Jenseits von Deutschland. George Tenner

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Название Jenseits von Deutschland
Автор произведения George Tenner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754112793



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Ob überhaupt diensttauglich bei den neu eingezogenen Rekruten, die ihre Erstausbildung erhalten sollten, ob den psychischen Anforderungen beim Dienst in Afghanistan gewachsen bei den Männern, die für diesen Einsatz aus anderen Standorten hier zusammengezogen wurden.

      Christoph Senz wurde zu einem Militärarzt im Majorsrang gebracht. Nach der Begrüßung schaute ihn der Mann eine ganze Weile an, ohne etwas zu sagen. Dabei beobachtete er sehr genau, wie unsicher sich Christoph Senz an den Fingern spielte und hörte das leichte Zittern in der Stimme, als er ihn fragte, wie er sich fühle.

      »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Jugend, Herr Senz.«

      »Wo soll ich anfangen?«

      »Am besten, wie weit ihre Erinnerungen an die Kindheit haften geblieben sind.«

      »Ich weiß, dass meine Eltern sich trennten, als ich zwei Jahre alt war. Aber daran habe ich keine realen Erinnerungen mehr.«

      »Sie wissen es von Ihrer Mutter?«

      »Ja.«

      »Waren Ihre Eltern verheiratet?«

      »Nein. Sie haben nur zusammengelebt. Zuerst habe ich meinen Vater auch gar nicht vermisst. Wenn ich es recht bedenke, später auch nicht wirklich. Als ich klein war, haben sich meine Mutter und in den Ferien meine Großeltern liebevoll um mich gekümmert. Ich weiß noch, wie ich mein erstes Fahrrad bekam. Es war eins mit Stützrädern, weil ich eigentlich noch viel zu klein war, um mit einem solchen Rad in der Gegend herumzufahren. Aber ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein Rad.«

      »Wenn Ihnen die Sache mit dem Rad so in Erinnerung geblieben ist, werden Sie sicher schildern können, wann und wie Sie es bekamen?«

      »An Feiertagen fuhren wir immer mit der Bahn von Berlin, wo meine Mutter mit mir wohnte, zu einem kleinen Ort im heutigen Brandenburg, der an das Braunkohlefördergebiet grenzte. Mein Großvater war dort als Chefarzt in einem Krankenhaus tätig, das vorwiegend für die in der Kohle arbeitenden Menschen betrieben wurde. Wenn wir ankamen, stand mein Opi schon am Bahnsteig. Er konnte es gar nicht erwarten, mich in seine Arme zu nehmen.«

      »Sie fuhren gern zu Ihren Großeltern …«

      »Sehr gern. Jedes Mal, wenn meine Mutter Ferien hatte. Und dann kam das Ereignis – wir stiegen in sein Auto, einen Trabant. Ich liebte das kleine Auto, das mächtig knatterte und erbärmlich nach dem verbrannten Öl stank. Es war jedes Mal ein Erlebnis für mich kleinen Mann. Wenn wir wieder nach Hause fahren mussten, habe ich immer geweint. Viele Jahre habe ich geweint, wenn ich wieder von meinen Großeltern aus der behüteten ländlichen Gegend ins kalte Berlin fahren musste. Auch als ich schon größer war.«

      »Das zeugt von einer engen Bindung an Ihre Familie. Kommen wir auf das Rad zurück.«

      Christoph Senz merkte gar nicht, wie der Arzt versuchte, ihn mit diesen Fragen locker zu machen. Der Mann hatte genau den Ton getroffen, der bei Christoph ankam, der ihm Vertrauen gab, sich ein wenig zu öffnen.

      »Das Rad. Ich hatte es bei einem anderen Kind in Berlin gesehen«, sinnierte Christoph Senz. »Es war relativ klein und hatte Stützräder an beiden Seiten, damit man nicht umfallen konnte. Ich sehe es noch heute vor mir, als wäre es erst Stunden her. Der Junge in Berlin ließ mich widerwillig für einen Augenblick auf sein Fahrzeug steigen, fing aber wie wild an zu brüllen, als ich nicht bereit war, es nach wenigen Sekunden schon zurückzugeben. Er hörte erst auf zu weinen, als es mir weggenommen wurde, und ich heulte los, weil ich es nicht herzugeben bereit war. Aber nichts half. Der Junge bekam sein Rad zurück und ich wünschte mir seither nichts sehnlicher, als ein solches Fahrrad zu besitzen.« Christoph sah, wie der Major sich hin und wieder Notizen machte. Daneben hatte er noch einen Bogen liegen, auf dem sicher irgendwelche Fragen aufgelistet waren, denn auf diesem Bogen machte der Arzt nur ab und zu ein Kreuz.

      »Ich weiß nun aus den Erzählungen, dass meine Mutter, die als Lehrerin in Berlin tätig war, versuchte, ein solches Kinderrad zu bekommen. Vergeblich. Es war ein Artikel, der zu dieser Zeit im Wirtschaftsgüter-Mangel-Land DDR kaum aufzutreiben war. Mein Großvater erzählte einem Patienten, wie dringend er ein solches Rad für seinen Enkel suche. Und dieser Patient hatte Zugang zum Rat der Stadt. Er besorgte meinem Großvater das Fahrrad.«

      »Und beim nächsten Besuch bekamen Sie das Rad.«

      »Nein, nein. Nicht beim nächsten Besuch. Aber zum nächsten Weihnachtsfest. Die Bescherung näherte sich, und ich war sicher, ein solches Rad zu bekommen. Es gab allerlei kleinere Geschenke, über die ich mich auch freute, aber das Rad war nicht dabei. Also war ich auch enttäuscht. Als ich am kommenden Morgen aufstand und zum Frühstück gerufen wurde, stand das Rad da. Ich war vor Freude ganz aus dem Häuschen. Der Weihnachtsmann, sagte man mir, habe es am Vortag vergessen abzugeben und es nachträglich während der Nacht gebracht.«

      Wieder machte sich der Arzt eine Notiz.

      »Und Ihre Großmutter? Wie stehen Sie zu ihr?«

      »Die Omi ist eine ganz liebe, aber durchaus resolute Frau.«

      »Was meinen Sie mit resolut?«

      »Sie sagt mir Sachen, die mein Opi nie sagen würde.«

      »Nennen Sie ein Beispiel.«

      »Sie kritisiert mich, sagt manchmal auch Dinge, die mir nicht so gefallen.«

      »Nennen Sie ein konkretes Beispiel«, wiederholte der Arzt.

      »Ich war in der zwölften Klasse und stand kurz vor dem Abitur. Nach einem Schulwechsel hatte ich das Gefühl, gemobbt zu werden.«

      »Wie kam es zu der Annahme, man wolle Sie mobben?«

      »Ich hatte das Gefühl, alle lehnten mich ab.«

      »Wirklich alle?«

      »Nur eins der Mädchen hatte sich in mich verliebt. Ich brachte es mit nach Hause. Sabrina war zwei Jahre älter als ich und natürlich erfahrener. Mein Interesse an Mädchen war wesentlich kleiner als umgekehrt. Damals wusste ich nicht einmal, was Pubertät ist.«

      »Das passte Ihrer Mutter nicht?«

      »Nein, ganz und gar nicht. Sie redete mit mir und drang darauf, dass ich das Verhältnis zu dem Mädchen beendete.«

      »Können Sie mir sagen, warum das so war?«

      »Sie meinte, es sei viel zu früh für mich, mich an ein Mädchen zu binden.«

      Während sich der Psychiater wieder Notizen und ein weiteres Kreuz auf den zweiten Bogen machte, den er vor sich liegen hatte, fragte er: »Und die Eltern des Mädchens?«

      »Es war eine Unternehmerfamilie, die die ganze Sache viel lockerer sah. Als sie mich einmal einluden, wollten sie, dass ich mit ihrer Tochter in deren Zimmer übernachte.«

      »Und?«, drängte der Psychiater.

      »Ich habe es nicht gemacht. Ich dachte an die Worte meiner Mutter.«

      »Sie waren also folgsam? Hat sich das Mädchen nicht geärgert, dass Sie gerade bei dieser Gelegenheit folgsam waren?«

      »Nein. Na ja, vielleicht ein klein wenig. Aber bisher hatte meine Mutter immer den Ton angegeben, wenn etwas in unserer kleinen Familie geschehen sollte.«

      »Und Sie haben immer gehorcht?«

      »Meistens.«

      »Was heißt das?«

      »Ich habe immer versucht, meine heimlichen Wünsche erfüllt zu bekommen.«

      »Nennen Sie mir ein Beispiel.«

      »Wir waren im Urlaub auf Usedom. Ich sah einen sündhaft teuren Pullover, den ich haben wollte. Meine Mutter sagte, sie sei nicht bereit, dafür so viel Geld auszugeben. Es war die Zeit, wo sie noch nicht so viel Geld verdiente, um überflüssige Dinge zu erwerben. Und der Urlaub war schon über die Maßen teuer.«

      »Aber Sie wollten den Pullover unbedingt haben«, stellte der Arzt lapidar fest. »Unbedingt … Wie alt waren Sie da etwa?«

      »Vierzehn