Steinige Jagd. Thomas Jütte

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Название Steinige Jagd
Автор произведения Thomas Jütte
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754140512



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      Weiteren Legenden zufolge hatte Nikolaus dafür gesorgt, dass einem Juden, dem sein Geld gestohlen worden war, das Diebesgut zurückerstattet wurde. Und die Stadt Myra soll er vor einer Hungersnot bewahrt haben. Ja, ja. Und so weiter, und so weiter.

      Die Begegnung

      Endlich schienen Santu und Rooperti ihr Ziel erreicht zu haben: Sie entdeckten einen weißen Steinbau, der mitten in einer parkähnlichen Orangenplantage platziert war. Das musste die Nikolauskirche sein.

      Ein metallener Zaun um den Park verhinderte das widerrechtliche und unkontrollierte Betreten des Grundstücks. Rechts davor machten sie den Zugangsbereich mit einem hölzernen Kassenhäuschen aus. Darin lümmelte ein gelangweilter Demrer (Oder Demmerer, Demraner, Myraner? Aber wen interessiert das schon?).

      Höflich warteten sie, bis sich der etwa vierzigjährige Kassierer dazu bequemte, die zerfledderte Hürriyet aus der Hand zu legen, um sie endlich mit einem Blick zu beehren.

      „Zwei Erwachsene?!" fragte er zwar lethargisch, aber immerhin beeindruckend scharfsinnig.

      „Nein drei. Gott ist mit uns", antwortete Rooperti auf Türkisch.

      „Es gibt nur einen Gott, und Muhammed ist sein Prophet", bemühte der Eintrittskartenverkäufer die Schahāda, nun aufmerksamer und sichtlich erfreut, dass Fremde erstens seiner Sprache mächtig und zweitens wohl des einzigen und richtigen Glaubens waren.

      „Allahu akbar", trieb es Rooperti wieder einmal auf die Spitze, musste aber trotzdem den Eintrittspreis in voller Höhe berappen - zum Glück aber nur für zwei.

      Nun reicht's aber, befand Santu. Er war fast schon in Sorge, dass sein Vasall gleich noch auf die Idee käme, seine Konvertierung zum Islam zu proklamieren. Und wieder zog er ihn am mittlerweile ausgeleierten Ärmel mit sich.

      Sie wählten den Weg durch den mit Palmen, Orangenbäumen und Statuen gespickten Park, der geradewegs zur kirchlichen Eingangspforte führte. Die versteckte sich unter einem geschmacklos-neuzeitlichen Witterungsschutz, was viel von dem altertümlichen Charme der Kirche raubte.

      Die dreischiffige Basilika, in dem Nikolaus seine vorletzte Ruhe fand, stammte im Kern aus dem 8. Jahrhundert. 300 Jahre später wurde der Kirche noch ein Kloster angegliedert.

      Ehrfürchtig betraten Santu und Rooperti das Innere des sakralen Altbaus.

      Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die dämmerigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Durch die schmalen Fenster drangen nur wenige Sonnenstrahlen, die durch den Staub der Jahrhunderte leidlich sichtbar gemacht wurden.

      Langsam schälten sich aus dem spätromanischen Zwielicht die zahlreichen, vom Zahn der Zeit und Atem der Touristen ausgebleichten Fresken heraus, die die Wände schmückten: Der wundertätige Nikolaus sowie weitere klerikale Prominenz ihrer Zeit, letztere legitimiert durch ihren allerhöchsten und allerherrlichsten Dienstherren.

      Langsam und gespannt tasteten sich Santu und Rooperti durch das dunkle Gewölbe, in dem sich noch kein Tourist aufhielt.

      Dann endlich. In einer halbrunden Nische entdeckten sie das Objekt ihrer Mühsal: Der Sarkophag des Heiligen Nikolaus zu Myra. Es handelte sich um ein mit aufwändigen Steinmetzarbeiten versehenes Grab, dessen Deckplatte der Bildhauer mit einem liegenden, aber aufgrund des zeitlichen Zahns nur noch schwer identifizierbaren Menschen versehen hatte.

      Vor dem steinernen Sarg, dessen kunstvoll gearbeitete Vorderwand rustikal aufgebrochen worden war - angeblich vor rund 1000 Jahren -, stand in gebückter Haltung ein dunkelhaariger Mann. Ein Tourist?

      Der Unbekannte war etwa 50 Jahre alt und fast kahlköpfig. Bekleidet war er mit einem feinen John Crocket-Anzug. Auf seiner Nase saß eine markante, sicherlich teure Tom-Ford-Brille mit dunklem Gestell und dicken, getönten Gläsern. Eines schien sicher: Dieser Mann gehörte zur Upperclass.

      Der feine Herr stützte sich mit der linken Hand auf einen Stockregenschirm, bei dem es sich - oh, welch ein Zufall - ebenfalls um einen Maple-Handle-Umbrella handelte. In der rechten Hand hielt er ein Vergrößerungsglas, mit dem er Millimeter für Millimeter die seitlichen Sarkophag-Wandfragmente erforschte.

      Neugierig beobachten die beiden weitgereisten Wahl-Finnen eine Weile das akribische Treiben des Kahlköpfigen.

      „Sie brauchen nicht weiter zu suchen: Er steht direkt vor Ihnen", störte Rooperti den forschenden Geist des Lupenträgers.

      Scheinbar erschreckt richtete sich der Kahle auf. „Wie, was? Suchen? Davor stehen?"

      „Na, der Sarkophag, des Heiligen. Den suchen doch hier alle. Das Highlight in dieser Diaspora. Sie haben ihn entdeckt, meinte ich nur..."

      Der Mann reagierte prompt auf die Unverschämtheit:

      „Wollen Sie mich verkohlen, junger Mann?", entgegnete er mit ärgerlicher Stimme.

      "Sorry", entgegnete Rooperti kleinlaut, sich wohl bewusst, dass er etwas zu weit gegangen war.

      „Bitte haben Sie Nachsicht", kam der Weihnachtsmann seinem vorwitzigen Knecht zu Hilfe. "Mein, ähm, Kollege ist durch den sakralen Spirit in diesem heiligen Gemäuer etwas durcheinander. Übrigens, mein Name ist Claus. Aleksanteri Claus aus Finnland. Und das ist mein Knap... ähm Kollege, Herr Rooperti, ein Landsmann."

      „Oh, Landsleute. Mein Name ist Professor Korhonen aus Helsinki", stellte der Angesprochene sich vor, nun wieder etwas versöhnt.

      Korhonen? Na, das nennt man Zufall, dachte Santu. Erst der Regenschirm. Und jetzt der Alias-Name, den ich mir für meinen Reisepass ausgesucht habe. Korhonen schien tatsächlich ein Allerweltsnamen zu sein.

      Rooperti, der mit unbewegtem Gesicht zuhörte, schien das weniger aufzufallen oder gar zu interessieren.

      „Sie sind auch an sakralen Altertümern interessiert?", fragte Lupenmann Korhonen.

      „Ja…, äh, aber aus beruflichen Gründen." Auf diese Frage war Santu nun gar nicht vorbereitet gewesen.

      „Aus beruflichen Gründen? Das ist ja Interessant. Darf ich fragen, was Sie machen?"

      „Ja, dürfen Sie", mischte sich Rooperti, nicht nur keck, sonder fast schon wieder unverschämt, in das Gespräch ein. „So, jetzt kommen Sie Chef, wir müssen weiter."

      „Wir machen in..., ähm, Import/Export. Spedition von Geschenkartikel und so weiter", beantwortete Santu die Frage ausweichend und warf seinem Knecht einen strafenden Blick zu. „Und wir interessieren uns für die Geschichte des Bischofs zu Myra, der ja auch viele Menschen belieferte. UPS der Spätantike, quasi…"

      „Interessanter Vergleich. Sehr interessant. Könnte man wirklich so sehen. Aber suchen Sie diesbezüglich etwas Bestimmtes?", fragte der Professor neugierig weiter nach.

      „Ja, das machen wir. Wir sind dabei zu recherchieren, was mit den Grabbeigaben geschehen ist", verriet Claus. „Die Gebeine von Nicolaus selbst sollen ja bekanntlich im 11. Jahrhundert von italienischen Seefahrern nach Bari in Italien geschmuggelt worden sein, um diese vor den seldschukischen Eroberern in Sicherheit zu bringen."

      „Richtig. Oder: Fast richtig", ergänzte Korhonen. „Erstens waren es nicht nur die Gebeine des Heiligen, sondern auch verschiedene Artefakte, wie Bischofsstab, Münzen und verschiedene Steintafeln, Reliefs, mit seltsamen Zeichen darauf, die von den Italienern mitgenommen wurden - 1087 übrigens. Und zweitens befinden sich die gesamten Reliquien nicht mehr in Bari, sondern wurden von der italienischen Regierung, was kaum jemand weiß, der Türkei nach langjährigen, zähen Verhandlungen wieder zurück gegeben. Und zwar klammheimlich."

      Redselig dozierte der Gelehrte weiter. „Die Gebeine und Artefakte von Nikolaus befinden sich seit dem in einem Tresor im Topkapi-Palast in Istanbul. Und das Unglaublichste daran ist, dass das in der Öffentlichkeit bis dato noch nicht durchgedrungen ist. In Bari liegen nur gutgemachte Kopien der Reliquien von Nicola di Bari, wie er dort verehrt wird…"

      Haben die Italiener tatsächlich „einen Türken" gebaut? Wobei dieser Begriff nicht ganz passend ist, bezieht er sich