Название | Jenseits von Deutschland |
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Автор произведения | George Tenner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754112793 |
»Ja. Ich führte sie an jedem Tag unseres Urlaubs an dem Geschäft vorbei, in dem das begehrte Teil ausgestellt war. Und jeden Tag sagte sie Nein. Aber am letzten Urlaubstag hatte ich sie so weit, dass sie einverstanden war und mir den Pulli kaufte.«
»Sie hatten wieder Ihr Ziel erreicht.«
»Ja.«
»Glauben Sie, dass das mit einem gewissen Komplex in Verbindung gebracht werden muss, weil sich ihre Mutter möglicherweise die Schuld dafür gibt, dass Sie ohne Vater aufgewachsen sind?«
»Ich weiß nicht recht. Ich habe den Vater ziemlich spät vermisst. Und um ehrlich zu sein, da auch nur manchmal, wenn andere Kinder vor der Klasse in der Schule von ihren Vätern erzählten und ich keinen Vater vorzuweisen hatte. Da habe ich ihn in der Tat vermisst.«
»Wissen Sie noch, zu welcher Zeit das war?«
»Etwa von der ersten bis zur fünften Klasse. Sonst ist das eine Seltenheit, aber da hatten alle Kinder einen Vater. Nur ich nicht.«
»Haben Sie Ihre Mutter nach dem Verbleib des Vaters gefragt?«
»Ja, zweimal. Einmal in Berlin. Sie hat mir erklärt, dass der Vater uns verlassen hatte, als ich zwei Jahre alt war. Sie sagte, er habe sich nicht so viel aus mir gemacht, wollte gar nicht, dass ich zur Welt kam, weil er noch nicht so weit sei, eine Familie mit Kind zu akzeptieren. Das habe noch Zeit.«
»Und das zweite Mal?«, fragte der Arzt, als Christoph seinen Bericht einen Augenblick unterbrach.
»Das zweite Mal am Mittagstisch bei meinen Großeltern. Da hat sich auch die Omi eingeschaltet und mir gesagt, dass es die Entscheidung meiner Mutter war, einen Mann zu verlassen, der die Hilfe seiner Familie in den Wind geschlagen hatte, der von seinem Sohn so recht nichts wissen wollte und wohl ein Versager war.«
»Inwiefern?«
»Er fing einige Arbeitsstellen an, um nach zwei, drei Monaten festzustellen, dass es nicht nach seinem Geschmack war, gerade diese Arbeitsstelle auszufüllen. Er behauptete, man würde ihn brüskieren. Das Wort Mobben gab es damals noch nicht. Jedenfalls nicht in der DDR.«
»Zum Beispiel?«
»Er bekam eine Stelle als Beleuchter beim Theater und fing dort an, laufend zu diskutieren. Da hat man ihn, der ja gar keine Erfahrung am Theater hatte, in die Schranken gewiesen. Folglich hat er sofort beleidigt die Stelle geschmissen.«
»Haben Sie noch ein Beispiel?«
»Er hatte wohl ein wenig Ahnung davon, Fernsehgeräte zu reparieren. Es war ein Boomberuf zu einer Zeit, als auch in der DDR derartige Geräte zum Verkauf standen. Eine Weile hat er das wohl auch gemacht.«
Als Senz schwieg, fragte der Arzt: »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht oder ein Wasser?«
»Gern. Ein Wasser, bitte. Dann bot man meinem Vater einen Studienplatz an. Meine Großeltern, die wollten, dass meine Mutter einen Mann hat, der seinen Weg macht und eine Familie auch ernähren kann, boten finanzielle Unterstützung an. Mein Erzeuger hat den Studienplatz abgelehnt. Stattdessen wollte er meine Mutter davon überzeugen, sie solle ihre Anmeldung zum Kauf eines Trabants, die eine Wartezeit von rund zehn Jahren beinhaltete, in eine Anmeldung auf einen Wartburg ändern. Meine Mutter war realistisch genug, zu erkennen, dass die Kaufsumme für einen Wartburg für sie nicht aufzubringen gewesen wäre, da der Vater fortdauernd arbeitslos war. Er war nicht arbeitslos, weil es keine Arbeit gab, sondern weil er keinerlei Arbeit akzeptierte. Stattdessen kaufte er sich ein Rennrad der Marke Favorit und spielte Friedensfahrt.«
»Und lebte vom Verdienst Ihrer Mutter? Ist es das, was Ihnen nahegebracht wurde?«
»Ja.«
»Von Ihrer Mutter?«
»Und meinen Großeltern.«
»Vermissen Sie Ihren Vater heute noch manchmal?«
»Nein.«
»Denken Sie nie an ihn?«
»Nein, nie.«
»Sie haben auch nicht einmal daran gedacht, nachzuforschen, was Ihr Vater jetzt macht?«
»Ich habe einmal meiner Mutter damit gedroht, als ich sauer auf sie war. Aber es war nicht ernst gemeint.«
»Also haben Sie daran gedacht, nachzuforschen, was mit dem Mann in den über zwanzig Jahren passiert ist?«
Christoph Senz lächelte. »Nein, nicht wirklich. Meine Mutter hatte während der ganzen Zeit meines Erwachsenwerdens niemals auch nur den Hauch eines Zweifels daran gelassen, dass sie diesem Mann niemals mehr zu begegnen wünsche.«
»Und sie verdrängten die Gedanken an Ihren Vater, weil sie der Mutter nicht wehtun wollten.«
»Ja.«
»Die Hand, die dich füttert, sollst du nicht abschlagen«, sagte der Psychiater und lächelte Christoph aufmunternd zu.
»So habe ich das gar nicht gesehen. Der Mann existierte für meine Mutter nicht, und für mich auch nicht. Meine Mutter war immer sehr fürsorglich.«
»Immer? Ich meine, heute auch noch?«
»Ja. Ich konnte kaum das Haus verlassen, ohne dass sie zwei-, dreimal fragte, ob ich auch ja nicht den Schlüssel vergessen hätte. Und jedes Mal machte sie mich darauf aufmerksam, dass ich die Tür richtig zuschließen sollte.«
»Wann stellten Sie fest, dass Ihnen diese Fürsorge zu weit ging?«
»Irgendwann in den letzten zwei Jahren begann mir diese Fürsorge wie eine Belästigung zu sein. Ich konnte nichts selbst entscheiden.«
»Sie fühlten sich wie die Puppe eines Schmetterlings, die nie aus dem Kokon entlassen wurde?«
»Das trifft es. Sie beeinflusste mich, welche Freunde ich akzeptieren konnte, wie oft ich zur Mathenachhilfe gehen musste.«
»Sie sorgte dafür, dass Sie zur Nachhilfe im Fach Mathematik gingen?«
»Ja. Es war mein einziges schwaches Fach. Aber ich boykottierte den Unterricht mental. Es war mein Protest, weil sie mich wie einen Säugling behandelte.«
»Nur deshalb?«
»Ich denke, ich lernte nichts, weil ich eine Aversion gegen das logische Denken hatte.«
»Aha.«
»In Wirklichkeit schickte sie mich wahrscheinlich da hin, weil sie ebenfalls eine Schwäche in diesem Fach hatte.«
»Als Lehrerin?«, fragte der Psychiater.
»Sie unterrichtet Deutsch und Musik.«
»Verstehe. Fühlen Sie sich von Ihrer Familie bevormundet?«
»Ja.«
»In inakzeptabler Weise?«
»Ja.«
»Haben Sie versucht, dagegen anzugehen?«
»Wie denn?«
»Mit Ungehorsam zum Beispiel?«
»Ja, natürlich.«
»Wie hat sich das geäußert?«
»Ich liebte meine Mutter, aber ich hasste sie auch manchmal für diese Bevormundung. Ich fühlte, dass ich mich so nicht entfalten konnte. Manchmal hatten wir kleine Auseinandersetzungen.«
»Wurden Sie so aggressiv, dass Sie Ihre Hand gegen Sie erhoben?«
»Ich habe sie nicht geschlagen. Aber ich habe sie mehrmals gegen die Wand gedrückt.«
»Aber es hat nichts gebracht.«
»Nein. Auch, weil die Omi mich belehrt hatte, was meine Mutter alles für mich tun würde. Sie hätte es nicht verdient, dass ich mich so gehen ließe.«