Doch ich bezweifle, dass uns dummen Jungs auch nur annähernd bewusst wurde, was Männer wie er an Erinnerungsgepäck mit sich herumschleppten, was sie sonst noch verloren hatten außer Armen und Beinen.
Um hiermit auch Deine Frage zu beantworten: Nein, mit einem Pendant zu Deinem Zöllner kann ich nicht aufwarten. Die Lehrer, mit denen ich es zu tun hatte, hatten das Schlimmste bereits hinter sich und bedurften nicht mehr des selbstruinösen Abstiegs mittels des Suffs. Sie waren schlichtweg Überlebende aus einer Epoche, die erst viel später wirklich endete, als bloße historische Daten es sagen können. Kriege sind nie mit dem Waffenstillstand vorbei, sondern hinterlassen sehr lange sehr tiefe Spuren - in den Köpfen und Herzen derjenigen, die sich glücklich davongekommen wähnen